Geschichtspolitik: Schlupfloch am andern Ufer
Frankreich: Die jüngsten Polemiken um das Kolonialismusgesetz zeigen, wie die Geschichte zum Spielball der Politik wird
Von Bernard Schmid, Paris*
Frankreich tut sich schwer mit seiner kolonialen Vergangenheit, namentlich in Algerien. Die jüngsten Polemiken um das Kolonialismusgesetz zeigen, wie die Geschichte zum Spielball der Politik wird.
In der Polemik um das umstrittene französische «Gesetz vom 23. Februar 2005» (siehe WOZ Nr. 4/06) erhofft sich die politische Klasse jetzt eine Lösung, indem sie die Angelegenheit vom linken auf das rechte Seineufer verlagert. Statt der Abgeordneten der französischen Nationalversammlung, die im Palais Bourbon auf dem «linken» (südlichen) Ufer der Seine residieren, befassten sich jetzt die Verfassungsrichter auf der anderen Flussseite mit der Angelegenheit.
Diesen Ausweg hat sich Präsident Jacques Chirac zusammen mit dem amtierenden Parlamentspräsidenten Jean-Louis Debré ausgedacht. Der Verfassungsgerichtshof hat auf Antrag der Regierung den am stärksten politisch umkämpften Artikel des Gesetzes am 31. Januar «deklassifiziert». Das bedeutet, dass ihm keine Gesetzes-, sondern nur mehr Verordnungskraft zukommt. Damit kann das Staatsoberhaupt den herabgestuften Gesetzesartikel durch eine Präsidialverordnung ausser Kraft setzen, was in den kommenden zwei Wochen geschehen soll.
Dieses Prozedere soll vermeiden, dass konservative Abgeordnete sich entweder Chirac gegenüber als «ungehorsam» erweisen können oder aber - indem sie für die Abschaffung dessen stimmen, was sie wenige Monate zuvor selbst befürworteten - sich selbst widersprechen und ihre Überzeugungen dementieren müssen. Einmal mehr wird Politik, wo es heikel wird, auf Richter und auf Verwaltungsverfahren abgewälzt. Freilich soll dadurch einem grösseren Übel ein Ende bereitet werden, nämlich dem Versuch der Politik, der Geschichtswissenschaft Vorschriften «im nationalen Interesse» aufzuerlegen.
Positiver Kolonialismus?
Das Gesetz vom 23. Februar 2005 hatte ursprünglich die materielle und ideelle Entschädigung von Franzosen, die während der Entkolonialisierung in Afrika oder Asien Schaden erlitten haben wollen, zum Gegenstand. Im Laufe der parlamentarischen Lesung Anfang vorigen Jahres wurde es jedoch durch konservative Abgeordnete immer ideologischer aufgeladen. So geriet der berüchtigte Artikel 4, der zu heftigen Auseinandersetzungen nicht nur auf innenpolitischer, sondern auch auf zwischenstaatlicher Ebene - insbesondere mit Algerien - Anlass gab, in den Gesetzestext: Er möchte den ForscherInnen, aber auch den Lehrkräften und den VerfasserInnen von Schulbüchern vorschreiben, «die positive Rolle der französischen Kolonisierung in Übersee und besonders in Nordafrika» hervorzuheben. Insbesondere im Hinblick auf Algerien, auf das die letztere Formulierung anspielt, ist der Hinweis auf die angeblich «positive Rolle» des Kolonialismus absurd: 132 Jahre Kolonisierung bedeuteten in diesem Land vor allem die Errichtung eines auf konfessionellen Kategorien aufbauenden Apartheidsystems, in dem Christen, Juden und Moslems unterschiedlichen beziehungsweise keinen Rechtsstatus hatten, und die drastische Absenkung der Alphabetisierungsrate der moslemischen Bevölkerungsmehrheit.
Zunächst blieb der nachträglich in die Gesetzesvorlage aufgenommene Artikel durch die breite Öffentlichkeit unbemerkt. Auch die parlamentarische Linksopposition hatte die Einfügung dieser Passage verschlafen, und die sozialdemokratischen Abgeordneten hatten für den Artikel die Hand gehoben - wie sie heute sagen, in Unkenntnis seines wirklichen Inhalts. Im Frühjahr schlugen GeschichtslehrerInnen Alarm und sammelten Unterschriften für die Abschaffung des Gesetzes und vor allem seines Artikels 4. Die Kampagne wuchs, unterstützt etwa durch die traditionsreiche Liga für Menschenrechte (LDH), schnell an. Unterstützung erhielt sie auch durch die linksliberale Tageszeitung «Libération», in der Historiker verkündeten, die Geschichtsforschung lasse sich nicht an die staatliche Kandare nehmen.
