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"Dem Erdboden gleich"

Ein Auszug aus dem in diesen Tagen erscheinenden Buch "Israels Invasion in Gaza"

Von Norman Finkelstein *


Im Dezember 2008 begann Israel die Militäroperation »Gegossenes Blei«. Bei dem Angriff auf den Gaza-Streifen ging Israel, wie auch der im Auftrag des UN-Menschenrechtsrats erstellte »Goldstone-Bericht« konstatierte, mit äußerster Brutalität vor. Mit Norman G. Finkelsteins Buch »Israels Invasion in Gaza« erscheint Anfang März in der Hamburger Edition Nautilus die bislang präziseste politische Analyse dieser Ereignisse. Die "junge Welt" veröffentlicht einen (um Fußnoten gekürzten) Auszug aus dem zweiten Kapitel (»Ihre Angst und die unsrige«), den wir im Folgenden dokumentieren.

Der Nahostkorrespondent der New York Times, Ethan Bronner, berichtete unter Berufung auf israelische Quellen, »übergeordnetes Ziel« der Operation Gegossenes Blei sei »die Wiederherstellung der israelischen Abschreckungsfähigkeit«, weil »die Feinde Israels weniger Angst vor ihm haben als bisher beziehungsweise weniger, als sie haben sollten«. Die Bewahrung seiner Abschreckungsfähigkeit war für Israels strategische Doktrin immer schon von großer Bedeutung. Ein Hauptmotiv war dies zum Beispiel im Juni 1967, als Israel zu jenem Erstschlag gegen Ägypten ausholte, der die israelische Besetzung von Gaza und Westjordanland zur Folge hatte. Zur Rechtfertigung des israelischen Angriffs auf Gaza im Dezember 2008 schrieb der israelische Historiker Benny Morris: »Viele Israelis haben das Gefühl, daß die Mauern um sie herum bedrohlich näherrücken (...), ganz ähnlich wie Anfang Juni 1967.« (Ein paar Monate später verspottete Gideon Levy die ständige israelische Panikmache als »Zuflucht des Teufels«, mit der sich »alles erklären und rechtfertigen läßt«.) Daß die israelische Allgemeinheit im Juni 1967 unter Beklemmungen litt, ist unstrittig, doch – wie Morris weiß – war Israels Existenz damals keineswegs bedroht, und die israelische Führung machte sich hinsichtlich des Kriegsausgangs keine Sorgen.

»Die Angst vor uns«

Nachdem Israel im Mai 1967 Syrien mit einem Angriff gedroht und entsprechende Pläne geschmiedet hatte, verlegte der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser ägyptische Truppen auf die Sinaihalbinsel und verfügte die Sperrung der Straße von Tiran für den israelischen Schiffsverkehr. (Ägypten hatte ein paar Monate zuvor einen Militärpakt mit Syrien geschlossen.) Der israelische Außenminister Abba Eban erklärte pathetisch, die Blockade verdamme Israel dazu, »mit einer Lunge zu atmen«. Doch die Straße von Tiran spielte bei der Versorgung Israels kaum eine Rolle (abgesehen von Erdöllieferungen, die damals wegen ausreichender Vorräte nicht akut benötigt wurden). Außerdem setzte Nasser die Blockade in der Praxis auch gar nicht durch: Binnen weniger Tage hatten die Schiffe wieder freie Fahrt. Und was war mit der von Ägypten ausgehenden militärischen Bedrohung? Mehrere US-Geheimdienste hatten festgestellt, daß die Ägypter keinerlei Angriffsabsichten gegenüber Israel hegten und daß Israel sie, sollten sie wider Erwarten dennoch (sei es allein oder gemeinsam mit anderen arabischen Staaten) angreifen, »fix und fertig« machen würde – so die Formulierung von US-Präsident Lyndon Johnson. Der Mossad-Chef erklärte am 1. Juni 1967 gegenüber ranghohen US-Vertretern, daß »sich die USA und die Israelis in bezug auf die militärgeheimdienstlichen Erkenntnisse und deren Interpretation vollkommen einig« seien.

