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"Nur die Flotte kann Hilfe nach Gaza bringen"

Empörung über das Auslaufverbot durch die griechische Regierung / US-Kapitän soll vor Gericht gestellt werden

Von Martin Lejeune, an Bord der "Stefano Chiarini" in Gouvia, Korfu *

Nachdem das US-Schiff »Audacity of Hope« am Freitag (1. Juli) ohne Genehmigung ausgelaufen und von der griechischen Küstenwache festgesetzt worden war, verhängte die griechische Regierung ein Auslaufverbot aus griechischen Häfen für die Gaza-Flotte.

»Gegen diese Entscheidung haben wir Rechtsmittel eingelegt«, berichtete am Sonntag (3. Juli) gegenüber ND ein Sprecher des Koordinierungsausschusses der Flotte. »Einige der besten Anwälte Griechenlands haben vor Gerichten der Hafenstädte der Flotten-Schiffe Eilverfahren gegen das Auslaufverbot angestrengt.« Derweil sind von den 14 bisher bekannt gewordenen Schiffen der Gaza-Flotte 2011 sechs permanent und eines temporär außer Kraft gesetzt (das US-amerikanische durch die Küstenwache). Eines, das kanadische, dürfe ablegen – »aber nicht mit dem Ziel Palästina«, so ein Passagier der kanadischen »Tahrir«. Drei Schiffe, so die Koordinatoren, seien seetüchtig und auslaufbereit, aber noch ohne Genehmigung zum Auslaufen, darunter die »Stefano Chiarini« in Gouvia.

Drei Schiffe der Flotte befinden sich bereits in internationalen Gewässern, darunter das libanesische Schiff »Ansar al-Huria«, das am 30. Juni von Beirut auslief.

Auf einer Pressekonferenz des Koordinierungsausschusses der Flotte mit Mustafa Barghouti am Sonnabend in Athen wurde das harte Vorgehen der Küstenwache gegen die »Audacity of Hope« scharf verurteilt. Auch gegen das Auslaufverbot durch die Regierung wurde protestiert. »Griechenland unterstützt damit aktiv die illegale Blockade des Gaza-Streifens«, so ein Sprecher. »Israel kann ungestraft Sabotageakte durchführen und bekommt anschließend auch noch Unterstützung aus dem Ausland«, meinte der Europaabgeordnete Paul Murphy, Passagier auf der »Stefano Chiarini«, gegenüber ND mit Blick auf Vorwürfe gegen Israel im Zusammenhang mit Beschädigungen an Gaza-Schiffen. »Mustafa Barghouti, Mitglied der Sozialistischen Internationale, und andere Politiker haben am Sonnabend in Athen die griechische Regierung dazu gedrängt, die Schiffe freizugeben«, sagte die Bundestagsabgeordnete Annette Groth (LINKE) in Athen in einem Telefonat mit ND. Groth ist derzeit als Rednerin auf dem internationalen Widerstands-Festival in Athen.

Am Sonntag (3. Juli) traf Groth in einem Athener Hotel Besatzung und Passagiere der »Audacity of Hope«. Ann Wright betonte während der Zusammenkunft, dass in den USA der Beschluss des Bundestages vor einem Jahr, der das Ende der Gaza-Blockade forderte, für Schlagzeilen gesorgt habe. Alle Passagiere der »Audacity« protestieren derzeit in Athen gegen die Inhaftierung des US-Kapitäns, der laut Groth am Dienstag vor Gericht gestellt werden soll wegen angeblicher »Störung des internationalen Schiffsverkehrs«, was in Griechenland als Kapitalverbrechen gilt.

Ein Drittel der 34 Passagiere der »Audacity« sind jüdischen Glaubens, darunter die Schriftstellerin Hedy Epstein. In den USA gab es nach ND-Informationen am Wochenende Demonstrationen gegen die Festsetzung des Schiffes.

