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Zerstörtes Leben

Gazastreifen seit fünf Jahren von Israel blockiert. Hamas und Fatah streiten über Premier

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek, hat am Montag im Zuge eines Besuchs des Gazastreifens die sofortige Beendigung der israelischen Blockade gefordert. »Nach allem, was ich gesehen habe, ist ein Ende der Belagerung von Gaza von höchster Dringlichkeit«, sagte Buzek. Unter den derzeitigen Bedingungen sei es für die Bewohner des Gazastreifens unmöglich, ihre Situa­tion zu verbessern.

Seit genau fünf Jahren wird der palästinensische Gazastreifen nun bereits von Israel blockiert. Am 14. Juni 2006 riegelten israelische Truppen den Küstenstreifen ab, nachdem palästinensische Militante den israelischen Soldaten Gilad Shalit gefangen genommen hatten. Als Vergeltung für die Festnahme Shalits überfiel die israelische Armee Büros und Wohnungen in der West Bank und entführte acht Minister der Hamas und 21 palästinensische Abgeordnete. Die Hamas forderte für die Rückgabe des Soldaten Shalit die Freilassung von 1000 der insgesamt rund 10000 Palästinenser, die von Israel gefangengehalten werden. Israel verschärfte die Blockade des Gaza­streifens, die sie auch auf die palästinensischen Küstengewässer ausdehnte. Fischer aus Gaza dürfen nur noch bis zu drei Seemeilen vor ihrer Küste fischen, nach internationalem Seerecht umfassen nationale Küstengewässer 20 Seemeilen. Die Fischindustrie ist schon lange zerstört, heute reicht der Fang nicht einmal mehr für die Eigenversorgung.

Die Blockade bestrafe »einige der Ärmsten der Armen im Mittleren Osten«, sagte Chris Gunnes, Sprecher von UNWRA, der UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge, zu dem zweifelhaften Jahrestag. Zwei Drittel der 1,5 Millionen Einwohner des Gazastreifens sind Flüchtlinge nach verschiedenen Eroberungsfeldzügen der israelischen Besatzer. Die Zahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze von 1,5 US-Dollar pro Tag leben, hat sich seit Beginn der Belagerung verdreifacht. »Die Logik einer von Menschen gemachten Politik, die absichtlich so viele in Armut stürzt«, sei schwer verständlich, so Gunnes. Die offizielle Arbeitslosenrate lag in der zweiten Jahreshälfte 2010 in Gaza bei 42,5 Prozent, die Löhne fielen seit Anfang 2006 um 34,5 Prozent. Private Unternehmen hätten allein 2010 mehr als 8000 Arbeitsplätze gestrichen.

Während die westlichen Bündnispartner Israels die völkerrechtswidrige Abriegelung des Gazastreifens weitgehend unwidersprochen hinnahmen, verhallten Proteste der Palästinenser, von Hilfsorganisationen und der UNWRA weitgehend ungehört. Israel forcierte seine Denunziation der UNO, Gelder blieben aus und UNO-Projekte wurden behindert. Die Organisation wurde mehrfach selbst Ziel israelischer Angriffe, so während des Libanon-Krieges 2006 und noch einmal im Zuge der Operation »Gegossenes Blei« zwei Jahre später. Gegen den vom UN-Menschenrechtsrat in Auftrag gegebenen Bericht über den Gaza-Krieg mobilisierte Israel alle diplomatischen Kräfte. Letztes Opfer dieser Kampagne war der Leiter der Untersuchungskommission, Richard Goldstone, selbst, der kürzlich Schlußfolgerungen des Berichts in Frage stellte. Seine drei Mitermittler widersprachen heftig.

Als Reaktion auf die Komplizenschaft westlicher Regierungen mit dem israelischen Besatzungsregime mobilisieren seit Jahren internationale Friedensaktivisten – darunter viele jüdische Bürger aus Israel und anderen Staaten – Delegationen, Projekte und Hilfskonvois in den Gazastreifen. Sechs Schiffe einer Gaza-Freiheitsflotte wurden im Mai 2010 von israelischen Sonderkommandos in internationalen Gewässern angegriffen, neun Aktivisten an Bord des Leitschiffes Mavi Marmara wurden ermordet. Mittlerweile ist eine zweite Flotte mit Hilfsgütern unterwegs.

Unter Vermittlung der ägyptischen Übergangsregierung versöhnten sich die verfeindeten palästinensischen Organisationen Fatah und Hamas Anfang April. Am Dienstag kamen sie in Kairo zusammen, um mit Verhandlungen über eine Regierung der nationalen Einheit zu beginnen, die Neuwahlen für April 2012 vorbereiten soll. Streit ist nun über den Posten des Ministerpräsidenten ausgebrochen. Die Fatah nominierte für den Posten den ehemaligen Ökonomen der Weltbank und bisherigen Ministerpräsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Salam Fayyad, der von den westlichen Geberländern der Palästinenser unterstützt wird. Hamassprecher Salah Al-Bardawil bezeichnete die Nominierung Fayyads hingegen als »Provokation«, mit der eine »rote Linie« überschritten werde. Nicht nur die Hamas wirft Fay­yad vor, in den letzten vier Jahren mit Israel gegen die palästinensische Opposition kollaboriert zu haben. Er wird für unzählige Festnahmen und Folter von Gefangenen in PA-Gefängnissen ebenso verantwortlich gemacht wie für die Anhäufung von Schulden durch die Autonomiebehörde.

* Aus: junge Welt, 15. Juni 2011


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