Sorge bereitete Israel etwas ganz anderes: In der arabischen Welt wuchs die Bereitschaft, Israel die Stirn zu bieten, eine Entwicklung, die von Nassers radikalem Nationalismus befördert wurde und ihren Höhepunkt in seinen aufmüpfigen Gesten vom Mai 1967 fand. Diejenigen israelischen Kabinettsmitglieder, die hinsichtlich eines Erstschlags ihres Landes Bedenken hatten, wurden deshalb von Divisionskommandeur Ariel Scharon mit den Worten ermahnt, Israel verliere gerade seine »Fähigkeit zur Abschreckung (...) unsere wichtigste Waffe – die Angst vor uns«. Mit »Abschreckungsfähigkeit« war nicht gemeint, daß Israel in der Lage sein müsse, eine unmittelbar bevorstehende tödliche Bedrohung abzuwenden; man wollte nur sichergehen, daß Israel tun und lassen konnte, was es wollte – daß die Araber es niemals wagen würden aufzumucken, selbst wenn Israel sich noch so viele Schamlosigkeiten leistete. Als der einflußreiche US-Präsidentenberater Walt W. Rostow eine Bewertung des regionalen Kräfteverhältnisses vornahm, fand auch er: Es war an der Zeit, »Nasser zurechtzustutzen«. Israel entfesselte diesen Krieg am 5. Juni 1967, um, wie der israelische Strategieanalytiker Seev Maoz schreibt, »die Glaubwürdigkeit der israelischen Abschreckungsfähigkeit wiederherzustellen«.

Suche nach dem Angriffsziel

Der von der Hisbollah im Mai 2000 erzwungene Rückzug der israelischen Besatzungsarmee aus dem Libanon ließ Israel erneut um seine Abschreckungsfähigkeit bangen. Die Tatsache, daß Israel solchermaßen eine vernichtende Niederlage beigebracht worden war – eine Schmach zumal, die in der gesamten arabischen Welt gefeiert wurde –, machte einen Folgekrieg geradezu unausweichlich. Israel begann beinahe umgehend mit der Planung für die nächste Runde und fand im Sommer 2006 einen Vorwand, als die Hisbollah zwei israelische Soldaten gefangennahm (einige weitere wurden bei der Operation getötet) und im Austausch die Freilassung libanesischer Gefangener aus israelischer Haft verlangte. Obwohl Israel seine Luftwaffe wüten ließ und dann auch noch seine Bodentruppen in Marsch setzte, mußte es erneut eine schmachvolle Niederlage einstecken. Ein angesehener US-amerikanischer Militäranalytiker gelangte ungeachtet seiner Parteinahme für Israel zu folgenden Schlußfolgerungen: »Die israelische Luftwaffe, jener Zweig des israelischen Militärs, der einst innerhalb weniger Tage ganze Luftwaffen vernichtete, erwies sich nicht nur als unfähig, den Raketenbeschuß durch die Hisbollah zu unterbinden; er war nicht einmal in der Lage, eine rasche Erholung der Hisbollah durch ausreichende Schwächung zu verhindern.« »Als die Bodentruppen dann schließlich in den Libanon einmarschierten, (…) kamen sie an den Hisbollah-Hochburgen nicht vorbei, nicht einmal an den grenznahen.« »Was die Ziele betrifft, die Israel sich gesetzt hatte: Die entführten israelischen Soldaten wurden weder befreit noch freigelassen; der Raketenbeschuß durch die Hisbollah wurde zu keinem Zeitpunkt unterbunden, ja selbst die Raketen mit großer Reichweite wurden weiterhin abgefeuert (…); und die israelischen Bodentruppen erlitten schwere Verluste und wurden von einem gut ausgerüsteten und fähigen Feind in lang anhaltende Gefechte verwickelt.« (...)

