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"Das alles war ein einziges Kriegsverbrechen"

Israel zerstörte in Gaza 361 Fabriken und 25000 Wohnungen. Material für den Wiederaufbau wird nicht durchgelassen. Ein Gespräch mit Mustafa Barghouti

Der Arzt Mustafa Bar­ghouti (55) lebt und arbeitet in Ramallah. Von März bis Mai 2007 war er Informationsminister in der Regierung der nationalen Einheit unter Ministerpräsident Ismail Hanijeh



Sie sind gerade aus dem Gazastreifen zurückgekommen, was haben Sie dort gesehen?

Eine Verwüstung, wie es sie in dieser Region noch nie gegeben hat. Hier wurde das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt angegriffen, mit schweren Bomben, F-16-Kampfjets und Panzern. Zum Beispiel das Beach Camp, wo 78000 Menschen auf einem Quadratkilometer leben. Oder das Dschabalija Camp, wo mehr als 72000 Menschen auf einem Quadratkilometer leben. 25 Familien wurden komplett ausgelöscht – wie etwa die Balouscha-Familie, deren fünf Töchter getötet wurden: vier, acht, zwölf, 14 und 17 Jahre alt. Ich habe Berichte darüber, daß Menschen gezielt exekutiert wurden, z.B. Ijad Zamouni, ein 24jähriger Mann, den ein israelischer Soldat ins Bein geschossen hatte. Er lag blutend am Boden und rief um Hilfe. Als seine Frau ihm helfen wollte, schossen die Soldaten auf sie. Er selbst versuchte, an einen sicheren Platz zu kriechen, doch die Soldaten fesselten ihn an Händen und Füßen und begannen, auf seine Beine Zielschießen zu üben, bis er tot war. Das ist nur einer von vielen Fällen.

Was machen Sie mit diesen Informationen?

Wir werden alles dokumentieren. Es muß eine internationale Menschenrechtskommission eingesetzt werden. Meiner Ansicht nach war alles, was dort passiert ist, ein einziges Kriegsverbrechen. Es wurden nicht nur Menschen sadistisch getötet, auch der private Wirtschaftssektor wurde gezielt vernichtet. 361 Fabriken und Werkstätten wurden völlig zerstört. Die Armee jagte die Gebäude mit Dynamit in die Luft.

Was brauchen die Menschen in Gaza jetzt am dringendsten?

Die Blockade muß aufgehoben werden. 25000 Häuser wurden ganz oder teilweise zerstört, und es gibt nichts, womit sie wieder aufgebaut werden können. Stromversorgung, Wasserpumpen, die Kanalisation – alles muß repariert werden. Doch Israel läßt nichts durch, nicht einmal Glas für Fensterscheiben.

Gibt es dafür eine Begründung?

Israel bezeichnet es als »strategisches Material«, das zum Waffenbau eingesetzt werden könnte. Glas für den Bau von Waffen! Israel meint, es stehe über dem internationalen Recht. An dieser Haltung ist auch die internationale Gemeinschaft schuld – auch Deutschland! Sie alle sind Komplizen von Israel. Gut, Deutschland verhält sich vielleicht so wegen der bekannten Schuldgefühle, aber hier gibt es einen Staat, der uns alle unterdrückt und furchtbare Verbrechen verübt.

Die EU will ihre Hilfe in Gaza nur über die Palästinensische Autonomiebehörde verteilen, nicht durch die Hamas ...

Es gibt keine Autonomiebehörde in Gaza. Das ist nur eine andere Art zu sagen, wir wollen Gaza nicht helfen. Gegeben wird nur, was Israel akzeptiert.

Die EU drängt die Palästinenser zur Einheit, sehen Sie eine Chance für eine Vereinbarung zwischen Fatah und Hamas in der nahen Zukunft?

Ich möchte daran erinnern, daß wir eine Regierung der nationalen Einheit hatten. Es war eine gute Regierung mit einem moderaten Programm. Aber Israel lehnte sie ab, und sie wurde von der internationalen Gemeinschaft boykottiert, bis sie auseinanderbrach. Der Schlüssel zu unserer nationalen Einheit ist, daß wir demokratische Wahlen durchführen können und selber unsere Führer wählen.

Sehen Sie noch eine Chance für die Zweistaatenlösung?

Mein Herz möchte sie so schnell wie möglich, damit das Leid für uns und für sie und für alle möglichst bald endet. Aber mein Verstand sagt mir, daß es unmöglich ist. Wie kann es eine Zweistaatenlösung geben mit den israelischen Siedlungen? Israel tötet die Zweistaatenlösung. Das Gerede darüber ist nicht mehr als eine PR-Show und die europäischen Regierungen wissen das auch.

Mahmud Abbas hat Europa aufgefordert, Friedenstruppen zu schicken, was halten Sie davon?

Israel lehnt die Anwesenheit internationaler Truppen total ab. Wir könnten darüber sprechen, wenn Ostjerusalem, die Westbank und Gaza geschützt würden, aber wenn es nur um Gaza geht, ist das unakzeptabel. Vermutlich würde Israel es ohnehin ablehnen. Ich halte das für unrealistisch.

Interview: Karin Leukefeld

* Aus: junge Welt, 7. Februar 2009


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