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Und schon hatte uns die Küstenwache am Wickel

Es fehlten noch vier Seemeilen – dann wäre die "Tahrir" von der Gaza-Hilfsflottille in internationalen Gewässern gewesen

Von Peter Wolter *

Eigentlich hat Daria alles vermasselt. Die Korrespondentin der Komsomolskaja Prawda war am Abend vor dem Auslaufen der »Tahrir« in eine orthodoxe Kapelle gegangen, hatte eine Kerze angezündet, sich niedergekniet und ein Gebet gemurmelt: »Lieber Gott, mach bitte, daß wir von den Griechen und nicht von den Israelis aufgebracht werden.«

Darias Gebet wurde erhört: Eine gute halbe Stunde nach unserem überraschenden Auslaufen aus dem Yachthafen von Agios Nikolaos auf Kreta hatte uns schon die Küstenwache am Wickel. Unser Schiff, mit dem wir die israelische Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollten, wurde geentert und mit einem Schlepper in den Hafen zurückgebracht. Durch dessen ruppiges Anlegemanöver platzte ein Kraftstofftank: Das ausgelaufende Dieselöl überschwemmte den Maschinenraum. Das Schiff war nicht mehr fahrtüchtig, eine Reparatur würde zu lange dauern. Unsere Fahrt zum Gazastreifen war zu Ende.

Im Grunde war es so etwas wie ein Piratenakt, mit dem wir dem von den griechischen Hafenbehörden verhängten Auslaufverbot entwischen wollten. George, Berufsseemann und unser eigentlicher Kapitän, hätte seine Lizenz riskiert – also mußte eine andere Lösung her. Bei gegrilltem Thunfisch und Retsina entwickelte sich eines Abends eine Idee: Unter den etwa 45 Teilnehmern und Journalisten an Bord der »Tahrir« gab es einige, die Seefahrtserfahrung hatten. Einer war pensionierter Schiffsingenieur – er sollte sich um die Antriebsmotoren und die Schiffstechnik kümmern. Der andere hatte schon Yachten mit zwei Propellern manövriert, der dritte kannte sich in Navigation, Schiffsführung und Seemannschaft aus. Damit George aus dem Schneider war, wurde ihm vorsichtshalber gekündigt.

Unser Ausbruch wurde penibel vorbereitet. Wir wollten so schnell wie möglich die griechischen Küstengewässer verlassen, uns zwischen den Inseln durchmogeln und erst einmal Kurs auf Alexandria in Ägypten nehmen. Auf der Brücke und im Maschinenraum wuselten die »Fachleute« umher, prüften Schaltkästen, Navigationsgeräte und das Radar, arbeiteten mit Zirkel und Navigationsdreieck in der Seekarte. Das Netz über dem Vorschiff, das Tränengaskartuschen bei einem Überfall auf See auffangen sollte, wurde unauffällig überprüft. Alles sah so normal wie möglich aus: Einige Australier und Kanadier holten sich ein Eis, ein anderer verließ kurz mal mit Reisetaschen das Schiff. John, ein IT-Fachmann aus Kanada, stand vor dem Schiff und machte hingebungsvoll Erinnerungsfotos. Und die Besatzung des Bewacherbootes saß, nichts Böses ahnend, kartenspielend an Oberdeck.

Plötzlich sprangen die beiden Caterpillar-Diesel der »Tahrir« an, John warf die Festmacher von den Pollern und das Schiff verließ den Hafen. Bei unseren Bewachern brach Hektik aus: Sie starteten den Motor, konnten aber nicht ablegen, weil Sora aus Kanada und Michael aus Australien sich mit ihren Kajaks an der Ankerklüse festhielten. Dadurch hatte die »Tahrir« gute fünf Minuten Vorsprung – Sora und Michael wurden in Handschellen gelegt und wanderten erst einmal in den Knast.

Die Soldaten, die die »Tahrir« schließlich enterten und das unerklärlicherweise menschenleere Ruderhaus besetzten, hatten allerdings Probleme: Das Schiff ließ sich kaum noch steuern. Die beiden Motoren entwickelten ein Eigenleben – mal lief der eine schneller, mal der andere. Das Schiff lief unberechenbar Zickzack, schließlich blieben die Motoren stehen. Einige Soldaten rannten zum Maschinenraum: Leer, kein Mensch zu sehen. Kurz zuvor hatte dort allerdings noch einer der »Fachleute« gestanden und war mit dem Schraubenschlüssel in der Hand von einem Motor zum anderen gesprungen.