Nach dem Libanonkrieg von 2006 konnte Israel es kaum abwarten, sich erneut mit der Hisbollah anzulegen, aber es zögerte noch, weil sich die alte Siegesgewißheit noch nicht wieder eingestellt hatte. Mitte 2008 versuchte Israel verzweifelt, die USA für einen Militärschlag gegen den Iran zu rekrutieren, in der Hoffnung, ein solcher Angriff werde auch die Hisbollah (den Juniorpartner des Irans) entscheidend schwächen und somit diejenigen Akteure in die Knie zwingen, die sich der regionalen Hegemonie Israels am hartnäckigsten widersetzten. Israel und seine offiziösen Abgesandten, unter ihnen Benny Morris, drohten, bei ausbleibendem US-Interesse an einer solchen Aktion müßten dann »unkonventionelle Waffen zum Einsatz kommen«, was »den Tod vieler unschuldiger Iraner« zur Folge hätte. Doch zum Verdruß Israels wurde nichts daraus – die USA weigerten sich, grünes Licht für einen Militärschlag zu geben. Während der Iran munter seiner Wege ging, stand Israel dumm da und mußte zusehen, wie die Zweifel an seiner Terrorisierungsfähigkeit weiter wuchsen. Ein anderes Angriffsziel mußte her. Die Wahl fiel auf Gaza, von dem man ja bereits zur Genüge wußte, daß es gegen einen Militärschlag nicht viel würde ausrichten können. Dort, in Gaza, hatte sich die islamische Hamas-Bewegung ungeachtet ihrer armseligen Bewaffnung dem israelischen Diktat trotzig widersetzt. Die Hamas brüstete sich damit, Israel im Jahr 2005 zunächst zum »Abzug« aus Gaza und dann, im Juni 2008, zur Vereinbarung einer Waffenruhe gezwungen zu haben. Die Frage, wo Israel seine Abschreckungsfähigkeit wiederherstellen wollte, war somit geklärt. Die Frage, wie Israel diese Aufgabe zu meistern gedachte, ließ schon ein Schauplatz des Libanonkriegs von 2006 erahnen.

Die Dahija-Strategie

Im Libanonkrieg von 2006 hatte Israel den südlichen Beiruter Vorort Dahija, wo viele arme schiitische Unterstützer der Hisbollah wohnten, dem Erdboden gleichgemacht. Nach dem Krieg hatten israelische Militärs dann begonnen, von der »Dahija-Strategie« zu sprechen: »Wir werden gegen jedes Dorf, von dem aus auf Israel geschossen wird, mit unverhältnismäßiger Gewalt vorgehen und dort immense Schäden und Zerstörungen anrichten«, erklärte der Chef des Nordkommandos der israelischen Armee, Gadi Eisenkot. »Das ist kein bloßer Vorschlag, sondern ein bereits genehmigter Plan.« Bei Feindseligkeiten müsse Israel, so Oberst der Reserve Gabriel Siboni vom israelischen Forschungsinstitut für Nationale Sicherheit, »unverzüglich, entschlossen und mit unverhältnismäßiger Gewalt agieren. (…) Eine solche Reaktion zielt darauf ab, in so großem Maße Schaden anzurichten und eine solch hohe Strafe zu verhängen, daß der Prozeß des Wiederaufbaus langwierig und kostspielig sein wird.« »Der nächste Krieg (…) wird zur Eliminierung des libanesischen Militärs führen, zur Zerstörung der nationalen Infrastruktur und zu schwerem Leid in der Bevölkerung«, drohte der ehemalige Chef des Nationalen Sicherheitsrats Israels, Giora Eiland. »Ernster Schaden für die libanesische Republik, die Zerstörung von Wohnhäusern und Infrastruktur und das Leid Hunderttausender Menschen – das sind Konsequenzen, die das Verhalten der Hisbollah stärker beeinflussen können als alles andere.«

