Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kein Blick für die Sorgen im Land

Die Ablehnung der Sarkozy-Politik in breiten Bevölkerungskreisen könnte die Trumpfkarte für Herausforderer Hollande werden

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen an diesem Wochenende dürfte sich ein politisches Duell zwischen dem konservativen Amtsinhaber Nicolas Sarkozy und dem Sozialisten François Hollande ergeben. An den wichtigsten Problemen des Landes redeten beide im Wahlkampf jedoch vorbei.

Präsidentschaftswahlen werden nicht von einem der Kandidaten gewonnen, sondern von seinem unmittelbaren Gegner verloren. Diese Grunderkenntnis französischer Politologen dürfte bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl zutreffender denn je sein. Beim ersten Wahlgang am Sonntag sollen die rund 45 Millionen Wähler eine Vorauswahl unter zehn Kandidaten treffen. Der zweite Wahlgang am 6. Mai ist dann eine Stichwahl unter den beiden Bestplatzierten. Der Wahlkampf hat schon vor Monaten mit dem Sieg von François Hollande bei der Urabstimmung der Sozialisten begonnen. Vom Niveau der politischen Auseinandersetzung sind viele Franzosen jedoch enttäuscht. Jeweils über Tage dominierten sekundäre Themen, die einer der Kandidaten in die Debatte geworfen hat und auf die die anderen - einander überbietend - eingegangen sind. Dadurch nahm die öffentliche Diskussion einen Zickzackkurs und entfernte sich immer mehr von den eigentlichen Problemen des Landes und den Sorgen der Franzosen. Außenpolitische Themen, die Rolle Frankreich in Europa oder Umweltfragen wurden weitgehend ausgeklammert.

Besonders enttäuschend war für viele, dass die astronomische Staatsschuld und die unterschiedlichen Ansätze zu deren Abbau, die Mitte 2011 die Gemüter bewegt hatten, jetzt im Wahlkampf fast keine Rolle mehr spielten, ebenso wenig wie das chronische Defizit des Sozialversicherungssystems, die besorgniserregend hohe Arbeitslosigkeit und die Erosion der Kaufkraft der Haushalte. Selbst François Hollande, der bei seinen Vorschlägen für einen Wandel in Frankreich oft sehr vage blieb, sprach erst in den vergangenen Tagen die Notwendigkeit der Erhöhung des Mindestlohns an. Bis dahin hatte er als erster linker Präsidentschaftskandidat in der Geschichte der 5. Republik keinerlei Anhebungen in Aussicht gestellt, sondern im Gegenteil die Notwendigkeit einer sparsamen Haushaltsführung verteidigt. Nicolas Sarkozy hat ihn oft sehr rüde attackiert und vor allem die Riesenschulden kritisiert, die die Umsetzung der Vorstellungen seines linken Herausforderers für das Land angeblich mit sich bringen würden.

Auf diese Weise vermied es Sarkozy, über die Bilanz seiner Amtszeit zu reden. Er weiß sich einer breiten Front von Franzosen gegenüber, die ihn auf keinen Fall für eine zweite Amtszeit im Elysée sehen wollen. Mit seinen Ankündigungen und Versprechungen hatte Sarkozy 2007 viele Erwartungen und Hoffnungen auf eine Belebung des verkrusteten politischen Lebens geweckt. Umso größer war die Ernüchterung, als er sich mit Steuergeschenken für die Wohlhabenden, der Privatisierung von Teilen des Öffentlichen Dienstes und anderen neoliberalen Maßnahmen vor allem als »Präsident der Reichen« profilierte. Von den angekündigten Maßnahmen zugunsten sozial benachteiligter Franzosen wurde dagegen fast nichts umgesetzt.

Natürlich war nicht alles schlecht an der Amtszeit von Präsident Sarkozy. Vor allem während der Banken- und Finanzkrise und beim Ringen um die Zukunft des Euro lief er zu großer Form auf. Einige der Reformen Sarkozys sind durchaus sinnvoll und Hollande hat schon angekündigt, dass er sie beibehalten wird. Doch unterm Strich wiegen für die meisten Franzosen die negativen Entwicklungen der zurückliegenden fünf Jahre deutlich schwerer als die positiven. Da dies zur Konsequenz haben dürfte, dass fast alle linken Wähler im zweiten Wahlgang für Hollande votieren, sind für Sarkozy die Chancen für eine Wiederwahl so gering wie noch bei keinem anderen Präsidenten der 5. Republik.

