Verschleppung ohne Wiederkehr
Frankreichs Staatsbahn äußert Bedauern über ihre Rolle bei der Deportation Zehntausender Juden unter deutscher Besatzung
Von Christian Giacomuzzi, Paris *
Die Reuebekundung kam spät. Seit langen Jahren war der französischen Staatsbahn SNCF vorgeworfen worden, eine aktive, angeblich nicht von den deutschen Besatzern diktierte Rolle bei der Deportation Zehntausender jüdischer Menschen aus dem besetzten Frankreich in Nazi-Konzentrationslager eingenommen zu haben. Am Dienstag nun äußerte Bahnchef Guillaume Pepy im Pariser Vorort Bobigny, von dem aus zwischen 1941 und 1944 viele Transporte mit insgesamt etwa 25000 Juden abgingen, »den tiefen Schmerz« über die Folgen, die das Handeln der SNCF gehabt habe. »Ich verbeuge mich vor den Opfern, den Überlebenden, den Deportiertenkindern und vor dem Leiden, das noch existiert.«
Bei der Zeremonie wurde ein Abkommen zwischen der Staatsbahn und der Stadtverwaltung von Bobigny unterzeichnet, das die Umwandlung des ehemaligen Güterbahnhofs in eine Gedenkstätte vorsieht. Daß das späte Gedenken erst durch Druck unter anderem aus den USA zustande gekommen sei, wies Pepy zurück. Vielmehr sei mit der Aufarbeitung der Ereignisse »bereits vor 20 Jahren begonnen« worden. Fest stehe inzwischen, daß sich die »damals beschlagnahmte SNCF am unmenschlichen Mechanismus entsprechend dem Programm der Nazibesatzer und der französischen Kollaborateure« beteiligt habe. Demnach erhielt die Gesellschaft »den Befehl, Züge zu versenden, die der Gestapo vom Nazi-Verkehrsministerium zur Verfügung gestellt wurden. Die Zusammensetzung der Züge, die Auswahl der Waggons, die Zeiten und Fahrpläne wurden vom Besatzer aufgezwungen.«
Serge Klarsfeld, Präsident der Vereinigung der jüdischen Deportiertenkinder Frankreichs, erklärte die Vorwürfe gegen die SNCF für weitgehend »ungerecht«. Die Organisation der Züge sei »im wesentlichen ein deutsches Phänomen« gewesen. »Die Deutsche Bahn hat bloß ihren Namen von Reichsbahn in Deutsche Bundesbahn ändern müssen, um von jeder Schuld befreit zu sein«, sagte Klarsfeld im Nachrichtensender i-Tele und erinnerte daran, daß Siemens »Zehntausende Internierte als Arbeitskräfte verwendet« habe.
Die SNCF wurde gerichtlich nie für die Judendeportation zur Verantwortung gezogen. Das oberste Verwaltungsgericht wies noch im Jahr 2007 eine Klage des grünen EU-Abgeordneten Alain Lipietz zurück, dessen Familie verschleppt worden war. Auch der Exilösterreicher Kurt Werner Schächter bemühte sich jahrelang vergeblich um einen Schadenersatz. Der eventuelle Anspruch sei verjährt, hieß es. Schächters Familie war wegen der faschistischen Judenverfolgung aus Österreich nach Paris geflohen. 1943 und 1944 wurden seine Eltern in die NS-Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor verfrachtet und ermordet.
Zwischen Anfang 1941 und Ende August 1944 waren unter dem Vichy-Regime insgesamt 85500 Männer, Frauen und Kinder von Frankreich aus in die Vernichtungslager verschleppt worden. Nur 2500 kehrten zurück. Die französische Bahn hat zusätzlich zur geplanten Gedenkstätte bereits eine Webseite zum Thema eingerichtet. Darin wird unter anderem auch daran erinnert, daß von 450000 SNCF-Angestellten nur 467 nach dem Krieg der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt wurden.
www.sncfhighspeedrail.com/heritage/
* Aus: junge Welt, 27. Januar 2011
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