Gleichzeitig entstand eine vor allem von EinwanderInnenkindern getragene Bewegung, die sich selbstironisch «Die Eingeborenen der Republik» (Les Indigènes de la République) nennt. Zu ihren ersten öffentlichen Handlungen gehörte die Veröffentlichung eines Aufrufs gegen das neue Gesetz schon im Februar 2005. Im Mai führte sie eine Demonstration mit rund 3000 Personen in Paris durch, die durch die «Eingeborenen» freilich seit längerem geplant worden war. Durch sie sollte auf den Doppelcharakter des 8. Mai 1945, dessen an diesem Tag gedacht wurde, aufmerksam gemacht werden: Dieser gesetzliche Feiertag steht in Frankreich einerseits für das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und die Befreiung des Kontinents vom Faschismus. Andererseits aber hatte die französische Kolonialmacht an demselben Tag in mehreren algerischen Orten zwischen 15 000 und 45 000 AlgerierInnen massakriert, die auf die Strasse geströmt waren, um ihrerseits das Kriegsende zu feiern und «Freiheit auch für die Völker Nordafrikas» zu fordern.
Auch auf den französischen Antilleninseln empörten sich viele Nachfahren ehemaliger SklavInnen über die angeblich «positive Rolle» der französischen Kolonialmacht - die bis 1848 auch Sklavenhandelsmacht war. Zur Beruhigung plant Chirac, den 10. Mai zum staatlichen Gedenktag «der Erinnerung an den Sklavenhandel, die Sklaverei und ihre Abschaffung» zu erklären.
Die Eingeborenen der Republik wollen daran erinnern, wie die moslemische Bevölkerungsmehrheit in der französischen Kolonie Algerien behandelt wurde: Sie unterstand jahrzehntelang dem Code de l’indigénat (Eingeborenengesetzbuch), das wenig mit bürgerlich-rechtsstaatlichen Prinzipien zu tun hatte und etwa das Prinzip der «kollektiven Verantwortung» festschrieb. Ihm zufolge konnte jeder beliebige «Eingeborene» für das so genannte Verbrechen eines Angehörigen seiner Bevölkerungsgruppe gegen Europäer oder gegen
die Staatsmacht bestraft werden. Die Hauptthese der neuen Bewegung - deren Initiatoren sich durch die Annahme des Gesetzes vom 23. Februar bestätigt fühlten, weshalb sie es auch zum Sprungbrett ihrer Öffentlichkeitswerbung machten - lautete, es herrsche eine direkte Kontinuität zwischen den kolonialen Herrschaftsformen von gestern und dem heutigen Umgang mit ImmigrantInnen durch den französischen Staat.
Auch in der Linken ist die neue Bewegung umstritten, etwa weil sie nahezu alle aktuellen Diskriminierungen auf den einheitlichen Nenner «Kontinuität des Kolonialismus» zu bringen versucht, während in Wirklichkeit nicht alle Benachteiligten ehemalige Kolonialsubjekte sind. Neben diesem analytischen Reduktionismus wird den «Eingeborenen» auch vorgeworfen, dass sie manche republikanischen französischen Werte - wie den Laizismus, der von Staats wegen heute gegen die moslemische Minderheit gekehrt wird, etwa in Gestalt des Kopftuchverbots für moslemische Schülerinnen - zu pauschal auf einen «kolonialen Konsens» reduzierten und damit die Errungenschaften vergangener Konflikte in der französischen Gesellschaft zu negieren drohten.
Aussenpolitische Interessen
Nach den Herbstunruhen in den französischen Banlieues stellten die sozialdemokratischen Abgeordneten am 29. November einen Antrag auf Abschaffung des umstrittenen Artikels 4. Dabei verspürten die SozialistInnen wohl auch das dringende Bedürfnis, sich wieder oppositionell zu gebärden, nachdem sie das Notstandsregime der Regierung während der Riots de facto unterstützt hatten. Aber die Konservativen haben eine weit über sechzigprozentige Mehrheit an Sitzen im Parlament. So konnten sie das Begehren der Parlamentsopposition leicht abschmettern.