In der ersten Abstimmungsrunde werden jene Kritiker Sarkozys, die nicht für Hollande stimmen, wohl für die Rechtsextreme Marine Le Pen, den konsequenten Linken Jean-Luc Mélenchon oder den Zentrumspolitiker François Bayrou votieren. So könnten erstmals bei einer Präsidentschaftswahl fünf Kandidaten ein zweistelliges Stimmenergebnis erreichen. Letzten Umfragen zufolge rechnet man für Sarkozy und Hollande mit etwa 27 Prozent, für Le Pen mit 15,5 Prozent, für Mélenchon mit 14,5 Prozent und für Bayrou mit 10 Prozent. Weit abgefallen würde danach die Grünen-Kandidatin Eva Joly mit 2,5 Prozent folgen.

Doch auch von einer massiven Politikverdrossenheit zeugen die Umfragen, denen zufolge 30 Prozent der eingetragenen Wähler der Abstimmung fernbleiben könnten. Auch das wäre ein neuer, bedenklicher Rekord.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 21. April 2012


Zwei Favoriten, ein Kurs

Von Johannes M. Becker **

Johannes M. Becker. Der Frankreich-Experte ist Koordinator am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg.

Während Frankreichs amtierender Präsident Nicolas Sarkozy sich im Wahlkampf in erster Linie darauf konzentrierte, im WählerInnen-Reservoir der rechtsradikalen Front National zu wildern, profilieren sich seine Konkurrentinnen und Konkurrenten durchweg mit anderen Themen. Sarkozy polterte, dass in Frankreich »zu viele Ausländer« lebten und ging Europa-politisch einen Spagat ein zwischen Vasallentreue gegenüber der Berliner »Lichtgestalt« Angela Merkel und Drohungen, Frankreich werde in den Fiskalproblemen seine eigene Stimme behalten. Im Afghanistan-Krieg steht »Sarko« fest an der Seite Merkels und der US-Administration. Die Laufzeit der französischen Atomkraftwerke will er ungeachtet einer langen Kette größerer und kleinerer Pannen verlängern. Der Staatspräsident ist mit seiner rechtslastigen Agitation offenbar vorangekommen: Nach einem Umfragetief zu Beginn des Jahres liegt er nun mit seinem größten Konkurrenten, Francois Hollande, nahezu gleichauf.

Der Sozialdemokrat Hollande profiliert sich variantenreicher. So hat er klargestellt, dass nach seinem Wahlsieg Frankreich noch 2012 Afghanistan verlassen werde. Der Krieg sei gescheitert, der Westen habe nichts verloren am Hindukusch.

Die mutmaßliche Wahl des Sozialdemokraten wird freilich kein Jota an Frankreichs grundsätzlich interventionistischer Außen- und Sicherheitspolitik ändern. In seinen »60 engagments« sucht man vergebens nach bedeutenden Aussagen zu Frieden und Abrüstung: Hier bekräftigt Hollande, ganz in Manier Sarkozys, die Beibehaltung der Nuklearbewaffnung und verspricht seinen Einsatz für eine »ambitiöse« französische Rüstungsindustrie - die derzeit bei einem Anteil von 0,8 Prozent der Erdbevölkerung für immerhin 3,6 Prozent der Militärausgaben und für sieben Prozent der Rüstungsexporte verantwortlich ist. In der Frage der Nuklearenergie will Hollande den Anteil der AKW an der Stromerzeugung bis 2015 von heute um die 75 Prozent auf 50 Prozent senken. Der Ausbau regenerativer Energiequellen ist avisiert.

Platz drei könnte im ersten Wahlgang der Linkskandidat Jean-Luc Mélenchon belegen, der in Umfragen stetig an Einfluss gewann und am 18. März in Paris über 100 000 Menschen auf die Straße brachte. Mélenchon verspricht einen raschen Ausstieg aus der Kernenergie, was jedoch in seinem Bündnis nicht einhellig geteilt wird. Für 2013 plant er ein Referendum in dieser Frage. Er will den sofortigen Abzug der französischen Truppen aus Afghanistan; auch ein (Wieder-)Ausstieg aus der NATO wird gefordert. Die französische Außen- und Sicherheitspolitik generell betreffend, ist der Linkskandidat der einzige Visionär: Er fordert die Anerkennung des Staates Palästina durch Frankreich und die EU, einen internationalen Klima-Gerichtshof, einen Schuldenerlass für die armen Staaten sowie einen Fonds für solidarische Kooperation gegen Armut und Verschuldung. Zur Finanzierung schlägt er die Einführung der Tobin- oder einer ähnlichen Steuer vor. Mélenchon verspricht ein Ende der neokolonialistischen und interventionistischen Politik Frankreichs und verlangt eine multilaterale (auch atomare) Abrüstung.

Bleibt das Linksbündnis stark, wird es bei den auf die Präsidentschaftswahlen folgenden Parlamentswahlen spannend. Hier wird Mélenchon den Sozialdemokraten Hollande gehörig unter Druck setzen - u.a. mit einem weitreichenden sozialpolitischen Programm.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 21. April 2012 (Gastkolumne)


Zurück zur Frankreich-Seite

Zurück zur Homepage