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Goldstone Bericht: "Es gibt keinerlei Grund, eine Überprüfung des Berichts zu fordern"

Erklärung von drei Mitgliedern der von den UN eingesetzten Gaza-Untersuchungskommission (Mai bis September 2009), Hina Jilani, Christine Chinkin und Desmond Travers

Kürzlich sind in der Presse Artikel und Kommentare über den Bericht der UN- Untersuchungs-kommission zum Gaza-Konflikt 2008/2009 erschienen. In ihnen wurden Fakten falsch dargestellt, um die Feststellungen dieses Berichts in Zweifel zu ziehen und seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern.

Der Auftrag der Kommission, die aus vier Mitgliedern einschließlich Richter Richard Goldstone als Vorsitzendem bestand, war erfüllt, als sie im September dem UN-Menschenrechtsrat ihren Bericht vorlegte. Der Bericht ist nunmehr ein offizielles UN-Dokument. Damit fallen sämtliche Maßnahmen im Zusammenhang mit den Ergebnissen und Empfehlungen des Berichts in die alleinige Zuständig-keit der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Denn sie hatte den Bericht (ebenso wie der Menschenrechtsrat) Ende 2009 geprüft und angenommen.

Desungeachtet können abfällige Bemerkungen über die Feststellungen des Berichts nicht widerspruchslos hingenommen werden. Die Kommissionsmitglieder, die diese Erklärung unterzeichnen, halten es für erforderlich, den Eindruck zu zerstreuen, spätere Entwicklungen hätten dem Bericht ganz oder teilweise die Grundlage entzogen oder machten ihn fehlerhaft oder ungenau.

Wir sind übereinstimmend der Ansicht, dass es keinerlei Grund gibt, eine Überprüfung des Berichts zu fordern oder zu erwarten; denn es haben sich keinerlei gewichtige Umstände gezeigt, die in irgendeiner Weise die Gesamtaussage, die Ergebnisse oder die Schlussfolgerungen des Berichts im Hinblick auf irgendeine Partei des Gaza-Konflikts ändern würden. Auch kennen die UN kein dies- bezügliches Verfahren, und es gibt keinen Präzedenzfall.

Der Bericht der Untersuchungskommission enthält die Schlussfolgerungen, zu denen die Kommission nach sorgfältiger, unabhängiger und objektiver Würdigung der Informationen über die Vorgänge und auf Grund gewissenhafter Beurteilung ihrer Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit gelangt ist. Wir stehen fest zu diesen Schlussfolgerungen.

Auch ist es das Vorrecht der UN, Beweismaterial zur Kenntnis zu nehmen, das zu einem späteren Zeitpunkt in innerstaatlichen Verfahren gewonnen wurde, sofern es glaubwürdig ist und inter-nationalen Standards entspricht. Mehr als 18 Monate nach der Veröffentlichung des Berichts sind wir jedoch weit davon entfernt, diesen Punkt zu erreichen.

Die Untersuchungskommission war nicht beauftragt, eine gerichtliche oder auch nur quasi-gerichtliche Untersuchung zu führen. Die Kommission und ihr Bericht sind Teil eines Prozesses der Wahrheitssuche, der zu wirksamen gerichtlichen Untersuchungen führen könnte. Genau wie alle Berichte solcher UN-Untersuchungskommissionen bietet unser Bericht den Beteiligten eine Grund-lage, auf der sie Ermittlungen zur Gewinnung von völkerrechtsrelevantem Beweismaterial führen und die Verfolgung von Personen einleiten können, die Völkerrechtsverbrechen befohlen, geplant oder ausgeführt haben.

Wir glauben, dass im Falle des Gaza-Konflikts bisher keine der beiden verantwortlichen Parteien eine überzeugende Grundlage für Behauptungen geliefert hat, die den Ergebnissen unseres Unter-suchungsberichts widersprechen.

Der Bericht empfiehlt, dass ordentliche Untersuchungen und Gerichtsverfahren vorzugsweise zuerst auf der nationalen Ebene durchgeführt werden sollten, unter begleitender Beobachtung durch die UN. Sollten sich diese Maßnahmen als unzureichend erweisen, sieht der Bericht einen Plan zur Fort-setzung der Untersuchungen auf internationaler Ebene vor. Im Sinne dieser Empfehlungen hat der UN-Menschenrechtsrat ein Komitee unabhängiger Fachleute ernannt. Es hat den Auftrag, die Unab-hängigkeit, die Tauglichkeit und die Substanz innerstaatlicher Verfahren zu überwachen, in denen die in unserem Bericht benannten Verbrechen und Völkerrechtsverletzungen untersucht werden.

