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"Kollektiv bestraft und terrorisiert"

Stimmung in Gaza zwischen Trotz und Verzweiflung / Von Israel verhängte Blockade behindert wirtschaftlichen Wiederaufbau

Von Sybille Oetliker, Gaza *

Schulen, Krankenhäuser, Fabriken und Privathäuser liegen im Gaza-Streifen in Trümmern. Und die Menschen sind überzeugt: Nicht die Hamas, sondern das palästinensische Volk war im Visier der israelischen Armee.

In Gaza ist die Zerstörung überall. Brutal und flächendeckend ist sie. Nichts war tabu. Hunderte von Kindern und Zivilisten wurden getötet, ganze Häuserblocks sind verschwunden, Fabrikanlagen zerbombt; Infrastruktur und Gewächshäuser sind kaputt. In Wohnungen, die von Soldaten besetzt waren, fanden Bewohner später Zettel, auf denen »fuck the arabs« zu lesen war. Nun sind die Menschen wieder auf der Straße, Schulen und Geschäfte wurden geöffnet. Doch der Schock über das Erlebte steht den meisten noch im Gesicht. Verängstigt und abwesend sind die Blicke.

»Sie haben unsere Würde zerstört und versucht, uns die Hoffnung auf die Zukunft zu nehmen«, stellt Ahmad Abu Tawahina fest. Das sei kein Krieg gewesen, ist der Psychiater überzeugt, sondern ein Rachefeldzug von Israel gegen das palästinensische Volk.

Abu Tawahina ist um die 50 und sagt, nie zuvor habe es eine Operation gegeben, der die Menschen so hilflos ausgeliefert waren. »Es war wie bei einer Naturkatastrophe: Niemand konnte sich in Sicherheit bringen, niemand blieb verschont. Die Bevölkerung wurde kollektiv bestraft und terrorisiert. Jeder Einzelne hier ist niedergeschlagen und traumatisiert.«

Selbst Krankenhäuser gerieten ins Visier der israelischen Soldaten. Am 15. Januar wurde das Al-Quds-Spital mit Granaten beschossen. Die von der Palästinensischen Roten Halbmond-Gesellschaft geführte Klinik ist stehen geblieben, ist aber völlig ausgebrannt.

Auch Universitäten blieben nicht verschont

Der Beschuss sei völlig unerwartet gekommen, erzählt der medizinische Direktor Waleed Abu Ramadan. »Warum? Ich weiß es nicht. Ich glaube, wir waren ein zufälliges Ziel. Alle Gebäude in der Gegend wurden beschossen. Als das Feuer ausbrach, haben wir alle 40 Patienten evakuiert. Wir mussten die Kranken und Verletzten 700 Meter zu Fuß wegtragen.«

Auch vier Ambulanzen wurden zerstört. Israel hatte immer wieder behauptet, in angegriffenen Krankenwagen seien Kämpfer oder Waffen transportiert worden. Abu Ramadan sagt, das stimme nicht, dafür gebe er sein Wort.

Auch Universitäten blieben nicht verschont. In der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Technologie im Stadtteil Tel al-Hawa in Gaza-Stadt etwa schlugen mehrere Granaten und Raketen ein. Die Verwaltung schätzt den entstandenen Sachschaden auf etwa 700 000 Dollar.

Völlig zerstört wurde die eben erst eröffnete Abteilung für Multi-Media-Studien. Ihr Leiter, Alaa Abu Saman, hatte große Pläne damit. Hier sollten junge Menschen für die Produktion von Trickfilmen und Computer-Spielen ausgebildet werden. Wir werden viel Geld und Zeit brauchen

»Für uns gäbe es in der arabischen Welt eine Marktlücke«, glaubt Abu Saman, »und via Internet können wir trotz der Abriegelung arbeiten. Nun ist das ganze Projekt einfach ausgelöscht.« Dann fügt er hinzu: »Aber wir werden es wieder aufbauen. Die Israelis haben versucht, uns mit der Blockade politisch und wirtschaftlich zu zerstören. Es ist ihnen nicht gelungen. Jetzt haben sie es mit ihrer Armee versucht. Auch das ist ihnen nicht gelungen.«

Weiter südlich, im Zeituna-Viertel von Gaza-Stadt, stand eine der wenigen Fabriken, die auch während der Blockade nie ganz aufgehört haben zu arbeiten. Seit drei Generationen produziert die Star-Fabrik Fruchtsäfte. Während der Gaza-Operation wurde sie viermal bombardiert. Auf 20 000 Quadratmetern liegen nun nur noch Trümmer. Bashir Murtaga ist um die 60 und einer der Mitbesitzer. »Es wird viel Geld und Zeit brauchen, das wieder aufzubauen«, sagt er und lächelt verlegen. Er sei Geschäftsmann. Politik habe ihn nie interessiert, fügt er noch an.

Im Norden des Gaza-Streifens, im Viertel Abed Rabbo, wurden in einer Industriezone Dutzende von Fabriken zerstört; unter anderem mehrere Zementfabriken, die für den Wiederaufbau von Gaza zentral wären. In diesem Quartier lebte auch Rafat Abu Namus mit seiner Familie. Insgesamt sechs Familien, 52 Personen, wohnten in einem dreistöckigen Haus. Weil das Haus am Rand der Stadt unweit der israelischen Grenze liegt, kam es hier zu heftigen Kämpfen. Alle Bewohner waren zu Verwandten und Bekannten geflüchtet. Erst als Rafat nach der Waffenruhe zurückkam, sah er sein Haus in Trümmern.

