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"Politisch eine Eselei"

Paris: Neues Gesetz verärgert die Türkei

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Ein Gesetz, das das Negieren von Völkermord und vor allem des Massakers der Türken an den Armeniern 1915 unter Strafe stellt, wurde in der Pariser Nationalversammlung am Donnerstag (22. Dez.) in erster Lesung mit großer Mehrheit angenommen.

Während Debatte und Abstimmung fanden vor dem Parlament zwei Demonstrationen statt, die durch die Polizei voneinander getrennt werden mussten - eine kleine pro-armenische und eine massive pro-türkische.

Bei den blutigen Ausschreitungen in der Türkei gegen die armenische Minderheit sind 1915/16 nach Angaben von Historikern bis zu 1,5 Millionen Menschen ermordet worden, während die Türkei offiziell 500 000 einräumt. Auf der Flucht vor den Mördern kamen viele Armenier nach Frankreich und fanden hier eine neue Heimat. Die meisten ihrer heute rund 500 000 Nachfahren begrüßen das Gesetz, das bereits 2006 eingebracht, aber bisher von der Rechtsregierung immer wieder zurückgestellt wurde, um die wegen Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft ohnehin angespannten Beziehungen mit Ankara nicht noch mehr zu belasten.

Der Text droht bei Negierung von Völkermord ein Jahr Gefängnis und 45 000 Euro Geldstrafe an. Von der Türkei wird das Gesetz vehement verurteilt. Zwei Delegationen, eine mit türkischen Parlamentsabgeordneten und eine mit Unternehmern, haben in den zurückliegenden Tagen bei Treffen mit Partnern in Paris die Annahme noch zu verhindern versucht. Das Gesetz stellt ihrer Überzeugung nach eine schwere Belastung der Beziehungen dar und würde ernste politische und wirtschaftliche Folgen haben. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu verurteilte das Gesetz in »Le Monde« als »Verletzung der nationalen Würde« seines Landes. Die Türkei habe seit 2006 wiederholt die Bereitschaft zum Dialog mit Armenien über die gemeinsame, oft leidvolle Geschichte erklärt. Die Archive beider Länder sollten geöffnet und eine gemeinsame Historikerkommission gebildet werden. Doch eine solche Diskussion sei »nicht unter Androhung von Strafe für eine Seite oder Meinung« möglich. Die türkische Regierung sei »befremdet« über die Behandlung dieses »populistischen« und »innenpolitisch motivierten« Gesetzes im Parlament, zumal Präsident Nicolas Sarkozy dem türkischen Premier Erdogan in der Vergangenheit zugesagt hatte, dass er sich gegen diese Gesetzesinitiative einsetzen wolle.

Tatsächlich jedoch ist Sarkozy erst kürzlich wieder zugunsten der Armenier umgeschwenkt, um sich in dieser Frage nicht vom sozialistischen Präsidentschaftskandidaten François Hollande deklassieren zu lassen.

Doch selbst einigen Mitgliedern der Rechtsregierung ist der Vorstoß der eigenen Abgeordneten, die angesichts der für 2012 anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf der Jagd nach den Stimmen der Franzosen armenischer Herkunft sind, peinlich. Sie hätten es lieber bei der schon 2001 erfolgten offiziellen, aber folgenlosen Anerkennung des Völkermords an den Armeniern von 1915 belassen.

So erklärte Außenminister Alain Juppé jetzt Journalisten gegenüber, das neue Gesetz sei »intellektuell, wirtschaftlich und politisch eine Eselei«. Immerhin ist die Türkei Frankreichs drittgrößter nichteuropäischer Handelspartner nach den USA und der Volksrepublik China. Der Handelsaustausch betrug im vergangenen Jahr 11,7 Milliarden Euro.

* Aus: neues deutschland, 23. Dezember 2011


Definitionsmacht

> Ankara wirft Frankreich Völkermord vor

Von Werner Pirker **


Die Retourkutsche aus Ankara kam umgehend. Nachdem das Parlament in Paris beschlossen hatte, das Leugnen des Völkermordes an den Armeniern unter Strafe zu stellen, hat der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan Frankreich Genozid an den Algeriern vorgeworfen. Ankaras Reaktion ist durchaus verständlich. Wenn die zwischen 1915 und 1916 erfolgten Deportationen von auf dem Boden der heutigen Türkei lebenden Armeniern, die unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 200000 und 1,5 Millionen Menschen das Leben gekostet haben sollen, den Tatbestand des Völkermordes erfüllen, dann ist das Wüten der französischen Kolonialherren in Algerien wohl kaum anders zu bewerten.

Auch Erdogan beruft sich auf Schätzungen. Demnach wurden seit 1945 etwa 15 Prozent der algerischen Bevölkerung von der französischen Soldateska massakriert. In beiden Fällen läßt sich darüber streiten, ob die Verwendung des Begriffs »Völkermord« angemessen ist. In Frankreich, wo eine große armenische Diaspora beheimatet ist, ist das armenische Narrativ in den Rang einer objektiven Wahrheit erhoben worden. Türkische Einwände, wonach die Deportationen zwar brutal und chaotisch verlaufen seien, es sich aber um keine gezielte Ausrottungspolitik gehandelt habe, werden als geschichtsrevisionistisch verworfen. Das kann man durchaus so sehen. Der französische Parlamentsbeschluß geht aber weit darüber hinaus. Indem er eine von der offiziell festgelegten Position abweichende Meinung der strafrechtlichen Verfolgung aussetzt, stellt er die Meinungsfreiheit grundsätzlich zur Disposition.

Vorbild für das französische Gesetz ist das in bester antifaschistischer Absicht erfolgte Verbot der Holocaust-Leugnung, das damit das Einfallstor für gesinnungspolizeiliche Verordnungen zur Wahrheitsfindung bildete. Daß dieser weitere Schritt zur Verrechtlichung der gesellschaftlichen Debatte ausgerechnet von der französischen Legislative gegangen wurde, entbehrt insofern nicht einer gewissen Ironie, als Frankreich bis heute nicht bereit ist, sich mit den Verbrechen seiner Vergangenheit als besonders brutale Kolonialmacht auseinanderzusetzen. Im Gegenteil wurden erst unlängst die französischen Schulen vom zuständigen Ministerium angewiesen, die Kolonialgeschichte des Landes in einem positiven Licht dazustellen. Wie Hannes Hofbauer in seinem Buch »Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung« (Promedia Verlag) festhält, erfolgt die Verrechtlichung, das heißt Entpolitisierung, der Debatte nach dem politischen Opportunitätsprinzip.

Die Crux liegt bereits im EU-Rahmenbeschluß zur juristischen Verfolgung von Rassismus, Antisemitismus und Leugnung von Völkermord. Da dem herrschenden Diskurs widersprechende Meinungen zum Straftatbestand erklärt werden und die Bestimmung von Völkermord im Ermessen der (Sieger-) Justiz liegt, sind der »antirassistischen« Definitionsmacht des weißen Mannes und seinen Strafmaßnahmen keine Grenzen gesetzt.

** Aus: junge Welt, 24. Dezember 2011


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