Die »Stefano Chiarini« liegt derweil, behelligt von mehr Hafenpolizisten und Küstenwachschiffen als noch vor dem Wochenende, im Hafen von Gouvia. Sie befinde sich trotz des Verbotes vom Freitag unmittelbar vor dem Auslaufen, so ihr Kapitän Petros. Er sagte am Sonnabend in Gouvia während einer Besprechung mit Cheforganisator Khalid Tarrani und mit Passagieren: »Ich bin sehr zuversichtlich, dass ich während des Montags die Genehmigung zum Auslaufen der ›Chiarini‹ erhalte. Korfu ist nicht Athen und hat seine eigenen Entscheidungswege.«

Am Sonntagmorgen (3. Juli) war die »Stefano Chiarini« bereits nahezu komplett beladen. Während des Wochenendes wurde das Schiff mit Hilfsgütern bestückt, darunter im Gaza-Streifen dringend benötigte Medikamente, aber auch Rugby-Bälle und Kühlschränke. »Ich muss so schnell wie möglich in Gaza sein«, meinte am Sonntag gegenüber ND Samir Kazkaz, international renommierter Neurochirurg und Träger des Bundesverdienstkreuzes, »da die Krankenhäuser dort bereits etliche Operationen für mich vorbereitet haben.«

Der palästinensische Botschafter in Kairo, Barakat al-Fara, sagte in einem Telefonat mit Kazkaz und ND, die Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten »sei für Personen und Güter geschlossen. Nur Studenten und Kranke dürfen passieren. Die Menschen in Gaza können die dringend benötigte Hilfe zur Zeit nur durch die Flotte erhalten.« Samir Kazkaz zeigte sich konsterniert: »Der Botschafter, den ich gut kenne, kann mir keine Genehmigung verschaffen, über Ägypten nach Gaza zu reisen.«

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juli 2011


Zum Auslaufen bereit

Die Aktivisten der »Free Gaza«-Flottille bleiben auch nach dem griechischen Auslaufverbot friedlich, sind aber dem zivilen Ungehorsam nicht abgeneigt

Von Peter Wolter, Agios Nikolaos **


Immer neue Fernsehteams stehen mit Kameras und Mikrofonen vor der »Tahrir«, die im Hafen von Agios Nikolaos auf das Auslaufen wartet. Die rund 50 Aktivisten, die mit dem 25 Meter langen kanadischen Schiff die israelische Blockade des Gazastreifens überwinden wollen, sind von Tag zu Tag begehrtere Gesprächspartner – auch für Urlauber, Einheimische und Segler, deren Boote in der Marina liegen.

Die Küstenwache hat gedroht, das Auslaufen der Hilfsflottille mit Gewalt zu verhindern. Die Aktivisten wollen friedlich bleiben, sind aber dem zivilen Ungehorsam nicht abgeneigt. Ursprünglich sollten die zehn Schiffe, von denen zwei durch Sabotage ausgefallen sind, bereits am 27. Juni auf internationalen Gewässern zusammentreffen, um Hilfsgüter in den abgeriegelten Gazastreifen zu bringen. Seither sitzen sie überwiegend in griechischen Häfen fest. Nach immer neuen Verzögerungen, bei denen die Behörden zum Teil anonyme Hinweise auf technische Mängel überprüften – auf einzelnen Schiffen bis zu dreizehnmal – hat die griechische Regierung am Freitag offiziell ein Auslaufverbot verhängt. Wohlgemerkt für alle Schiffe unter griechischer oder ausländischer Flagge mit Kurs auf Gaza. Eine politische Entscheidung, begründet mit der israelischen Seeblockade, die damit, so der Schriftsteller Henning Mankell, an Griechenland »outgesourct« wurde. Die Organisatoren des Schiffskonvois hatten unverzüglich Anwälte in Marsch gesetzt und Gespräche mit Parteien und Gewerkschaften geführt.