Viele der Kritiker, die eine Nichtigkeitserklärung unseres Berichts fordern, geben zu verstehen, dass der Abschlussbericht des Nachfolge-Komitees, den seine beiden Mitglieder, die Richter Mary McGowan Davis und Lennart Aspergren, dem Menschenrechtsrat im März 2011 vorgelegt haben, unserem Bericht irgendwie widerspricht oder ihn entkräftet.

Im Lichte der Feststellungen des besagten Komitees sind derartige Behauptungen völlig fehl am Platz, sie stellen offensichtlich eine Verdrehung seiner Ergebnisse dar. In seinem Bericht stellt das Komitee fest, nach ihm zur Verfügung stehenden Informationen habe Israel etwa 400 militärische Ermittlungen wegen Vorwürfen durchgeführt, die von der Untersuchungskommission und anderen Organisationen erhoben worden waren. Militärische Ermittlungen betreffen Armee-interne Abläufe, sie sind keine justizförmigen Untersuchungen; sie werden von Militärs geführt, die derselben Kommandostruktur angehören wie die, gegen die ermittelt wird. In 52 von diesen 400 Fällen wurden nach dem Bericht des Komitees strafrechtliche Untersuchungen wegen Fehlverhaltens eröffnet. Drei der Fälle kamen vor ein Strafgericht. Zwei Angeklagte wurden verurteilt, einer zu sieben Monaten Gefängnis wegen Dieb-stahls einer Kreditkarte, der andere, weil er ein palästinensisches Kind als menschlichen Schutzschild benutzt hatte, was ihm eine zur Bewährung ausgesetzte Gefängnisstrafe von drei Monaten einbrachte. In dem dritten Fall wird dem Beschuldigten vorgeworfen, absichtlich auf einen Zivilisten geschossen zu haben, der eine weiße Fahne schwang. Dieser Fall ist noch nicht entschieden.

Das Komitee hat wegen des verspäteten Beginns und schleppenden Gangs der Verfahren wie auch wegen ihrer ungenügenden Transparenz und der mangelnden Anhörung von Opfern und Zeugen ernsthafte Besorgnis geäußert. Von den 36 Vorfällen in Gaza, die im Bericht unserer Kommission beschrieben werden, sind mehr als ein Drittel immer noch ungelöst oder ungeklärt – und das mehr als zwei Jahre nach dem Konflikt. Das Komitee kam zu dem Schluss, dass der langsame Fortschritt den Erfolg der Untersuchungen und die Aussicht auf die Herstellung von Gerechtigkeit und Verant-wortlichkeit ernsthaft gefährden könnte. Deshalb ist die Vorgehensweise der israelischen Behörden bei der Untersuchung ungeeignet, um Tatsachen wirklich sicher festzustellen und rechtliche Verant-wortung daraus abzuleiten.

Außerdem, in der Frage nach der Politik der Operation „Gegossenes Blei“ stellt das Komitee folgendes fest: „Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass Israel begonnen hat, die Taten derer zu untersuchen, die die Operation Gegossenes Blei entworfen, geplant, befohlen und überwacht haben.“ Mit anderen Worten: einem der gravierendsten Vorwürfe im Zusammenhang mit der von Israel geführten Militäroperation wurde immer noch nicht nachgegangen.

Zu unserem Bedauern gibt es auf palästinensischer Seite bislang keine Ermittlungen gegen Mitglieder bewaffneter Gruppen, die Völkerrechtsverbrechen begangen haben könnten, indem sie Tausende von Raketen auf den Süden Israels abfeuerten. Eben das stellt auch das Komitee in seinem Bericht fest.

