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Gaza: Bodenkrieg und Bombenterror

USA verhindern Sicherheitsratsforderung nach sofortiger Waffenruhe / Proteste auch in Israel

Die israelische Bodenoffensive im Gaza-Streifen ist am Sonntag (4. Januar) von etlichen Regierungen kritisiert worden, wobei im Gegenzug in der Regel eine parallele Schuldzuweisung an die Hamas erfolgte. Mehr als 100 000 Menschen in aller Welt protestierten gegen den israelischen Militäreinsatz.

Berlin (ND/Agenturen). In einer fast vierstündigen Sondersitzung des UNO-Sicherheitsrates blockierten die USA eine Erklärung, die zu einer sofortigen Waffenruhe auffordern sollte. Der US-amerikanische UNO-Botschafter Alejandro Wolff beschuldigte die palästinensische Hamas der Aggression. »Israels Recht zur Selbstverteidigung ist nicht verhandelbar«, sagte er. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon verlangte dagegen ein sofortiges Ende der israelischen Bodenoffensive und forderte die Regierung in Jerusalem auf, alles zum Schutz der Zivilbevölkerung zu tun.

Das US-Verteidigungsministerium war vorab über den Beginn der israelischen Bodenoffensive im Gaza-Streifen informiert. Das berichtete der Fernsehsender CNN am Sonntag (4. Jan.) unter Berufung auf Mitarbeiter des Pentagons. Ein Sprecher des Weißen Hauses, Gordon Johndroe, hatte zuvor erklärt, die US-Regierung stehe in ständigem Kontakt mit Israel.

Der Sprecher der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft, Jiri Potuznik, entschuldigte sich unterdessen dafür, im Zusammenhang mit dem Vormarsch israelischer Bodentruppen den Begriff »Selbstverteidigung« benutzt zu haben. In einer Stellungnahme der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft vom Sonntag hieß es weiter: »Selbst das unumstrittene Recht eines Staats, sich selbst zu verteidigen, erlaubt nicht Aktionen, die großteils Zivilisten betreffen.« Allerdings wies auch Tschechiens Außenminister Karel Schwarzenberg unmittelbar vor EU-Vermittlungsgesprächen in Nahost erneut der Hamas die Verantwortung zu. »Die Hamas hat die Katastrophe provoziert, sie trägt wirklich die Schuld.«

Wolfgang Gehrcke, Obmann der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, erklärte, Israel führe einen »Krieg, vor dem die Bevölkerung von Gaza nicht fliehen und vor dem sie sich nicht schützen kann. Sie kann nur dringend und inständig die Welt zu Hilfe rufen.« Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy sei »mutig genug, mit der Aufforderung nach einer Feuerpause nach Israel zu reisen. Diesen Mut bringt die deutsche Regierung nicht auf«, so Gehrcke. Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Steinmeier seien »glatte Ausfälle bei der Vermittlung im Nahen Osten«.

Mit dem Beginn der israelischen Bodenoffensive hat sich die Lage im Gaza-Streifen dramatisch zugespitzt: Israelische Truppen rückten nach einwöchigen Luftangriffen am Samstagabend (3. Jan.) tief in das Palästinensergebiet vor. Sie nahmen Gebiete unter Kontrolle, aus denen zuvor Raketen auf Israel abgefeuert wurden. Am Sonntag (4. Jan.) gelang es den Einheiten nach palästinensischen und israelischen Berichten, den Landstrich in eine nördliche und südliche Hälfte zu teilen.

Seit Beginn der israelischen Militäroffensive im Gaza-Streifen sind mindestens 500 Palästinenser getötet, rund 2500 weitere Menschen seien verletzt worden, teilte der Chef des palästinensischen Rettungsdienstes, Muawija Hassanein, am Sonntag mit. Unter den Toten seien 87 Kinder.

Derweil wächst nicht nur weltweit, sondern auch in Israel selbst der Widerstand gegen den Kurs der Regierung. Zehntausende meist israelische Araber protestierten in der Stadt Sachnin im Norden Israels gegen die Militäroperation im Gaza-Streifen. Israelische Medien sprachen von den größten Protesten israelischer Araber seit Jahren. Die Veranstaltung begann mit einer Schweigeminute für die Opfer der seit über einer Woche laufenden Offensive im Gaza-Streifen. Unter den Teilnehmern waren zahlreiche arabische Abgeordnete des israelischen Parlaments. Bei einer Ansprache forderte ein Parlamentarier der arabischen Balad-Partei, die israelische Führung solle wegen »Kriegsverbrechen in Gaza« vor ein internationales Gericht gestellt werden. Weitere Kundgebungen gab es in Tel Aviv und Haifa.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Januar 2009


UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon:

Erklärung zur Krise im Gaza-Streifen

Montag, 05. Januar 2009

NEW YORK / Vereinte Nationen -- Angesichts der sich verschärfenden Krise im Gaza-Streifen habe ich meinen Sonderkoordinator für den Nahost-Friedensprozess, Robert Serry, aufgefordert, mich in New York über die Lage vor Ort und die gegenwärtig laufenden diplomatischen Bemühungen zu informieren. Ich haben auch ein Treffen meiner wichtigsten Berater einberufen, um für alle Bereiche der Krise Lösungen zu finden.