Zur Begründung ihres Antrags auf Neubefassung mit dem Gesetzesartikel zum Zwecke seiner Streichung erklärten die sozialdemokratischen ParlamentarierInnen, es handelte sich dabei um ein Zeichen des Respekts für die Kinder von ImmigrantInnen und ehemals Kolonisierten, das nach den Herbstunruhen die Gemüter beruhigen könnte. Konservative Parlamentarier drehten das Argument ihrerseits um: Auch sie führten die vorangegangenen Riots an - aber um zu erklären, ein solches «Signal des Nachgebens» würde in dieser Situation nur als Schwäche ausgelegt.
Den tatsächlichen Ausschlag für die Entscheidung Jacques Chiracs haben aber wohl aussenpolitische Rücksichtnahmen gegeben. Seit seinen beiden Staatsbesuchen in Algerien im März 2003 und im April 2004 hatten Pläne für einen umfassenden «Freundschaftsvertrag» zwischen Frankreich und seiner ehemaligen nordafrikanischen «Schlüsselkolonie» bestanden - dabei war Algerien juristisch von 1848 bis 1962 sogar ein «integraler Bestandteil des französischen Mutterlands». Der künftige Staatsvertrag, der ursprünglich bis zum Ende des Jahres 2005 hätte unterzeichnet sein sollen, sollte neben Freundschafts- und Aussöhnungsbekundungen eine «exemplarische wirtschaftliche Zusammenarbeit», ferner aber auch eine enge militärische Kooperation beinhalten. Es gilt, der wirtschaftlichen wie auch militärischen Expansion der US-Amerikaner - die ihren «Antiterrorkrieg» derzeit auch auf Nordafrika und die Sahelzone ausweiten - in der Region zuvorzukommen und bisherige Einflusszonen nicht zu verlieren.
Durch die zwischenstaatliche Polemik aufgrund des Gesetzes vom 23. Februar, wohl aber auch durch eine Krankheit des algerischen Präsidenten Bouteflikas bedingt, waren die Pläne für das Vertragswerk aber erst einmal auf Eis gelegt. Jetzt sollen sie wieder aufgetaut werden. Gleichzeitig mit der Bekanntgabe der von ihm gemeinsam mit Chirac ausgetüftelten «Deklassifizierungspläne» verkündete Parlamentspräsident Jean-Louis Debré gegenüber algerischen Presseagenturen den dringenden Wunsch nach einem Ausbau der französisch-algerischen Beziehungen.
Das Gesetz vom 23. Februar 2005
Darf sich die Politik in die Geschichtsforschung einmischen? Auslöser der heftigen aktuellen Debatte in Frankreich sind die so genannten «Lois mémorielles» (der Erinnerung dienende Gesetze); das letzte wurde am 23. Februar 2005 verabschiedet. Im ersten Artikel hält das Gesetz fest: «Die Nation dankt den Frauen und Männern, die am Werk beteiligt waren, das Frankreich in den früheren französischen Departements in Algerien, in Marokko, in Tunesien und in Indochina sowie in den Territorien, die vorher unter französischer Souveränität standen, vollbracht hat.» Besonders umstritten ist der vierte Artikel: «Die universitäre Forschung räumt der Geschichte der französischen Präsenz in Übersee, vor allem in Nordafrika einen gebührenden Raum ein. Die Lehrpläne in den Schulen stellen vor allem die positive Rolle der französischen Präsenz auf anderen Kontinenten, insbesondere in Nordafrika dar und räumen der Geschichte und den Opfern der Kämpfer der französischen Armee in diesen Gebieten den wichtigen Platz ein, der ihnen zusteht.» Viele HistorikerInnen sprechen der Politik das Recht ab, darüber zu entscheiden, was als «historisch wahr» zu gelten habe - und was nicht. Eine im Dezember 2005 von HistorikerInnen lancierte Petition, die am 2. Januar 2006 mit (symbolischen) 1001 Unterschriften abgeschlossen wurde, richtet sich gegen das Gesetz: Es gebe «eine staatlich vorgeschriebene Geschichtsdoktrin» vor und stehe damit im Widerspruch zum Grundsatz der Neutralität des Schulunterrichts und der Gedankenfreiheit, dem Kernstück der Laizität (der Religionsneutralität von staatlichen Einrichtungen).
* Aus: Wochenzeitung WOZ, 9. Februar 2006
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