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Ende des Schweigens

Französisch-Polynesien will von Paris für Folgen von Atomtests fast eine Milliarde US-Dollar

Von Thomas Berger *

Jahrzehntelang haben die Einwohner Französisch-Polynesiens still gelitten. Damit soll jetzt Schluss sein: Das Parlament des autonomen Überseegebietes, das de facto zu Frankreich gehört, bereitet eine Resolution vor, mit der von Paris 930 Millionen US-Dollar (754 Millionen Euro) an Entschädigungszahlungen für die Folgen der zahlreichen Nukleartests gefordert werden soll. Der Vorstoß kommt von einem Komitee der konservativen Partei Tahoera'a Huiraatira und erfolgte ohne Konsultation des in einer ersten Reaktion überrascht wirkenden Inselpräsidenten Édouard Fritch, heißt es im Bericht der einheimischen Zeitung La Dépêche de Tahiti, den britische und neuseeländische Medien weiter verbreiteten.

In den Augen vieler Insulaner ist ein solcher Schritt längst überfällig. 30 Jahre - von den Anfängen 1966 bis zum offiziellen Teststopp 1996 - hat Frankreich auf den Inseln Mururoa und Fangataufa insgesamt 193 nukleare Explosionen gezündet, den Großteil des französischen Atomprogramms. Die 17 ergänzenden Tests, die in der Sahara vorgenommen wurden, fallen angesichts dessen kaum ins Gewicht.

Das Gebiet schien ideal: Dünn besiedelt, abgelegen und damit auch fernab von den kritischen Blicken einer europäischen Öffentlichkeit. Doch Polynesien trägt schwer an der Last dieser Vergangenheit, über die man in Paris bis heute am liebsten den Mantel des Schweigens breiten würde.

Allein im Jahr 2006 bestätigte ein Team französischer Mediziner alle bisherigen Mutmaßungen: Die Krebsrate liegt bei der lokalen Bevölkerung weit über den globalen Durchschnittswerten. Zwar sind ehemalige militärische und zivile Mitarbeiter des Atomprogramms am stärksten betroffen, doch auch die nicht daran beteiligten Bürger haben unter den Nachwirkungen des radioaktiven Niederschlags zu leiden. Schon bei Tests am 17. Juli 1974 sollen die Bewohner der Hauptinsel Tahiti das 500fache dessen abbekommen haben, was als Grenzwert einer unbedenklichen Dosis gilt.

Französische Militärs und Politiker hatten immer wieder behauptet, die beiden für die Tests genutzten Inseln seien ausreichend entfernt. Dass dies nicht stimmte, zeigt sich an vielen Beispielen auf den 68 bewohnten der gut 120 Atolle. Sie sind immer wieder in Mitleidenschaft gezogen worden, was nun wenigstens teilweise amtlich nachweisbar ist: Seit Juli 2013 sind die Archive geöffnet und zahlreiche bislang streng unter Verschluss gehaltene Dokumente rund um die Testreihen deklassifiziert worden.

Die Verstrahlung der lokalen Bevölkerung und Umwelt, so stellte sich bei ersten Nachforschungen heraus, ist demnach deutlich höher als stets angenommen wurde. Zudem sind 114 der 2.050 offiziell zugänglichen Seiten noch immer geschwärzt. Welch grausige Enthüllungen da womöglich noch schlummern, ist derzeit nicht absehbar.

Frankreich ist allerdings nach wie vor bemüht, das unangenehme Thema totzuschweigen. Etliche Betroffene sind inzwischen gestorben. Für rund 4.500 einstige Mitarbeiter am Programm - viele von ihnen schwer krebskrank - ist die Vereinigung »Moruroa e Tatou« eine wichtige Interessenvertretung. Die Organisation hat das Thema der Kompensationszahlungen über die Jahre immer wieder angesprochen. Schließlich wurde 2010 ein Anspruch für die in Frage kommende Personengruppe vom französischen Staat auch prinzipiell anerkannt - aber gleich mit der Äußerung ergänzt, die Bearbeitung der Anträge könne sich lange hinziehen.

Laut Medienberichten haben bisher lediglich elf Betroffene Zahlungen erhalten. Dabei beläuft sich das gesamte Personal, das im Laufe der drei Jahrzehnte in Polynesien am Nuklearprogramm mitgewirkt hat, auf rund 127.000 Veteranen aus den Reihen der Armee sowie zivile Beschäftigte.

Als Konteradmiral Anne Cullere, Oberbefehlshabende der französischen Streitkräfte in Polynesien, im Februar bei einer Reise durch das Gebiet meinte, die Ehemaligen sollten doch stolz auf ihre Mitwirkung sein, wurde dies von etlichen Geschädigten als ein Höchstmaß an Zynismus kritisiert. Der Sprecher von »Moruroa e Tatou« machte die hohe Offizierin via Presse auf den Umstand aufmerksam, dass 85 Prozent der Mitglieder der Veteranenvereinigung an Krebs litten.

* Aus: junge Welt, Samstag, 29. November 2014


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