Der griechische Parlamentsabgeordnete des Linksbündnisses SYRIZA, Michalis Kritsotakis, fand klare Worte für die Selbstaufgabe der nationalen Souveränität: »Griechenland ist im Moment ein Teil der israelischen Außenpolitik. Sie machen alles, worum sie gebeten werden.«

Lauter Jubel brach am Sonntag (3. Juli) unter den Aktivisten auf der »Tahrir« aus, als bei der täglichen Frühbesprechung an Bord für Montag morgen, 8.00 Uhr Präsenz angeordnet wurde. »We are going to leave«, verkündete David, Linguistik-Professor aus Kanada und Mitglied des »Steering Committee«, das die Aktivität der nunmehr acht Schiffe umfassenden Flotte koordiniert. Wie zur Warnung legte kurz darauf ein Patrouillenboot der griechischen Küstenwache neben der »Tahrir« an, auf der Pier fuhr ein Polizeiwagen vor, bis an die Zähne bewaffnete Beamte stiegen aus. Wann das Schiff ablegen wird, ist unklar – wie sich die Küstenwache verhält, ebenfalls.

Zumindest in Agios Nikolaos stehen alle Zeichen auf Konfrontation. Die »Tahrir« ist bestens darauf vorbereitet: Die Teilnehmer haben anderthalb Wochen lang den friedlichen Widerstand geprobt – eine erste Bewährungsprobe gab es am Freitag, als ein Polizeibeamter daran gehindert wurde, mit beschlagnahmten Schiffsdokumenten von Bord zu gehen. Auch die Hafenmeisterin kann mittlerweile ein Lied davon singen, daß mit den Bürgerrechtlern aus Kanada, Australien, Belgien und Dänemark nicht gut Kirschen essen ist.

Auch das Schiff selbst ist bestens für eine Konfrontation gerüstet. Das gesamte Oberdeck ist mit engmaschigen und starken Fischernetzen gegen Tränengaskartuschen abgeschirmt, alle Teilnehmer sind darauf vorbereitet, Soldaten, die eventuell das Schiff zu entern versuchen, gar nicht erst zum Ruderhaus durchzulassen. Das aber müssen sie erst in die Hand bekommen, um die beiden Dieselmotoren stoppen zu können. Allerdings dürfte das nur mit äußerster Gewalt zu erreichen sein – es gäbe Schlagzeilen für die Weltpresse, die sich in den vergangenen Tagen immer intensiver mit dem Konflikt um die Gaza-Flottille befaßt hat.

Von seiten der Aktivisten wird es jedenfalls keine Gewalt geben – lediglich passiven Widerstand. Jeder an Bord hat sich per Unterschrift auf die »Red Lines« verpflichtet, die unter anderem vorschreiben, keinerlei Aggressivität auszuüben – auch nicht verbal. Sogar böse Worte gegenüber den Angreifern sind verboten.

Das Schiff wurde mit Spenden in Höhe von etwa 500000 kanadischen Dollar in Griechenland gekauft, mit etwa 50000 zusätzlichen Dollar ausgerüstet und umgebaut. Das Durchschnittsalter liegt bei 45 Jahren. Jeder Dritte an Bord hat schon Enkel. Zu den Mitreisenden zählen Universitätsprofessoren, eine ehemalige Grünen-Abgeordnete aus Australien, ein einstiger Grünen-Senator aus Belgien, auch ein früherer Bürgermeister aus Kopenhagen ist dabei.

** Aus: junge Welt, 4. Juli 2011


Warum ich mit der Freiheitsflottille nach Gaza fahre

Die afroamerikanische Schriftstellerin und Pulitzer-Preisträgerin Alice Walker schrieb im britischen Guardian über ihre Beweggründe ***

Unser Schiff »Audacity of Hope« wird den Menschen in Gaza Briefe bringen, Botschaften der Solidarität und Liebe. Das ist die einzige Fracht, die wir mitführen. Ein Angriff des israelischen Militärs wäre daher wie der Angriff auf einen Postboten. Das wäre ein sehr merkwürdiges Kapitel in den Geschichtsbüchern. Doch wenn sie uns angreifen, uns verletzen, vielleicht sogar töten, wie sie es mit einigen Aktivisten der letzten Flottille taten, was wäre dann zu tun?