Es sei daran erinnert, daß die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt und Angriffe auf die zivile Infrastruktur nach dem Völkerrecht Kriegsverbrechen darstellen. Die neue Strategie sollte zwar gegen alle aufsässig gewordenen Kontrahenten Israels in der Region zum Einsatz kommen, aber es wurde vielfach darauf hingewiesen, daß Gaza sich für eine solche Vorgehensweise am vortrefflichsten eignete. »Zu schade, daß sie nicht gleich nach dem ›Rückzug‹ aus Gaza [im Jahr 2005] und den ersten Raketenangriffen angewandt wurde«, klagte ein angesehener israelischer Kommentator. »Hätten wir damals gleich zur Dahija-Strategie gegriffen, wäre uns vermutlich viel Ärger erspart geblieben.« Der israelische Innenminister Meir Schitrit schlug Ende September 2008 vor, die israelische Armee solle sich doch für den Fall, daß die Palästinenser Israel erneut mit Raketen angriffen, »irgendeine Wohngegend in Gaza aussuchen und sie dem Erdboden gleichmachen«.

Wie der israelische Einsatzplan für den Angriff auf Gaza beschaffen war, das ließen offizielle Verlautbarungen nach Invasionsbeginn erkennen: »Was wir brauchen, ist ein systematisches Vorgehen mit dem Ziel, alle Organisationen, die Raketen und Mörsergranaten abfeuern, zu bestrafen, ebenso aber auch die Zivilisten, die ihnen das Schießen und Untertauchen ermöglichen« (Generalmajor der Reserve Amiram Levin). »Nach dieser Operation wird in Gaza kein einziges Hamas-Gebäude mehr stehen« (der stellvertretende Stabschef der israelischen Armee, Dan Harel). »Alles, was Verbindungen zur Hamas hat, ist ein legitimes Angriffsziel« (die Sprecherin der israelischen Armee, Major Avital Leibowitz). Es sollte »möglich« sein, »Gaza zu vernichten, damit sie kapieren, daß sie sich besser nicht mit uns anlegen. (...) Es ist eine großartige Gelegenheit, die Häuser all dieser Terroristen zu Tausenden zu zerstören, damit sie es sich gut überlegen, ob sie wirklich Raketen abschießen wollen. (...) Ich hoffe, daß die Operation ein großer Erfolg wird und daß der Terrorismus und die Hamas zum Schluß vollkommen vernichtet sein werden. Ich finde, man sollte sie dem Erdboden gleichmachen, also werden Tausende Häuser, Tunnel und Industriebetriebe zerstört werden« (der stellvertretende Ministerpräsident Eli Jischai). Der Militärkorrespondent der israelischen Nachrichtensendung auf Kanal 10 stellte fest: »Israel macht keinen Hehl aus der Tatsache, daß seine Reaktion unverhältnismäßig ist.«

Die israelischen Medien frohlockten darüber, daß Israel die Menschen in Gaza mit seinen ersten Luftschlägen, wie die Zeitung Maariv schrieb, in »Angst und Schrecken« versetzte. Waren an den ersten beiden Tagen des Libanonkriegs von 2006 nur 55 Libanesen getötet worden, so löschte Israel gleich am ersten Tag seiner Gaza-Invasion 300 Menschenleben in nur vier Minuten aus. Die meisten Angriffsziele befanden sich in »dichtbesiedeltem Wohngebiet«, und das Bombardement begann »gegen 11.30 Uhr morgens, zu einer Zeit, wo reges Treiben herrschte und die Straßen voller Zivilisten waren, darunter die Schulkinder, die nach Ende der morgendlichen Unterrichtsschicht nach Hause wollten, und diejenigen, die zur Schule unterwegs waren, um an der nächsten Schicht teilzunehmen«. Einige Tage nach Beginn des Abschlachtens schrieb ein gut informierter israelischer Strategieanalytiker: »Die israelische Armee plante Angriffe auf Orte, an denen sich Hunderte von Menschen aufhielten, und verzichtete darauf, diese Menschen zum Verlassen der betreffenden Gebäude und Plätze aufzufordern. Schließlich hatte sie sich vorgenommen, viele von ihnen zu töten, und das ist ihr ja auch gelungen.« Benny Morris lobte »Israels äußerst wirkungsvollen Luftschlag gegen die Hamas«. (...)