Immerhin – von den zwölf Seemeilen bis in internationale Gewässer hatten wir zwei Drittel geschafft. Noch eine knappe halbe Stunde und wir wären wahrscheinlich dem Zugriff der Griechen entzogen gewesen. Fraglich ist allerdings, ob die Küstenwache das auch so gesehen hätte.

An Bord waren noch 35 Leute – einige waren aus Gesundheitsgründen zurückgeblieben, andere gehörten zum »Landkommando«. »Wer war der Kapitän?« lautete die erste Frage der Küstenwachleute. Ringsherum nur freundliches Lächeln und Schulterzucken. Kaum im Hafen, wurde das Schiff auf der Landseite mit fünf Polizeiwagen abgeriegelt, mehrere Dutzend mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten ließen niemanden vom und niemanden zum Schiff. Der Generator stand still, es gab keinen Strom. Vor der Polizeiabsperrung hatten sich mittlerweile etwa 200 Griechen versammelt, die die Soldaten beschimpften und mit den Fäusten drohten. »Es ist eine Schande, daß Ministerpräsident Papandreou sich von Israel die Außenpolitik vorschreiben läßt«, sagte mir ein griechischer Rundfunkjournalist. Und irgendwann wurde die Internationale gesungen: Auf Griechisch von der Pier aus, auf Dänisch, Englisch, Französisch und Flämisch auf dem Schiff. Auch Daria, unsere orthodoxe Christin, sang mit – auf Russisch.

Nach einer durchschwitzten Nacht auf dem harten Schiffsboden kamen am nächsten Morgen zwei Rechtsanwälte – sie waren vorsichtshalber schon vor unserem Auslaufen beauftragt worden. Ihr Rat: Bei der polizeilichen Vernehmung gibt jeder nur seine persönlichen Daten an – ansonsten: »No comment!« Der gesuchte Kapitän konnte also nicht gefunden werden, die Küstenwache gab auf– wohl auch deswegen, weil an unserem Liegeplatz zwei große Kreuzfahrtschiffe erwartet wurden. Am späten Dienstagnachmittag waren alle Teilnehmer auf freiem Fuß. Bis auf Sora und Michael und die Kanadierin Sandra. Sie hatte den Kaufvertrag für das 25 Meter lange Schiff unterzeichnet, wurde also als Eignerin verantwortlich gemacht. Schon am Mittwoch wurden alle drei in der Nachbarstadt Neapolis zu 30 Tagen Haft verurteilt, die sie aber nicht absitzen müssen.

Während Daria an diesem Morgen wieder ihre Kapelle aufsuchte, um auf die Knie zu sinken und zum Dank eine Kerze anzuzünden, stärkte der Rest der Teilnehmer im Gerichtssaal den drei Angeklagten den Rücken.

So hat jeder seine Prioriäten.

Spione, Sabotage, Gerüchte

Die erste Solidaritätsflottille im vergangenen Jahr endete mit einem tödlichen Desaster. Diese zweite, die doppelt so groß sein sollte, ist vor allem an der Obstruktion Griechenlands gescheitert. Je länger sich der Streit mit den Behörden um eine Auslaufgenehmigung hinzog, desto mehr Spielraum hatten die Israelis, Sand ins Getriebe zu streuen. Sie intervenierten diplomatisch, an einigen Booten gab es Sabotageakte, die israelische Propaganda erfand die tollsten Gerüchte: Homosexuelle seien angeblich von der Teilnahme an der Flottille ausgeschlossen, es würden auch Säureattentate gegen israelische Soldaten vorbereitet. Das tollste: Unter den Teilnehmer des US-Schiffes »Audacity of Hope« gebe es einen israelischen Spion – platter kann man ein Spaltungsmanöver wohl kaum inszenieren.

In Agios Nikolaos warnte uns der Zoll, daß die unter einer Flagge des britischen Commonwealth fahrende Luxusyacht »Noa VII« mit israelischem Militärpersonal besetzt sei. Das Schiff wollte in unseren Yachthafen einlaufen, was die Küstenwache aber verhinderte, um nicht noch mehr Ärger zu bekommen. In dem Hotel, in dessen Konferenzraum wir unsere vorbereitenden Schulungen abhielten, tauchte ein dubioser dänischer Journalist auf. Er gab sich als ehemaliger Kommunist und christlicher Pazifist aus, stellte viele Fragen und verbreitete noch mehr Gerüchte. Zwischendurch flog er für zwei Tage nach Jerusalem. Schließlich einigten sich alle Teilnehmer in geschlossener Sitzung darauf, mit ihm nur noch über das Wetter zu reden. Dumm gelaufen für ihn – noch am selben Abend reiste er ab.