In dem Film »Gandhi« gibt es eine Szene, die mich sehr bewegt hat: Die unbewaffneten indischen Demonstranten stellen sich den bewaffneten Truppen des britischen Empire entgegen. Die Soldaten schlagen gnadenlos auf sie ein, aber die Reihen der Inder, ihre Verwundeten und Getöteten liebevoll aus dem Gefecht herausholend, füllen sich weiter. Neben diesem Bild der mutigen Anhänger Gandhis ist da noch etwas, das mich bewegt: Das Bedürfnis, den jüdischen Bürgerrechtsaktivisten etwas zurückzugeben. Als wir Hilfe brauchten, haben sie ihr Leben riskiert und sich den Schwarzen in den Südstaaten angeschlossen.

Ich fühle mich vor allem Michael Schwerner und Andrew Goodman verpflichtet, die unseren Hilferuf hörten und zu uns kamen – unsere Regierung war und ist erbarmungslos langsam, wenn es um den Schutz gewaltloser Demonstranten geht. Doch die Knüppel und Kugeln einiger »good ol’ boys« von Neshoba County, Mississippi haben sie aufgehalten. Sie wurden niedergeschlagen und erschossen, zusammen mit James Chaney, dem jungen mutigen Schwarzen, der mit ihnen starb. Unser Schiff heißt »Audacity of Hope«, in meinen Herzen aber fährt es unter der Flagge Goodmans, Chaneys und Schwerners.

Eines Tages fragte ich meinen besten Freund und Ehemann zu Zeiten der Segregation, der zu den kompromißlosesten mir bekannten Verteidigern der Menschenrechte der Schwarzen zählte: Wie hast du den Weg zu uns Schwarzen gefunden, als wir dich so sehr brauchten? Was hat dich dazu gebracht, dich gegen das große Unrecht zu stellen, das Schwarzen in jener Zeit angetan wurde?

Ich hatte erwartet, er würde mir sagen, es seien die Reden, die Demonstrationen, das Beispiel Martin Luther Kings oder anderer in der Bewegung gewesen, die in so beeindruckender Weise Mut und Hingabe gezeigt hatten. Doch nein, er erzählte eine Episode aus seiner Kindheit, die ihn unweigerlich auf den Weg in unseren Kampf führte.

Als kleiner Junge war er gerade auf dem Heimweg von der jüdischen Schule, die er nach der regulären Schule besuchte. Seine Mutter, eine Buchhalterin, war noch im Büro, und er war allein. Von älteren Jungen aus der regulären Schule wurde er oft schikaniert. An jenem Tag schnappten ihm zwei der Jungen die Kippa vom Kopf, verspotteten ihn, rannten damit weg und warfen sie schließlich über einen Zaun.

Zwei schwarze Jungen kamen, sahen seine Tränen, begriffen, was geschehen war und rannten den Jungen nach, die ihm seine Kippa weggenommen hatten. Sie holten die Jungen ein und zwangen sie, über den Zaun zu steigen, die Kippa aufzuheben, den Staub abzuwischen, um sie ihm respektvoll wieder auf den Kopf zu setzen. Ich möchte, daß die Welt ihr Verständnis von Gerechtigkeit und Respekt entstaubt, um beides wieder auf den Kopf des palästinensischen Kindes zu setzen – unverzüglich. Und Zärtlichkeit, Gerechtigkeit und Respekt werden unvollkommen sein, da die Ungerechtigkeit und die Respektlosigkeit so tiefgreifend waren. Doch ich glaube, es ist richtig, daß wir es versuchen. Deshalb fahre ich mit.

[Auszüge und Übersetzung: Doris Pumphrey]

Vollständiger Text in englischer Sprache: www.alicewalkersgarden.com

*** Aus: junge Welt, 4. Juli 2011


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