Als die Operation Gegossenes Blei ihren Lauf nahm, hörte mancher prominente Israeli auf, so zu tun, als ginge es dabei um ein Ende des Hamas-Raketenbeschusses. Ein ehemaliger israelischer Minister erklärte gegenüber der angesehenen Konfliktforschungsorganisation International Crisis Group, der »wahre Feind« des israelischen Verteidigungsministers Ehud Barak sei »nicht die Hamas«, sondern »die Erinnerung an 2006«. Der israelische Philosoph Asa Kascher tat zwar sein Möglichstes, um die Gaza-Invasion zu verteidigen, wandte aber ein: »Ein demokratischer Staat (...) darf Menschen nicht einfach zur Steigerung seiner Abschreckungsfähigkeit benutzen. Menschen sind keine Gebrauchsgegenstände.« Andere Kommentatoren gefielen sich in hämischen Bemerkungen: »Nach dem Libanon ist Gaza so etwas wie die Wiederholung einer Klassenarbeit – eine zweite Chance, es richtig zu machen.« Hatte Israel sich im Jahr 2006 vorgenommen, den Libanon um 20 Jahre zurückzuwerfen, freute es sich nun darüber, daß es gelungen sei, Gaza »in die 1940er Jahre« zu katapultieren – »Strom gibt es nur für ein paar Stunden am Tag«. »Israel hat seine Fähigkeit zur Abschreckung wiedererlangt«, weil »der Krieg in Gaza die Fehler des Zweiten Libanonkriegs [von 2006] wettmacht.« Und: »Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah grämt sich in diesen Tagen bestimmt sehr. (...) Es wird in der arabischen Welt niemanden mehr geben, der behaupten könnte, Israel sei schwach.« (...)

Rückfall in die Barbarei

Israels Modus operandi bei der Wiederherstellung seiner Abschreckungsfähigkeit läßt sich nur als schrittweiser Rückfall in die Barbarei beschreiben. Der israelische Sieg im Juni 1967 war zwar alles andere als hart erkämpft (Rostow sprach von einem »Truthahnschießen«), aber immerhin handelte es sich dabei noch in erster Linie um einen Sieg auf dem Schlachtfeld. Bei anschließenden Feindseligkeiten – hauptsächlich im Libanon – wollte Israel dann nicht nur einen Sieg auf dem Schlachtfeld herbeiführen, sondern sich durch Bombardierung auch die Zivilbevölkerung gefügig machen. Der Entschluß, die israelische Abschreckungsfähigkeit ausgerechnet in Gaza wiederherzustellen, beweist, daß Israel jegliches mit einem konventionellen Krieg verbundene Risiko scheute: Gaza wurde als Angriffsziel ausgewählt, weil es weitgehend wehrlos war. Daß Israel diesmal auf Terror in Reinkultur setzte, zeugt von seinem relativen Niedergang als Militärmacht, und daß Leute wie Benny Morris es während und nach der Gaza-Invasion fertigbrachten, sich an Israels militärischer Stärke zu ergötzen, zeugt von zunehmendem Realitätsverlust sowohl der Intellektuellen im israelischen Mainstream als auch eines Gutteils der israelischen Öffentlichkeit.

