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Dekoration für die Schlachtbank

Von Pierre Lévy *

Es gibt keine französische Ausnahme. Am Abend des 6. Mai war Nicolas Sarkozy geschlagen. So wie seit zwei Jahren die Mehrheit der Regierungen innerhalb der Europäischen Union – unabhängig von ihrer politischen Färbung: in Ungarn, Großbritannien, den Niederlanden, Irland, Finnland, Portugal, Dänemark, Spanien, Slowenien, Slowakei und am Sonntag auch in Griechenland. Der Mechanismus ist gut bekannt: Die Wähler schlagen, um ihre Wut abzureagieren, vor, die Platzmannschaft zu verjagen; und die Politik geht weiter in dieselbe Richtung wie zuvor, da sie ja statt von der unterdrückten Volkssouveränität gemeinsam von den einen oder den anderen definiert wird – in diesem Fall in Brüssel. Das Ganze nennt sich »Wechsel« und sogar – bei postmodernen Humoristen – »Demokratie«.

Halten wir fest, daß das in Frankreich nicht immer so war. Die Frage nach einer Veränderung der Gesellschaft war bis zum Ende der 1970er Jahre das Hauptthema der Wahlkampagnen – bevor das europäische politische Modell in Kraft trat, in dem die Bürger eingeladen sind, sich zwischen »Mitte-Links« und »Mitte-Rechts« die Dekoration für die Schlachtbank auszusuchen.

Man muß allerdings feststellen, daß die sozialdemokratischen Mehrheiten ziemlich oft ihre konservativen Rivalen überholen, wenn es um soziale Rückschritte geht, um Liberalisierung und/oder Privatisierungen. Das am stärksten an eine Karikatur gemahnende Beispiel in dieser Hinsicht lieferte Griechenland, wo unter der Ägide eines Ministerpräsidenten, der zugleich Präsident der Sozialistischen Internationale blieb, die rückschrittlichsten Maßnahmen überhaupt verwirklicht wurden. Unter der Regierung Gerhard Schröders war es Deutschland, wo die brutalste Infragestellung sozialen Schutzes praktiziert wurde – Hartz IV – sowie die massive Förderung von Prekarität.

Das alles hat weder den scheidenden Präsidenten noch seinen siegreichen Konkurrenten daran gehindert, das »deutsche Modell« und dessen »Wettbewerbsfähigkeit« anzupreisen. Im übrigen waren es in Frankreich gerade die »linken« Regierungen, die die Finanzmärkte deregulierten und alle Privatisierungsrekorde geschlagen haben. Wird François Hollande diese edle Aufgabe weiter verfolgen? Zumindest kann man ihm nicht vorwerfen, seine Absichten zu leugnen. Er hat keineswegs verborgen, daß er Haushaltskürzungen von 50 Milliarden Euro vornehmen will, um den Brüsseler Normen zu entsprechen und um die mit ihnen verbundenen Sanktionen zu vermeiden.

Der frisch Gewählte ist Nutznießer der Zusammenführung von drei Gruppen, um es vereinfacht darzustellen. Das ist erstens der harte Kern von Wählern der Sozialisten, die nicht einen Moment daran zweifeln, daß es nun eine »linke« Politik geben wird. Zweitens hatte Hollande eine breite Unterstützung von Bürgern, die vom Willen beherrscht sind, Nicolas Sarkozy »freizusetzen«, d.h. gegen ihre eigene Überzeugung, daß sich nichts Größeres ändern dürfte. Schließlich eine nicht zu vernachlässigende Randgruppe der mittleren und der Großbourgeoisie, die für Hollande gestimmt hat, exakt aus dem Grund, weil sie weiß, daß sich damit nichts Grundlegendes ändert, das Land aber eine Regierung erhält, die besser dafür sorgen kann, daß die zukünftig von Brüssel verabreichten Arzneien akzeptiert werden. Aus diesem Geist heraus ergriff der Zentrist François Bayrou für den sozialistischen Kandidaten am Vorabend der Wahl Partei.

Das alles bildet den wesentlichen Hintergrund und bezeichnet die entscheidenden Kraftlinien für die zukünftigen Entwicklungen. Aber unabhängig von der Politik sind es die Umstände, die das System instabil halten. Diese Umstände sind derzeit durch die Konvergenz zweier Phänomene charakterisiert, die miteinander verknüpft sind. Das erste ist die Aufeinanderfolge von Wahlen im Verlauf weniger Monate (oder von politischen Krisen, die Wahlen nach sich ziehen). Sie stellen in dieser oder jener Weise die Beherrschung der europäischen Integration in Frage. Es sind oft die als »populistisch« oder »rechtsextrem« bezeichneten Parteien, die dabei profitieren. Aber sie sind nicht dafür verantwortlich zu machen, daß die Volkssouveränität, d.h. die Demokratie im wahren Sinn des Wortes, als dämonischer Trödelkram betrachtet wird.

Das zweite Phänomen ist nichts anderes als die vorhersehbare Ausweitung der Krise in ihren ökonomischen und finanziellen Dimensionen, in den Staatshaushalten und der Geldpolitik – und ganz gewiß auf sozialem Gebiet. In dieser Hinsicht könnte der sogenannte Stabilitäts- oder Fiskalpakt eine Zeitbombe werden und sich als fürchterliche Falle für Angela Merkel und ihre Freunde herausstellen: Wenn er endlich in Kraft tritt, könnte der Vertrag die europäischen Ökonomien in einen Rezessionsabgrund von beispielloser Tiefe schleudern, und zwar ohne einen Notausgang. Wenn der Pakt aber steckenbleibt, dann gerät die Glaub- und Kreditwürdigkeit Berlins und Brüssels grundsätzlich ins Wanken, wird die Existenz der Währungsunion selbst (folglich die der europäischen Integration) in Frage gestellt werden. Das wäre in gewisser Weise eine neue »List der Vernunft«.

[Übersetzung: Arnold Schölzel]

* Aus: junge Welt, Dienstag, 8. Mai 2012


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