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Ökonomen gegen neoliberale Weisheiten

Streitschrift der "bestürzten Wirtschaftswissenschaftler" stürmt französische Bestsellerlisten

Von Ralf Streck *

Wieder sorgt ein kleines Buch in Frankreich für Furore. Vier Ökonomen haben das »Manifest der bestürzten Wirtschaftswissenschaftler« verfasst.

In Deutschland ist das Büchlein von den vier französischen Ökonomen Philippe Askenazy, André Orléan, Henri Sterdyniak und Thomas Coutrot weitgehend unbekannt, in Frankreich dagegen ist das Manifest ein Bestseller. Mehr als 1000 Ökonomen haben die Streitschrift unterschrieben. Zehntausende Exemplare wurden verkauft, obwohl das Buch im Internet auf Französisch, Englisch, Spanisch und Portugiesisch frei erhältlich ist.

Nach Stéphane Hessels »Empört euch« ist nun dieses Manifest erfolgreich. Askenazy, Orléan und Sterdyniak, die in staatlichen Forschungsinstituten arbeiten, und Coutrot, der wissenschaftlicher Berater von Attac in Frankreich ist, reißen darin neoliberale Glaubenssätze ein, die in den vergangenen Jahrzehnten zu »wissenschaftlichen Weisheiten« geworden sind. Sie zeigen auf, dass »Europa in der eigenen institutionellen Falle steckt«. Die Staaten müssen sich ihr Geld zum Teil für hohe Zinsen von privaten Finanzinstituten leihen, die erhalten es aber günstig von den Notenbanken. Dazu komme die fehlende Solidarität der Staaten untereinander, womit die Spekulation gefördert werde.

Kritisiert wird auch die improvisierte Nothilfe über den Euro-Rettungsschirm, mit »oftmals blinden Plänen zur Reduzierung öffentlicher Ausgaben«, womit Lohnkürzungen und Entlassungen einhergingen. Öffentliche Dienstleistungen gerieten in Gefahr und Sozialleistungen würden abgebaut, die Arbeitslosigkeit steige, wie unter anderem in Spanien, Griechenland, Portugal zu beobachten. »Diese Maßnahmen sind aus einem politischen und sozialen Blickwinkel verantwortungslos, ja sogar auf rein ökonomischer Ebene«, schreiben die »Bestürzten«. Sie warnen, dass Europa als Projekt in Gefahr sei. Statt dem Aufbau eines »demokratischen, friedlichen und vereinten Kontinents«, würden Portugal, Spanien und Griechenland eine »Marktdiktatur« aufgezwungen, obwohl diese »Diktatur« ihre Ineffizienz und ihre »politische und soziale Zerstörungskraft« längst bewiesen habe.

Weiter heißt es, die »Effizienz der Finanzmärkte« sei eine Mär, mit der Privatisierung, die Reduzierung von Staatshaushalten, die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, des Handels, der Finanzdienstleistungen und der Finanzmärkte vorangetrieben werde. Gerade auf Finanzmärkten gebe es diese Effizienz nicht. Steigende Preise zögen weitere Käufer an, statt die Nachfrage zu begrenzen, wodurch sich enorme Spekulationsblasen bilden. Gefordert werden deshalb ein Spekulationsverbot von Banken, die allgemeine Verringerung der Spekulation durch Kontrolle und die Besteuerung von Finanztransaktionen. Eine Verstaatlichung des Bankenwesens wird nicht ausgeschlossen.

Zu den zehn widerlegten »offenkundigen Tatsachen« gehört auch die Behauptung, die Sozialsysteme verursachten die steigende Staatsverschuldung. Falsch, sagen die »Bestürzten«, denn die Verschuldung wurde in der Finanzkrise aufgebläht, um Banken und Firmen zu retten. Das Defizit von durchschnittlich knapp 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Europa Ende 2007 wuchs erst in der Finanzkrise stark an. Die Verschuldung stieg bis 2009 auf fast 75 Prozent (Eurozone: 80 Prozent) und 2010 waren es schon 80 Prozent (Eurozone: 85 Prozent).

Schuld daran sei auch eine »steuerliche Konterrevolution«. So seien in Frankreich zwischen den Jahren 2000 und 2010 Steuergeschenke von 100 Milliarden Euro verteilt worden, weil stets behauptet wurde, dass so automatisch Wachstum gefördert werde. Tatsache sei, dass die sozialen Ungleichheiten verschärft wurden.

Im Fazit plädiert das lesenswerte Buch für eine Neugründung der EU. Einzelne Länder müssten alternative Wege gehen, weil der eingeschlagene Weg in die Katastrophe führe. Sie erinnern daran, dass einst die EU auch von nur sechs Staaten gegründet wurde.

* Aus: Neues Deutschland, 17. August 2011


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