Israels Abschreckungsstrategie hatte noch etwas für sich: Sie hob die Stimmung im Volk. In einem internen UN-Dokument vom Februar 2009 hieß es, die »einzige bedeutende Leistung« der Gaza-Invasion habe darin bestanden, jene Israelis zu beruhigen, die sich fragten, ob ihr Land überhaupt »in der Lage und ihre Armee stark genug« sei, um Israels »Feinden einen Schlag zu versetzen«: »Der Einsatz von ›exzessiver Gewalt‹ (...) beweist, daß Israel hier der Herr im Hause ist. (…) Die Bilder der Zerstörung waren eher für israelische Augen als für die Augen der Feinde Israels bestimmt: Sie sollten den Rachedurst der Israelis stillen und ihre Sehnsucht nach Nationalstolz erfüllen.«

Bedrohung Friedensoffensive

Neben der Wiederherstellung seiner Abschreckungsfähigkeit ging es Israel bei seiner Gaza-Invasion vor allem darum, die jüngste Bedrohung durch den palästinensischen Pragmatismus abzuwenden. Von den USA und Israel abgesehen, strebt die internationale Staatengemeinschaft seit langem zweierlei an, um den israelisch-palästinensischen Konflikt beizulegen: eine Zweistaatenlösung, die einen vollständigen Rückzug Israels auf seine Grenzen vom Juni 1967 vorsieht, und eine »gerechte Lösung« der Flüchtlingsfrage, basierend auf dem Recht auf Rückkehr und Entschädigung. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen stimmt jedes Jahr aufs Neue über eine Resolution namens »Friedliche Regelung der Palästina-Frage« ab. Die Generalversammlung spricht sich darin stets für die Herbeiführung einer »Zweistaatenlösung für Israel und Palästina« aus und bekräftigt zu diesem Zweck den »Grundsatz der Unzulässigkeit des Gebietserwerbs durch Krieg« sowie die »Illegalität der israelischen Siedlungen in dem seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ostjerusalems«, und sie »unterstreicht die Notwendigkeit: a) des Abzugs Israels aus dem seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ostjerusalems; b) der Verwirklichung der unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes, allen voran des Rechts auf Selbstbestimmung und des Rechts auf seinen unabhängigen Staat« sowie »die Notwendigkeit einer gerechten Lösung des Problems der Palästinaflüchtlinge in Übereinstimmung mit ihrer Resolution 194 (III) vom 11. Dezember 1948«. (...)

Auf regionaler Ebene verabschiedete die Arabische Liga auf ihrem Beiruter Gipfel vom März 2002 einstimmig eine Friedensinitiative, die an den UN-Konsens angelehnt war; sie wurde bei späteren Gelegenheiten (zuletzt auf dem Doha-Gipfel der Arabischen Liga im März 2009) bekräftigt. Alle 57 Mitglieder der Organisation der Islamischen Konferenz, einschließlich des Irans, »nahmen die arabische Friedensinitiative zur Lösung des Palästina- und Nahostproblems an (…) und beschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Implikationen dieser Initiative vollumfänglich darzulegen und zu erklären und internationale Unterstützung für ihre Umsetzung zu gewinnen«. Für Israel-Propagandisten steht somit fest, daß »alle 57 Mitglieder der Organisation der Islamischen Konferenz erbitterte Gegner Israels sind«. Die Initiative der Arabischen Liga sieht nicht nur die Anerkennung Israels vor, sondern auch den »Aufbau normaler Beziehungen«, sobald Israel die Bestimmungen für einen umfassenden Frieden gemäß dem internationalen Konsens erfüllt. (...)