Ich bin überzeugt, dass die Vereinten Nationen -- und besonders der Sicherheitsrat -- eine zentrale Rolle dabei spielen müssen, den Konflikt rasch zu beenden. Ich bedauere, dass sich der Sicherheitsrat nicht einigen konnte, um die Gewalt zu stoppen. Ich werde aktiv mit den Ratsmitgliedern und allen anderen Beteiligten zusammenarbeiten -- vor allem mit denjenigen aus der arabischen Welt, die ich heute (5. Januar) am Hauptsitz der Vereinten Nationen treffen werde, um eine Einigung zu finden.

Ich bleibe zutiefst besorgt über die sich verschlechternde humanitäre Lage vor Ort. Wir sind in engem Kontakt mit den israelischen Behörden, um sie dazu zu bewegen, den Übergang Kerem Shalom, aber auch Karni, Nahd und Oz zu öffnen, damit Getreide, Treibstoff für das Kraftwerk und andere wichtige Versorgungsgüter in das Gebiet transportiert werden können.

Wir stehen an einem Scheideweg, was die Suche nach einem Waffenstillstand betrifft. Ich fordere alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft auf, Einigkeit und Pflichtgefühl zu zeigen, damit diese eskalierende Krise beendet werden kann.

Quelle: Deutschsprachige UN-Website, 5. Januar 2009 (UNRIC/268); www.unric.org



"Gegossenes Blei«: Israel kann (vielleicht) militärisch siegen, die Hamas (vielleicht) medial

Die neue Offensive lässt Angreifern wie Verteidigern keine Wahl - büßen muss die Bevölkerung

Von René Heilig **


Der neue Waffengang, »Gegossenes Blei« genannt, kann zwei »Gewinner« haben, doch nur einen Verlierer: die Bevölkerung im Gaza-Streifen.

»Gegossenes Blei«. Der Codename für Israels Militäroperation erinnert in europäischen Breiten an das traditionelle Orakelgießen. Wer das bemüht, sucht nach Schicksalhaftem und der »Wahrheit« kommender Zeiten. Was immer von dem Klumpen Schwermetall nach plötzlicher Hitze und eisiger Abschreckung übrig bleibt, bietet die Gestalt zu verschiedensten Deutungen.

»Wir sind nicht kriegshungrig, aber wir dürfen und werden keine Situation dulden, in der unsere Städte, Dörfer und Zivilisten ständig von der Hamas angegriffen werden«, sagt der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak. Einer seiner ranghohen Militärs ergänzt aus taktischer Sicht: Der Bodeneinsatz, der den Luftschlägen der vergangenen Woche folgt, werde »nicht in Stunden oder Tagen enden«. Die radikal-islamische Hamas habe sich, so sagt das Militär, während der sechsmonatigen Waffenruhe mit Israel sehr gut auf einen Angriff am Boden vorbereitet. Es gebe für die eigenen Truppen »viele Hindernisse auf dem Boden und im Untergrund«.

Die Hamas - so hat Israels Armee gelernt - ist in Top-Form. Gedrillt nach den Erfahrungen der Hisbollah in Libanon und den Kämpfern in Afghanistan oder Irak. Wer eine solche nicht als klare Struktur erkennbare Truppe angreift - und sei es zur Selbstverteidigung -, muss wissen, dass ein harter, weil asymmetrischer Kampf bevorsteht.

Da nutzt es wenig, wenn man - wie Israel - über 133 000 rekrutierte Soldaten, dazu zehntausende Reservisten, 3860 Kampfpanzer, 6750 eroberte und umgebaute Transportpanzer sowie fast 500 Kampfjets verfügt. Israels militärische Strategie ist seit Jahrzehnten simpel: Nur keinen Krieg verlieren! Ohne ausländische Hilfe wäre das vermutlich das Ende des gesamten Staates. Also wird das gesellschaftliche Leben einem einzigen Grundsatz untergeordnet: Terrorismusbekämpfung mit möglichst geringem eigenen Einsatz. Und mit minimalen Verlusten.

Doch das Diktat des Handels hält auch diesmal nicht der mit Kampfjets und Panzern Grenzen überschreitende Angreifer, sondern die andere Seite in der Hand. So fanatisch die Hamas auch in manchen Bildberichten erscheinen mag, so militärisch geschult sind ihre einzeln operierenden, doch vernetzten Gruppen. Sie wissen, wie man Hinterhalte so legt, dass die Angreifer die Zivilbevölkerung treffen. Und das bietet die Bilder, die in unserer auch medial globalisierten Welt -- und zwar nicht nur in der islamischen geprägten -- Wirkung zeigen.

Israels Angriff, der fortgesetzten Raketenangriffen aus dem Gaza-Streifen folgt, ist keinesfalls ein regional begrenzter Konflikt. Was losgetreten wurde, wird -- auch sicherheitsstrategisch -- ein Echo rund um den Erdball haben.

Eine Wiedereroberung des Gaza-Streifens sei nicht geplant, betonten israelische Militärs. Es solle lediglich die Hamas-Infrastruktur »so hart wie möglich« getroffen werden. Diese Vorstellung ist fern der Realitäten. Denn Hamas hat ein sehr weites Hinterland, das weit über Iran hinausreicht. Teheran, so kann man hoffen, ist -- auch angesichts der nahenden neuen US-Präsidentschaft -- derzeit um seine eigene Sicherheit so bemüht, dass es an einer übermäßigen Eskalation der Kämpfe in Gaza nicht interessiert ist. Doch ob das die Hamas interessiert? »Wir gewinnen oder verlieren«, sagt einer ihrer Sprecher und hofft, zumindest medial auf der Straße der Sieger zu sein.

** Aus: Neues Deutschland, 5. Januar 2009


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