Wir sind der Auffassung, dass Forderungen, unseren Bericht zu korrigieren oder gar zurück zu ziehen, ebenso wie Versuche, seinen Charakter und Zweck zu verfälschen, eine Missachtung des Rechts der Opfer, sowohl der palästinensischen wie der israelischen, auf Wahrheit und Gerechtigkeit darstellen. Sie ignorieren auch die völkerrechtliche Verantwortung der betroffenen Parteien, unver-zügliche, gründliche, wirksame und unabhängige Ermittlungen zu führen. Wir beklagen die persön-lichen Angriffe und den außergewöhnlichen Druck, der auf Mitglieder unserer Kommission ausgeübt wurde, seit wir im Mai 2009 unsere Arbeit aufnahmen.

Diese Kampagne zielt eindeutig darauf ab, die Integrität des Berichts und seiner Verfasser zu unter-graben. Hätten wir dem Druck - gleich von welcher Seite - nachgegeben, unsere Schlussfolgerungen zu beschönigen, würden wir eine schlimme Ungerechtigkeit begehen- gegenüber den Hunderten unschuldiger Zivilisten, die während des Gazakriegs getötet wurden, den Tausenden von Verletzten und den Hundertausenden, deren Dasein von diesem Konflikt und der Blockade weiterhin tief erschüttert wird.

Der Bericht hat eine Entwicklung angestoßen, die andauert. Sie sollte weitergehen, bis Gerechtigkeit hergestellt und allgemeiner Respekt für die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht sicher gestellt sind.

(Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Vestring)

UN- Untersuchungskommission und UN-Nachfolge-Komitee (Anmerkungen der Übersetzerin)

Untersuchungskommission: Nach dem Überfall Israels auf Gaza (Dezember 2008 bis Januar 2009, in den UN-Texten als Gaza-Konflikt bezeichnet) beauftragte der UN-Menschenrechtsrat vier unabhängige Experten (Richard Goldstone, Christine Chinkin, Hina Jilani, Desmond Travers) mit einer Untersuchung („Fact-Finding Mission“). Die Kommission legte ihren Bericht, nach ihrem Leiter Goldstone-Bericht genannt, im September 2009 vor. Original des Berichts nachzulesen unter www2.ohchr.org [externer Link].

Der Melzer Verlag hat eine Übersetzung des Berichts ins Deutsche veröffentlicht: ISBN: 978-3-9813189-4-4

Nach Annahme durch den UN-Menschenrechtsrat am 29.09.2009 wurde der Bericht auch von der UN-Generalversammlung gebilligt und an den UN-Sicherheitsrat weitergeleitet. In der UN-Generalversammlung hatten 114 Mitglieder dafür, 18 dagegen gestimmt (unter ihnen Deutschland), 44 hatten sich enthalten. www.un.org [externer Link].

Bericht über die Debatte in der Generalversammlung am 4. November 2009 www.un.org [externer Link].

Follow-up Komitee: Am 22. März 2010 berief der UN-Menschenrechtsrat ein unabhängiges Expertenkomitee mit dem Auftrag, alle Maßnahmen und Untersuchungen Israels und der palästinensischen Seite zu beobachten und zu bewerten. [externer Link]. Leitung Christian Tomuschat, Mitglieder Judge Mary McGowan Davis, Mr. Param Cumaraswamy, Am 23. 09. 2010 stattete das Komitee seinen ersten Bericht ab [externer Link], der am 27.09.2010 vom MRR angenommen wurde [externer Link] Der Rat bekräftige das Mandat der Experten und ermutigte sie zur Weiterarbeit. Er verurteilte Israel wegen Nichtmitarbeit und begrüßte die Kooperation der pal. Seite.
Der Bericht wurde im MRR am 6. Okt. 2010 mit 27 zu 1, bei 19 Enthaltungen angenommen. [externer Link].

Mit Jahresende 2010 schieden zwei der drei Mitglieder des Komitees aus. Das Komitee setzt sich seitdem aus der Vorsitzenden Richterin Mary McGowan Davis (USA), die dem Komitee schon vorher angehörte, und dem neu ernannten Richter Lennart Aspegren (Schweden) zusammen: [externer Link]. Es wird erwartet, dass sie dem UN-Menschenrechtsrat alsbald einen zweiten Bericht vorlegen.

* Originalartikel erstmals veröffentlicht in: The Guardian, 14. April 2011; www.guardian.co.uk



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Und ein Brief des Vorstands der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost (18. April 2011)


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