Ziel erreicht

Zum Schutz vor Sabotage wurde das Unterwasserschiff nachts mit wasserdichten Scheinwerfern beleuchtet. Rund um die Uhr hielten an Oberdeck jeweils drei Leute Wache, nachts waren griechische Taucher im Wasser. Ein großer Katamaran, der neben der »Tahrir« lag, stellte zusätzlich seine eigenen Scheinwerfer zur Verfügung.

Vielleicht gelingt es noch dem einen oder anderen Boot, separat zum Gazastreifen durchzukommen – das eigentliche Ziel, Israel öffentlichkeitswirksam bloßzustellen, wurde erreicht: Die Blockade des Gazastreifens stand für eine Woche wieder im Blickpunkt der Weltpresse, auch wenn die Hilfslieferungen nicht ihren Bestimmungsort erreichten. Die »Tahrir« z. B. hatte für 30000 Kanadische Dollar Medikamente an Bord.

Allein auf diesem Schiff waren acht Journalisten im Einsatz: vom kanadischen Toronto Star, von der russischen Komsomolskaja Prawda, von der linken israelischen Zeitung Haaretz. Das iranische Fernsehen war mit einem Kamerateam ebenso dabei wie der kanadische TV-Sender CBC und die türkische Nachrichtenagentur Anatolia. Hinzu kamen ein Nahostkorrespondent, der mehrere Zeitungen und Zeitschrifen bediente, sowie mehrere Blogger. Für die Kommunikation mit den Heimatredaktionen hatte die »Tahrir« eigens eine 220-Volt-Anlage bekommen, per Satellitenfunk bestand permanente Verbindung ins Internet. Die Tische im Schiffsinneren waren ständig mit mehr als einem Dutzend Laptops und Netbooks bedeckt, unter einem stand ein starker Server.

Mit dem »steering committee« einigten sich die Journalisten in täglichen Besprechungen darauf, welche Informationen für die Öffentlichkeit frei waren– keiner der Kolleginnen und Kollegen wollte die Fahrt durch allzu große Mitteilsamkeit gefährden. Alle haben sich daran gehalten – zumindest auf unserem Schiff.

»Aufgebrachte Großmütter«

Das frühere Ausflugsboot, das vor kurzem noch »Elena« hieß, wurde im wesentlichen mit etwa 500000 Dollar gekauft, die Spender in Kanada aufgebracht hatten. Hinzu kamen Gelder aus Dänemark, Australien sowie Belgien; aus Deutschland steuerte die Deutsch-Palästinensische Gesellschaft 10000 Euro bei. Die Teilnehmer kamen daher auch aus all diesen Ländern, vor allem aber aus Kanada. Dabei waren auch zwei Türken, eine US-Bürgerin, eine russische Journalistin und ein pakistanischer Kollege. Internationaler geht es kaum noch – die Umgangssprachen waren im wesentlichen englisch und französisch, man hörte auch immer wieder flämisch, arabisch, türkisch oder hebräisch.

Viele der Kanadier wollten aus christlicher Motivation an der Fahrt teilnehmen, andere waren sozial engagiert, wiederum andere hatten für Nichtregierungsorganisationen in Entwicklungsländern gearbeitet, auch in Palästina. Die Belgier, Dänen und Australier waren eher politisch eingestellt – unter ihnen fand man aktive Gewerkschafter, Kommunisten, Grüne. Ferner mehrere Juden unterschiedlicher Nationalität, Muslime, Atheisten, Agnostiker. Die Kommunikationstrainerin Lee, die einen Teil unserer Vorbereitungen gestaltete, war Baptisten-Priesterin.

