Französischer Atomkonsens bröckelt
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2012 werden auch in Paris die energiepolitischen Karten neu gemischt
Von Ralf Klingsieck, Paris *
Bislang hat sich Frankreich nicht sehr für Atomenergie interessiert - das könnte sich jetzt ändern. Im Falle eines Sieges der Sozialisten soll es immerhin eine Art Einstieg in den Ausstieg geben.
Zwölf Castor-Transporte mit deutschem Atommüll von der Aufbereitungsanlage La Hague nach Gorleben hat es schon gegeben - von der französischen Öffentlichkeit kaum beachtet. Die Medien berichteten nur, wenn es heftige Zusammenstöße oder wie in einem Falle sogar ein Todesopfer gab. Diesmal, beim 13. und letzten dieser Transporte, ist es anders. Die Medien sind aufmerksamer, die Proteste haben sogar rechte Regierungspolitiker aus der Reserve gelockt.
»Was wollen diese Leute eigentlich«, empört sich etwa Umweltministerin Nathalie Kosciusko-Morizet in einem Interview. »Per Vertrag ist Deutschland verpflichtet, seinen Atommüll nach der Aufbereitung zurück zu nehmen und selbst zu lagern. Sollen wir ihn etwa in Frankreich behalten?«
Dabei weiß die Ministerin ganz genau, dass dies nicht der Kern des Problems ist. »Wir sind uns bewusst, dass wir diesen Transport eben so wenig verhindern können wie die vorangegangenen«, erklärt Charlotte Mijeon von der Bewegung »Sortir du nucléaire« (Raus aus der Kernkraft), »durch unsere Proteste und die Aktionen zur Behinderung des Transports wollen wir die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit darauf lenken, dass der Atommüll das schwächste Glied der Atomkraftkette ist und dass es ein Skandal ist, dass man heute so wenig wie vor 60 Jahren weiß, wo und wie man ihn sicher endlagern soll. Das ist für uns ein Grund mehr, so schnell wie möglich aus der Atomkraft auszusteigen.«
Frankreichs Atomkraftgegner haben nicht mehr das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen. Zwar landete kürzlich noch die Kernenergie unter den 13 Punkten, die nach einer Liste des Meinungsforschungsinstituts CSA den Franzosen Kopfzerbrechen bereiten, auf dem letzten Platz. Doch seit der Katastrophe im japanischen Fukushima, die in Frankreich viel Betroffenheit ausgelöst hat, wird zumindest mehr diskutiert. Noch immer liefern 58 Kernkraftwerke in Frankreich mehr als 75 Prozent des Stroms, doch beginnt der breite Konsens zu bröckeln. Zum deutschen Ausstieg gibt es noch Verwunderung und Skepsis, aber zumindest ein »Einstieg in den Ausstieg« ist nicht länger tabu. Laut Umfragen nach Fukushima sind heute 57 Prozent der Franzosen dafür, den Atomstrom langsam herunterzufahren und sich verstärkt alternativen Energien zu öffnen.
Auftrieb bekommt die Debatte durch die 2012 anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, bei denen ein Linksschwenk möglich scheint. Dabei könnte in Frankreich Rot-Grün herauskommen - was die relativ kleine französische Umweltpartei jetzt beflügelt. Schon bei den Regionalwahlen 2009 hatten die Grünen überraschend fast 17 Prozent erreicht.
In den Abstimmungsgesprächen zwischen Grünen und Sozialisten, die am vergangenen Wochenende abgeschlossen wurden, forderten die Grünen eine Festlegung auf einen Ausstieg - und einen Baustopp für den Druckwasserreaktor EPR in Flamanville. Das aber lehnen PS-Präsidentschaftskandidat François Hollande und seine Partei ab. Sie wollen bis 2025 den Kernkraft-Anteil von 75 auf 50 Prozent reduzieren und die 24 ältesten Meiler abschalten. Doch der Druckwasserreaktor in der Normandie soll ans Netz.
Bei den Grünen hat dieses Machtwort zu einem Zerwürfnis geführt. Präsidentschaftskandidatin Eva Joly hält an den Maximalforderungen fest, doch die Parteiführung hat die Position der PS zähneknirschend akzeptiert - gegen die Zusage für zwei Dutzend sichere Wahlkreise und eine eigene Parlamentsfraktion.
Von den Rechten werden dagegen jegliche Abstriche am Atom als »verantwortungslos« gebrandmarkt. Bis zu eine Million Jobs hingen an der Kernenergie. Auch würden die Energiepreise stark steigen, sollte man auf Energieimporte und teure alternative Energien angewiesen sein.
Präsident Nicolas Sarkozy will im Falle einer Wiederwahl »auf jeden Fall an der Atomenergie festhalten«.
* Aus: neues deutschland, 24. November 2011
Signale
Von Uwe Sattler **
Das hat Frankreich noch nicht erlebt. Demonstranten blockierten am Mittwoch bei Valognes den Castor-Zug nach Deutschland. Hatten sich bei früheren Transporten gerade einmal einige Dutzend Atomkraftgegner eingefunden, ging ihre Zahl diesmal in die Hunderte. Ein »Fenster für den Einstieg in den Ausstieg« sieht Greenpeace bereits.
Die Euphorie mag angesichts der ungewohnten Bilder verständlich sein. Allerdings ist das Fenster nur einen winzigen Spalt geöffnet. Erst kürzlich landete bei einer Umfrage die Kernenergie unter den 13 Themen, die den Franzosen Kopfzerbrechen bereiten, auf dem letzten Platz. Und den Onlineausgaben der wichtigen französischen Medien, einschließlich der kommunistischen »L‘Humanité«, waren die Auseinandersetzungen um den strahlenden Abfall aus La Hague höchstens Randnotizen wert.
Dabei ist der Konsens, der in Frankreich zur Atomenergie herrscht, gar keiner. Die Zustimmung wurde der Bevölkerung praktisch von Atomindustrie und Politik abgekauft. Üppige Zuwendungen der Reaktorbetreiber an die Kommunen, in deren Nähe sie die AKW betreiben, machten die lokale Bevölkerung gefügig. Unternehmen und Privathaushalte wurden mit billigem Atomstrom gedopt. Nicht zuletzt ist der Strom lukratives Exportgut in die Nachbarländer, die sich die Hände in atomarer Unschuld waschen.
In Zeiten der Wirtschaftskrise gelten solche Argumente kaum. Und nach Fukushima noch weniger. Ein Stimmungswechsel sind die Proteste noch nicht, wohl aber ein klares Signal in diese Richtung.
** Aus: neues deutschland, 24. November 2011 (Kommentar)
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