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Gegen deutsches Diktat

Angela Merkel isoliert sich mit Boykott des französischen Präsidentschaftskandidaten François Hollande zunehmend selbst

Von Tomasz Konicz *

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihre offene Einmischung in den französischen Präsidentschaftswahlkampf bis zum handfesten politischen Eklat gesteigert. Nur wenige Tage vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang griff Merkel den sozialistischen Herausforderer François Hollande in einem Interview ungewöhnlich scharf an, indem sie den maßgeblich von Berlin geformten EU-Fiskalpakt kategorisch als »nicht neu verhandelbar« deklarierte. Der aussichtsreiche sozialistische Präsidentschaftskandidat hat wiederholt erklärt, den mit drakonischen Sparauflagen einhergehenden Fiskalpakt im Fall eines Wahlsieges nicht zu ratifizieren und neu zu verhandeln.

Damit drohe Hollande »die Führungsrolle der Kanzlerin in Europa zu gefährden«, kommentierte Spiegel online. Der angegriffene Präsidentschaftsanwärter reagierte auf diese scharfen Töne aus Berlin umgehend in einem Radiointerview: »Es ist nicht Deutschland, das für die Gesamtheit Europas entscheiden wird.« Bei mehreren Gelegenheiten deutete Hollande bereits an, daß viele Regierungen in der Euro-Zone den Wahlausgang in Frankreich abwarten würden, um im Falle seiner Wahl die Aufweichung des deutschen Spardiktats zu fordern. Der derzeitige Amtsinhaber Nicolas Sarkozy gilt hingegen als verläßlicher Juniorpartner der Kanzlerin.

Unklar ist indes, welche Regierungen der Sozialist da im Sinn hat, denn bislang machte vor allem ein von Merkel organisierter Regierungsboykott des französischen Präsidentschaftskandidaten Schlagzeilen. Die Beeinflussungsversuche des französischen Wahlkampfs seitens der deutschen Regierungschefin begannen schon im vergangenen März, als diese die konservativen Regierungschefs von Italien, Spanien und Großbritannien überredete, Hollande nicht im Rahmen einer offiziellen Visite zu empfangen. Die Besuche des französischen Präsidentschaftskandidaten bei den Regierungschefs der Nachbarländer stellen für gewöhnlich eine diplomatische Selbstverständlichkeit dar. In etlichen gemeinsamen Auftritten hat Merkel zudem offen Stellung für den konservativen Amtsinhaber bezogen, wobei die interventionsfreudige Kanzlerin Ende März sogar regelrecht »verärgert« gewesen sein soll, als Sarkozy aufgrund der zunehmenden Bedenken in seinem Umfeld die gemeinsamen Wahlkampfauftritte mit Merkel absagte. Die letzte Schützenhilfe leistete die Kanzlerin ihrem gern am rechten Rand fischenden Wunschpräsidenten Sarkozy kurz vor dem ersten Wahlgang, als Berlin und Paris einmütig erklärten, eventuell wieder Grenzkontrollen einzuführen.

Dabei ist das Scheitern der deutschen Strategie, die auf eine frühzeitige Isolierung Hollandes abzielte, bereits erkennbar. Statt dessen droht nun Merkel in die europäische Isolation zu geraten. Der italienische Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, wartete nicht einmal den Wahlausgang ab und mahnte schon am 25. April die Umsetzung eines kreditfinanzierten »Wachstumspakts« an, wie ihn auch Hollande fordert. Ähnlich äußerte sich EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso: »Wachstum ist die Antwort.« Harsche Kritik an dem deutschen Spardiktat übte auch der spanische Außenminister José Manuel García-Margallo, der in einem Interview am 27. April Berlin daran erinnerte, daß Deutschland mehr als 50 Prozent seiner Waren in die EU exportiere. Mit der schweren Regierungskrise in den Niederlanden – das ebenfalls aufgrund des Sparkurses in die Rezession übergeht – droht Merkel überdies einen ihrer letzten treuen Verbündeten zu verlieren. Inzwischen hat laut einem Bericht des Independent sogar der britische Regierungschef James Cameron den Boykott Hollandes aufgegeben und das Außenministe­rium veranlaßt, »Verbindungen zu Mr. Hollandes Team« aufzunehmen.

Angesichts dieser wachsenden Opposition und des wahrscheinlichen Wahlsiegs Hollandes trat Merkel in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung (Samstagsausgabe) den taktischen Rückzug an und stellte eine europäische »Wachstumsagenda« in Aussicht, die den Fiskalpakt komplettieren könne. Hollande setzte darauf das Fernduell mit der Kanzlerin in einem weiteren Interview fort, indem er diesen Schwenk als einen Schritt zum Politikwechsel in Europa wertete, den seine Wahlkampfkampagne eingeleitet habe: »Es bewegt sich etwas, und nach den Wahlen wird sich noch mehr bewegen.« Es werde eine »Neuverhandlung des Fiskalpaktes und einen Wachstumspakt geben«, betonte der Sozialist.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 2. Mai 2012


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