Einige Teilnehmer waren knapp über 20, andere gut über 70 – Durchschnitts­alter 45. Jeder Dritte hatte schon Enkel. Bemerkenswert waren die älteren Frauen: Mary aus Kalifornien z.B. war um die 70, ging am Stock und suchte dauernd eines ihrer beiden Hörgeräte; Ireen aus Vancouver war 68 und hatte die Unterbringung aller Teilnehmer in zwei nebeneinander liegenden Hotels organisiert. Die gleichaltrige Vivienne hatte sich schon in ihrem Geburtsland Neuseeland für Menschenrechte engagiert und setzt das bis heute in Australien fort. Sylvia war lange Parlamentsabgeordnete der australischen Grünen. »This is the ship of the raging grannies« (Schiff der aufgebrachten Großmütter), befand Kate aus Kanada.

Vertreten waren vorwiegend intellektuelle Berufe. Eine Rechtsanwältin war dabei, drei kanadische Universitätsprofessoren, Hausfrauen, Rentnerinnen, ein früherer Schiffsingenier, ein hochkarätiger IT-Fachmann, ein Filmregisseur, Ärzte, eine Krankenschwester, ein Imam, Sozialarbeiter, eine Psychotherapeutin. Alkohol an Bord war verboten, geraucht werden durfte nur an Oberdeck, es gab nur vegetarisches Essen. »Crazy ­people!« war der Befund der Kollegin aus Moskau.

Und diese »crazy people«, die ihren Lebensabend geruhsamer verbringen könnten, wollten sich auf den Weg nach Palästina begeben, um auf die unmenschliche Blockade des Gazastreifens aufmerksamen zu machen! Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer wußte, was ihm oder ihr bei einer Enterung durch Israelis blühen würde: Beschuß mit Farbkugeln, Gummigeschossen, Tränen- und Reizgas, Elektroschocks. Vielleicht sogar Verletzungen durch Gewehrkugeln oder der Tod. Auf jeden Fall rüde Behandlung durch die Soldaten, Demütigung, schmerzhafte Fesselung, Verlust allen Gepäcks, Verhör, Gefängnis, Beschimpfungen. Und wer jetzt meint, es sei unverschämt, der israelischen Armee derartiges zu unterstellen, der sollte den Bericht der UN-Kommission für Menschenrechte über die Kaperung der Gaza-Flottille im vergangenen Jahr lesen.

Strikt demokratisch

Die Flottille wurde durch ein »steering committee« organisiert, in das jedes teilnehmende Schiff einen Vertreter entsandt hatte. Zusätzlich gab es auf jedem Boot ein eigenes »steering committee«, das für die Auswahl, die Unterbringung und die Vorbereitung der Teilnehmer verantwortlich war. Jeweils eines seiner Mitglieder leitete dann auch die Diskussion in den Versammlungen. Wichtige Entscheidungen wurden immer im Plenum abgestimmt.

So verlief auch die Abstimmung darüber, ob wir tatsächlich ohne George, den regulären Kapitän, auslaufen sollten. Alle Teilnehmer, mit Ausnahme der Journalisten, wurden zu 21.00 Uhr auf die »Tahrir« bestellt. Damit von außen niemand mithören konnte, wurden die Türen zum Schiffsinneren und alle Fenster geschlossen – nach nur zehn Minuten waren alle schweißgebadet. Das »steering committee« stellte zunächst die »Fachleute« vor, die das Schiff aus den griechischen Hoheitsgewässern navigieren sollten. Dazu gab es einige Fragen, wobei allerdings kein Diskussionsredner deren Qualifikation bezweifelte. Einwände bezogen sich vorwiegend darauf, daß diese Aktion nach griechischem Gesetz illegal sei. Die Abstimmung ergab: eine Gegenstimme, zwei Enthaltungen – der Rest stimmte begeistert zu.

Nach der – ohnehin erwarteten – Kaperung durch die Küstenwache galt es, die »Fachleute« vor der Strafverfolgung zu schützen. Nach kurzer Diskussion einigten sich die Teilnehmer darauf, daß wir mit passivem Widerstand verhindern wollten, daß die Polizei einzelne zu Verhören von Bord holt – jeder sollte sich auf den Schutz der Gemeinschaft verlassen können.

Da die Aussichten, einen Schuldigen zu finden, sehr gering waren, kamen schließlich einige freundliche Beamte an Bord, um an Ort und Stelle die Aussagen aufzunehmen. Das war schnell getan – denn außer Name, Wohnort, Paßnummer, Nationalität gab es nur eines zu notieren: »no comment.« Wenige Stunden danach durften alle von Bord.

* Aus: junge Welt, 9. Juli 2011


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