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Bilanz des Grauens

Israelische Armee hat während ihres Krieges 1300 Palästinenser getötet. Alarmierende Zustände im Gazastreifen

Von Karin Leukefeld *

Erste Bilanzen über die Zerstörung im Gazastreifen sprechen von 1300 Toten, Tausenden Verletzten und 22000 zerstörten Wohnungen. Das Menschenrechtszentrum Al-Mezan kündigte eine detaillierte Auflistung aller Todesopfer und aller Schäden an. Viele davon seien eindeutig Folge von Kriegsverbrechen der israelischen Armee. Dutzende von verstümmelten Leichen wurden unter den Trümmern zerstörter Häuser gefunden. Mitarbeiter des Zentrums berichteten auch, daß ganze Stadtteile geradezu »verschwunden« seien. Wohnblocks »in den Gebieten von Esbet Abed-Rabu, As-Salatin, Al-Atatra, Al-Israa« im nördlichen Gazadistrikt sowie von Al-Kashif und in den Al-Rayis-Hügeln in den östlichen Vororten von Gaza-Stadt« gebe es nicht mehr, teilten Mitarbeiter des Zentrums mit. 62 Leichen habe man allein dort unter den Trümmern gefunden, darunter acht Kinder und zehn Frauen. Viele der Überlebenden hätten »ihren Ernährer, ihre Eltern, ihre Häuser und Wohnungen und alles Eigentum verloren« und seien dringend auf Nothilfe angewiesen, betonte das Al-Mezan-Zentrum. Dabei sei insbesondere die UN-Organisation für die Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge, UNRWA, gefordert. Am 23. Januar sollen die Schulen wieder öffnen. Die Menschen, die dort Zuflucht gefunden hätten, müssen in anderen Unterkünften untergebracht werden. Al-Mezan fordert internationale Garantien, daß nicht wieder Angriffe der israelischen Armee gegen die Zivilbevölkerung in Gaza und gegen zivile Einrichtungen erfolgen könnten. Die Kriegsverbrechen der letzten Wochen müßten untersucht werden.

Das Zentrum für Wohnen (­COHRE) weist auf den alarmierenden Zustand der Wasser- und Abwasseranlagen in Gaza hin, die schon vor Beginn des israelischen Überfalls in desolatem Zustand gewesen seien. Mehr als eine halbe Million Einwohner, etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung von Gaza, hätte keinen Zugang zu sauberem Wasser mehr. Die zuständige Behörde sei in den letzten Wochen nicht mehr in der Lage gewesen, die Anlagen zu warten. Es habe an Ersatzteilen gefehlt, während der Angriffe hätten die Arbeiter aus Sicherheitsgründen nichts tun können. Entgegen internationalem Recht haben die israelischen Angriffe das Kanalisationssystem in Gaza schwer beschädigt. Wasserleitungen, Pumpen, Bewässerungssysteme und zentrale Abwasserkanäle seien zerstört worden, drei Mitarbeiter der palästinensischen Wasserbehörde seien getötet worden, während sie Wartungsarbeiten vorgenommen hätten. Das Abwasser könne nicht abgepumpt werden und habe Wohngebiete überflutet, die Gesundheit der Bevölkerung sei gefährdet. Israel habe als Besatzungsmacht und kriegführende Partei massiv und vielfach gegen die Genfer Konvention verstoßen.

Die internationale Gemeinschaft und europäische Großmächte wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland haben zwar Hilfe für die notleidende Bevölkerung in Gaza angekündigt, doch mehr noch sind sie um den Schutz Israels besorgt, wie die arabische Onlinezeitung Middle East Online feststellte. Damit die Atommacht Israel nicht weiter mit selbstgebauten Raketen aus dem winzigen Gazastreifen angegriffen werden könne, hätten die Großmächte angeboten, dafür zu sorgen, daß »Waffen den schutzlosen Gazastreifen« nicht mehr erreichen können. Dafür sollen die Gewässer vor Gaza militärisch kontrolliert und an der Grenze zu Ägypten Sicherungsanlagen gebaut werden, damit die dort gelegenen Tunnelanlagen nicht mehr genutzt werden können.

Seit Jahren werden die Einwohner von Gaza mit allem, was sie zum Leben brauchen, durch die Tunnel versorgt, denn sowohl Israel als auch Ägypten hatten alle Grenzübergänge nach Gaza hermetisch abgeriegelt. Deshalb begannen Händler und Geschäftsleute des isolierten Landstrichs, ihre Güter durch die Tunnelanlagen einzuführen, was sich mit der Zeit zu einem lukrativen Geschäft entwickelte. Immer mehr Tunnel entstanden, durch die vom Vieh bis zum Hochzeitskleid alles nach Gaza transportiert werden konnte, was gebraucht wurde. Daß auch Waffen dazu gehörten, war kein Geheimnis.

* Aus: junge Welt, 21. Januar 2009

Dokumentiert: Auszüge aus einem ARD-Kommentar

Aus einem Kommentar von Carsten Kühntopp, ARD-Hörfunkstudio Amman, dokumentieren wir ein paar Textauszüge - auch um zu zeigen, dass die Berichterstattung in den Medien nicht einheitlich pro-israelisch war.

Israel hat aus Gaza ein zweites Somalia gemacht **

(...) Die Kanzlerin hat aus den fürchterlichen letzten drei Wochen nichts gelernt. Es geht nicht darum, dass Palästinenser Raketen nach Südisrael geschossen haben. Das war nur der Vorwand, den die Israelis selbst provozierten, mit ihrem kalkulierten, massiven Bruch der Waffenruhe Anfang November. Tatsächlich war der Krieg ein unmissverständliches Zeichen, was denen droht, die sich Israel widersetzen.

Israels Abriegelung des Gazastreifens begann 1991, vor den ersten Selbstmordanschlägen, und gipfelte vor zwei Jahren in einer völligen Blockade. Die Europäische Union unterstützte diese Politik, ihr Kalkül war folgendes: Wenn die Menschen im Gazastreifen immer tiefer auf Subsistenzniveau gedrückt werden, lehnen sie sich irgendwann gegen die Hamas auf - und dann kann Machmud Abbas, der gefügige palästinensische Präsident, wieder Einzug in Gaza halten.

(...) In Brüssel, in den europäischen Hauptstädten, glaubte man allen Ernstes, dass es Frieden und Sicherheit für Israel bringt, wenn man anderthalb Millionen Menschen an seiner Südwestflanke die Chance nimmt, ein Leben in Würde zu führen, wenn man ihre Wirtschaft zerstört und sie gezielt zu Wohlfahrtsempfängern macht.

(...) Der Bundeskanzlerin muss klar werden: Es bringt nichts, an den Symptomen herumzudoktern, also dem Waffenschmuggel - man muss die Krankheit angehen, also die Blockade und die seit 1967 andauernde Besatzung. Die Abriegelung des Gazastreifens ist völkerrechtswidrig und kontraproduktiv und muss beendet werden, ein für alle Mal.

Israels Präsident Shimon Peres erzählt seit Jahren, dass aus Gaza ein zweites Singapur werden könnte; doch das, was sein Land bisher in Gaza angerichtet hat, sieht eher nach einem zweiten Somalia aus.

** tagesschau.de, 19.01.2009; http://www.tagesschau.de/kommentar/nahost298.html




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