Die Hamas hat sich seit Mitte der 1990er Jahre, »wenn überhaupt, nur äußerst selten« auf ihre berüchtigte antisemitische Charta bezogen und verweist mittlerweile »gar nicht mehr« darauf. Die Vertreter Israels waren sich vor dem Angriff auf Gaza sehr wohl darüber im Klaren, daß die Hamas trotz dieser Charta für eine diplomatische Konfliktlösung offen war. »Die Hamas-Führung hat erkannt, daß ihr ideologisches Ziel nicht erreichbar ist und in absehbarer Zeit auch nicht erreichbar sein wird«, bemerkte der ehemalige Mossad-Chef Ephraim Levy. »Sie sind bereit und willens, sich auf die Gründung eines palästinensischen Staates in den temporären Grenzen von 1967 einzulassen. (...) Sie wissen, daß sie in dem Moment, wo ein palästinensischer Staat mit ihrer Unterstützung gegründet wird, zu einer Änderung der Spielregeln verpflichtet sein werden: Sie werden einen Weg einschlagen müssen, der sie weit fort von ihren ursprünglichen ideologischen Zielen führen könnte.« (...)

Nachdem die Hamas monatelang vergeblich eine Waffenruhe vorgeschlagen hatte, ging Israel im Juni 2008 schließlich auf das Angebot ein. Die Hamas war, wie einer offiziösen israelischen Veröffentlichung zu entnehmen ist, »um die Einhaltung der Waffenruhe bemüht«, und dies obwohl Israel das zentrale Quidproquo mißachtete, das eine erhebliche Lockerung der israelischen Wirtschaftsblockade Gazas vorsah. »Es kam gelegentlich zu Verstößen gegen die Waffenruhe, wenn einzelne Terrororganisationen, die sich nicht an die Abmachung gebunden fühlten, Raketen und Mörsergranaten abfeuerten«, hieß es in der israelischen Quelle weiter. »Gleichzeitig versuchte aber die [Hamas-]Bewegung, die Bestimmungen der vereinbarten Waffenruhe bei den anderen Terrororganisationen durchzusetzen und sie von Verstößen abzuhalten.« Die islamische Bewegung hatte bei dieser Gelegenheit Wort gehalten und sich somit als glaubwürdige Verhandlungspartnerin empfohlen. Und während die Hamas in der Lage zu sein schien, Israel Zugeständnisse abzuringen, gelang der unglückseligen, sich dem Willen Israels beugenden palästinensischen Autonomiebehörde nichts dergleichen. Folglich gewann die Hamas bei den Palästinensern weiter an Ansehen.

Dialog mit Hamas verhindern

Die Tatsache, daß die Hamas die Zweistaatenlösung akzeptierte und sich an die Waffenruhe hielt, stellte Israel vor ein großes Problem. Der Standpunkt, man könne keine Gespräche mit der Hamas führen, war nicht mehr vertretbar. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Europäer den Dialog mit der Hamas wiederaufnehmen und ihre Beziehungen zu der Organisation wiederherstellen würden. Israel befürchtete außerdem, seine Unnachgiebigkeit werde noch stärker auffallen, sollte die neue US-Regierung – wie nun von manch einflußreichem US-amerikanischen Politikberater empfohlen – mit dem Iran und der Hamas verhandeln und sich dem internationalen Konsens zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts annähern. (...)

Aus der Sicht Israels galt es in jedem Fall, die Hamas zu einer Wiederaufnahme ihrer Angriffe zu verleiten und sie anschließend zu radikalisieren oder zu vernichten, um sich so die legitime Verhandlungspartnerin vom Hals zu schaffen beziehungsweise den Weg frei zu machen für eine Konfliktbeilegung nach israelischem Geschmack.

* Norman G. Finkelstein, 1953 als Sohn von Holocaustüberlebenden geboren und 1988 an der Universität Princeton promoviert, lehrte jahrelang in New York und Chicago, unter anderem politische Theorie. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu Israel und Palästina.

Norman G Finkelstein: Israels Invasion in Gaza. Nautilus Flugschrift, Hamburg 2011, 224 Seiten, 18,00 Euro * Aus dem Englischen übersetzt von Maren Hackmann, ISBN 978-3-89401-737-8

Aus: junge Welt, 1. März 2011


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