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Ärztliche Untersuchungskommission bestätigt Menschenrechtsverletzungen im Gaza-Krieg

44 erschütternde Zeugenaussagen von Zivilpersonen und medizinischem Personal

Von Karin Leukefeld *

Eine Kommission von fünf unabhängigen Experten aus Dänemark, Deutschland, Spanien und Südafrika bestätigt Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte während der israelischen Offensive im Gazastreifen. Der Bericht von Experten der Rechtsmedizin, Brandverletzungen und Katastrophenmedizin wurde am Montag parallel in Brüssel und Jerusalem der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Fachleute waren einem Aufruf der israelischen Organisation Ärzte für Menschenrechte (Physicians for Human Rights, PHR-Israel) und der Palästinensischen Medizinischen Gesellschaft für Hilfe (PMRS) gefolgt und hatten unmittelbar nach dem Ende der Offensive die medizinischen Folgen für die Bevölkerung im Gazastreifen untersucht. Die Kommission berichtete von einer verzögerten oder verhinderten medizinischen Versorgung von Verwundeten, Angriffen auf Rettungskräfte während ihres Einsatzes und auf medizinische Einrichtungen, sowie über Angriffe auf Zivilpersonen, auch während einer Waffenruhe. Israelische Soldaten hätten trotz unmittelbarer Nähe zu Schwerverletzten medizinische Nothilfe weder zugelassen noch hätten sie selber geholfen, teilweise hätten sie sogar aus unmittelbarer Nähe auf Zivilpersonen geschossen.

44 Zeugenaussagen von Zivilpersonen und medizinischem Personal sind in dem Bericht dokumentiert, darunter die Geschichte von Muhammad Shurrab (64), der während einer offiziellen Waffenpause seine zwei Söhne Qassab (28) und Ibrahim (18) mit dem Wagen nach Hause bringen wollte, nachdem sie ihm geholfen hatten, seine Satellitenschüssel zu reparieren. Es war kurz nach Mittag, als israelische Soldaten aus einer Entfernung von etwa 40 Metern das Feuer auf den Wagen eröffneten und mit 22 Schüssen die Frontscheibe durchsiebten. Shurrab wurde an der Schulter verletzt, sein Sohn Qassab wurde getötet. Sein Sohn Ibrahim verblutete Stunden später an einem Beinschuss, weil die israelischen Soldaten die Durchfahrt eines Rettungswagens, den Muhammad Shurrab per Mobiltelefon verständigen konnte, verweigert hatten. Erst 23 Stunden nach dem Angriff, am nächsten Morgen um 11.00 Uhr, erreichte der Rettungswagen den Ort des Geschehens.

Der Bericht bestätige die „Befürchtungen über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen“, sagte der Arzt Ralf Syring, der im Auftrag der Frankfurter Hilfsorganisation medico international an der Untersuchung teilgenommen hatte. Das „Töten von Zivilisten oder Verletzten, Folter, unmenschliche Behandlung, direkte Angriffe auf die Zivilbevölkerung, ausgedehnte Zerstörung von Eigentum, Verweigerung medizinischer Versorgung sind grundlegende Elemente von Kriegsverbrechen gemäß der Vierten Genfer Konvention (Art. 85, 147)“, schreibt die Expertin für humanitäres Völkerrecht Magali Jandaud (Paris) in einer juristischen Analyse, die dem Bericht beigefügt ist. Unterzeichnerstaaten seien nicht nur verpflichtet, die Konvention einzuhalten sondern müssten auch Verletzungen der Konvention strafrechtlich verfolgen.

Neben medico international unterstützte auch der Evangelische Entwicklungsdienst Deutschland (EED) die Arbeit der Kommission. Beide Organisationen arbeiten seit langem mit israelischen und palästinensischen Partnerorganisationen. Die Europäische Union müsse eine unabhängige Untersuchung aller Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte während der Gazaoffensive durch alle Konfliktparteien unterstützten, fordern medico international und der EED. Die Abriegelung des Gaza-Streifens durch Israel müsse umgehend aufgehoben werden, um den Wiederaufbau zu ermöglichen.

Vollständiger Bericht: www.medico.de

* Dieser Artikel erschien - gekürzt - in der "jungen Welt" vom 7. April 2009 unter dem Titel "Kriegsverbrechen in Gaza"

Kurzfassung des Berichts

Eine unabhängige ärztliche Untersuchungskommission hat Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte während der israelischen Offensive im Gaza-Streifen bestätigt.

In ihrem in Brüssel vorgelegten Bericht liefern fünf internationale Experten aus den Bereichen Rechtsmedizin, Brandwunden, medizinische Krisenreaktion und öffentliches Gesundheitswesen Belege und Detailinformationen über:
  • den Einsatz von Waffen unbekannten Typs in Wohngebieten.
  • Schäden an Gesundheitseinrichtungen und die langfristigen Folgen für die Gesundheitsversorgung.
  • Verzögerte oder verhinderte medizinische Versorgung von Verwundeten.
  • Angriffe auf Rettungskräfte während ihres Einsatzes.
  • Angriffe auf medizinische Einrichtungen.
  • Verletzungsarten.
  • Angriffe auf Zivilisten, z.T. während der Waffenruhe.
Die fünf medizinischen Fachleute aus Deutschland, Dänemark, Südafrika und Spanien folgten einem gemeinsamen Aufruf der beiden Partnerorganisationen des Evangelischen Entwicklungsdienstes und von medico international, den Physicians for Human Rights-Israel (PHR-Israel) und der Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Sie reisten vom 29. Januar bis 5. Februar in den Gaza-Streifen um die medizinischen Aspekte und die Auswirkungen der Militäroffensive auf die Gesundheitssituation zu untersuchen. Im Auftrag der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international nahm der deutsche Arzt Dr. Ralf Syring an dieser Mission teil.

Der Bericht dokumentiert 44 erschütternde Zeugenaussagen von Zivilpersonen und medizinischem Personal. Er bestätigt die Befürchtungen über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und unterstreicht die Notwendigkeit von weiteren Ermittlungen. Eine juristische Analyse von Frau Magali Jandaud, Expertin für humanitäres Völkerrecht an der Universität Paris VII, ist dem Bericht beigefügt.

Besonders erschütternd war für das fünfköpfige Team "von Einzelfällen zu hören, in denen sich Soldaten über einen beachtlichen Zeitraum in Sicht-, Hör- und Sprechweite ihrer Opfer befanden, aber trotz der Möglichkeit der 'Humanisierung' verletzten Personen den Zugang zu lebensrettenden Maßnahmen verwehrten oder sogar aus kurzer Distanz auf Zivilpersonen schossen".

Gemeinsam mit seinen israelischen und palästinensischen Partnerorganisationen PHR-Israel und PMRS fordert medico international deshalb:
  • die Unterstützung der Europäischen Union für eine internationale Untersuchungskommission zur Aufklärung von Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte während der israelischen Offensive im Gaza-Streifen.
  • die volle Kooperation der lokalen Behörden.
  • das Ende der Abriegelung des Gaza-Streifens um den Wiederaufbau zu ermöglichen.
Quelle: Website von medico international: www.medico.de

Vollständiger Bericht: www.medico.de




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