Seinen fünf Kindern hat Rafat noch immer nicht gesagt, dass sie kein Zuhause mehr haben. »Ich schaffe es nicht«, sagt er, dann versagt seine Stimme, und er wendet sich ab.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Februar 2009


Umdenken tut not

Von Roland Etzel **

Sie schießen wieder, die Hamas-Palästinenser und die israelische Armee. Kassam gegen F-16. Beides macht nur Sinn in der aus unterschiedlichen Gründen sehr angreifbaren Logik des eigenen Selbstverständnisses. Die israelische Regierung tut weiterhin so, als würden ihre Luftangriffe, die Premier Olmert selbst als unverhältnismäßig bezeichnet, reine Selbstverteidigung sein. Die andauernde Abriegelung des Gaza-Streifens wird mit hartnäckigster Ignoranz weiter aufrechterhalten und als selbstverständliches Recht in Anspruch genommen. Doch die Zahl derer in der Welt, die hier ein Umdenken erwarten, wächst.

Auch die Hamas präsentiert sich in tragisch zu nennender Kontinuität. Unübersehbar mangelt es ihr weiterhin nicht an opferbereiten Desperados, wohl aber an strategischen Köpfen. Der Bau neuer Schmuggeltunnel wird die verzweifelte Lage der Zivilbevölkerung im »größten Freiluftgefängnis der Welt« (so der türkische Premier Erdogan) nicht verbessern. Die militärstrategisch gesehen lächerlichen Raketenangriffe der Hamas sind Israels Hardlinern willkommener Vorwand, jegliche Gespräche mit der Hamas zu verweigern.

Dabei gibt es für die Palästinenser gerade jetzt verbesserte Chancen auf diplomatischem Parkett: wegen der gewachsenen Sympathiewerte in vielen Staaten der Welt; wegen des Amoklaufs der Israelis, der auch vor Krankenhäusern und UNO-Schulen nicht halt machte; wegen der politischen Neujustierung in Washington nach acht Jahren Bush-Ignoranz ... Wenn die Hamas dies erkennt, kann sie am grünen Tisch mehr für ihr Volk erreichen als mit weiteren 1000 Kassam-Raketen.

** Aus: Neues Deutschland, 4. Februar 2009 (Kommentar)



Sie verletzen auch israelisches Recht

Die "Siedler" – ein großes Friedenshindernis

Von Sybille Oetliker, Ofra ***


Ein in Auszügen publizierter Geheimbericht des israelischen Verteidigungsministeriums zeigt, dass Israel jahrelang illegales Bauen in israelischen Siedlungen im besetzten palästinensischen Gebiet toleriert hat. Die Siedler wollen davon nichts wissen.

Sie gelten als eines der großen Hindernisse für einen Frieden im Nahen Osten: die stetig wachsenden israelischen Siedlungen im Westjordanland. Fast 300 000 Israelis leben heute allein in über 100 Siedlungen im besetzten palästinensischen Gebiet. Nach internationalem Recht sind diese illegal. Ein Ende letzter Woche in Auszügen bekannt gemachter Geheimbericht des israelischen Verteidigungsministeriums deckt nun auf, dass der Siedlungsbau oft auch gegen nationales Recht verstößt, ohne dass die israelische Regierung interveniert.

Die Studie wurde im Jahr 2004 von Baruch Spiegel, einem General der Reserve, erstellt. Spiegel dokumentiert eine Vielzahl von Rechtsverletzungen in Siedlungen: Gebäude – Privathäuser, aber auch Schulen oder Synagogen – werden ohne Baubewilligung gebaut, Raumplanungsvorschriften missachtet, oder es wird illegal auf palästinensischem Privatland gebaut.

Zum Beispiel in Ofra. Laut dem Bericht wurde diese Siedlung 15 Kilometer nördlich von Jerusalem zu mehr als 90 Prozent auf palästinensischem Privatbesitz und ohne Bauplan errichtet. In dem 1975 gegründeten Ort leben heute etwa 2700 Personen, darunter Protagonisten der Siedlerbewegung.

Sie wohne seit 27 Jahren an »diesem wunderbaren Ort, der den Juden gehört«, erzählt Aliza Herbst. Damals kam sie mit ihrem Mann aus den USA. Sie hätten alle nötigen Papiere, sagt sie. Dass Ofra weitgehend illegal auf palästinensischem Boden gebaut wurde, will sie nicht gewusst haben und sie stellt die Fakten im Spiegel-Bericht in Frage. »Glauben Sie, dass jemand, dessen Land genommen wurde, sich mehr als 25 Jahre nicht wehrt?«, fragt sie.

Pinchas Wallenstein, Direktor der Siedlerorganisation Yesha Council, gehört zu den ersten, die sich – mit ausdrücklicher Genehmigung des damaligen Verteidigungsministers und heutigen israelischen Präsidenten Shimon Peres, wie er betont – in Ofra angesiedelt haben. Es sei für ihn ein Traum und eine Mission gewesen, sich in Judäa oder Samaria, wie er das Westjordanland nennt, niederzulassen. »Wir haben nichts versteckt gemacht«, stellt er klar.

Auch Rabbi Abraham Gisser, der ebenfalls seit fast 30 Jahren in Ofra lebt, besteht darauf, sein Haus legal erstanden zu haben und zwar mit Unterstützung der Regierung und der Jewish Agency. Und wer glaube, es sei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen, solle doch vor Gericht gehen ...

*** Aus: Neues Deutschland, 4. Februar 2009


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