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Toter bei Atomunfall

Explosion nahe französischer Plutoniumanlage. Angeblich keine Radioaktivität ausgetreten. Sofortiger Ausstieg aus Nuklearzeitalter gefordert

Von Arnold Schölzel *

Durch die Explosion eines Verbrennungsofens in der südfranzösischen Atomanlage Centraco in Codolet gegen 11.45 Uhr am Montag (12. Sept.) ist ein Arbeiter getötet worden, vier weitere wurden verletzt, einer davon schwer. Nach Angaben des französischen Innenministeriums wurden sie nicht radioaktiv verstrahlt. Auch in die Umgebung der Anlage, die etwa 20 Kilometer von Avignon entfernt liegt, entwich der Regierung zufolge keine Radioaktivität. Centraco liegt auf dem Gelände der Anlage Marcoule, dem weltweit größten Herstellungsort für das hochgefährliche Uran-Plutoniumgemisch MOX, das aus abgebrannten Uranbrennstäben hergestellt wird. Erst im vergangenen Jahr hatte die Atomaufsicht dort zu »Wachsamkeit und Fortschritten« in Fragen der Sicherheit gemahnt. Im Frühjahr 2009 hatte sich in der MOX-Produktionsstätte ein Unfall der Stufe zwei auf einer siebenstufigen Skala ereignet.

Gegen 16 Uhr erklärte die französische Atomaufsichtsbehörde (ASN) den Unfall offiziell für beendet und teilte mit: »Dieser Unfall bedeutet keine Radioaktivität und erfordert keine Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung.« Zugleich löste die ASN ihren Krisenstab wieder auf. Die Explosion habe ein Feuer entfacht, das gegen 13Uhr unter Kontrolle gewesen sei. Das Gebäude, in dem der Ofen stand, sei nicht beschädigt worden. Nun solle untersucht werden, wie es zu dem Unfall kam. In dem explodierten Ofen wurden schwach radioaktive Abfälle aus Atomkraftwerken verbrannt. Dazu gehörten nach Angaben eines Sprechers des staatlichen Stromkonzerns EDF Pumpen, Rohre, Arbeitsanzüge und Handschuhe. Zur Zeit der Explosion befanden sich in dem Ofen etwa vier Tonnen schwachradioaktiven Materials. »Es handelt sich um einen Industrieunfall, nicht um einen Atomunfall«, behauptete der Sprecher von EDF, dessen Tochterunternehmen Socodei die Anlage betreibt. Die Behörden richteten dennoch sofort nach dem Unglück eine Sicherheitszone ein. Die französische Umweltministerin Nathalie Kosciusko-Morizet wollte sich noch am Nachmittag vor Ort informieren.

Frankreich ist mit 58 Reaktoren der größte Atomstromproduzent Europas. Auch nach dem Unglück von Fuku­shima hält die Regierung an der Atomkraft fest. Sie begründet das mit der ihren Angaben zufolge hohen Sicherheit französischer Atomkraftwerke.

Die Explosion traf auch die deutschen Stromerzeuger. Nach Bekanntwerden des Unfalls sackten die Aktien der beiden großen deutschen Versorger E.on und RWE zwischenzeitlich auf neue Jahrestiefststände ab.

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace erklärte, die Anlage gehöre nicht zu denen, deren Sicherheit nach dem Willen der Regierung dem Unglück im japanischen Fukushima untersucht werden sollen. »Das zeigt noch einmal, daß Frankreich die Lektion aus Fukushima nicht gelernt hat«, meinte Yannick Rousselet für die Organisation. Die deutsche Sektion der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW forderte nach dem Unfall einen sofortigen und umfassenden Ausstieg aus der Atomenergie und ein Ende des Atomzeitalters. Die energiepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke, Dorothée Menzner, kommentierte: »Die Europäische Atomgemeinschaft muß umgehend die Stillegung des gesamten europäi­schen Atomprogramms vorantreiben und sich weltweit dafür einsetzen, daß diese nicht beherrschbare Technologie ein für allemal der Vergangenheit angehört.«

* Aus: junge Welt, 13. September 2011


Non merci!

Von René Heilig **

Auf dem Gelände der französischen Nuklearanlage Marcoule hat sich eine Explosion ereignet. Ein Mensch kam ums Leben, mehrere Personen wurden verletzt. Ehe sich jetzt falsche Töne in die Berichterstattung mischen, die keinem, auch nicht der Anti-Atom-Bewegung helfen: Der Unfalls war – nach allem, was man bislang weiß – verfahrenstechnisch nichts anderes als das, was auch in einer normalen Kesselanlage oder in einer »konventionellen« Chemiefabrik vorkommen kann. Keine Kernschmelze. Kein Harrisburg, kein Tschernobyl, kein Fukushima. Kinderrechte kennen keine Herkunft

Auch wer aus der Kernenergie aussteigt – so wie Deutschland es endlich versucht –, muss noch viele Jahrzehnte mit solchen nuklearen Anlagen zur Entsorgung auskommen, muss mit dem Müll vergangener Zeiten leben. Doch ehe diese notwendige Sachlichkeit jetzt zu Beruhigung gerät oder gar zur Gleichgültigkeit mutiert: Die Menschen haben das Recht zu wissen, wer, was, wo, wie tut. Und die Betreiber der Anlagen und der Staat, der entsprechende Gesetze vorhält, sind auskunftspflichtig. Zurück zu Marcoule, wo einst nicht nur Strom erzeugt, sondern auch Plutonium für Frankreichs Bomben gewonnen wurde. Was dort geschieht, wissen nur wenige. Zumeist gehören sie zur übermächtigen französischen Atomlobby, die mit 58 Kraftwerken mehr als drei Viertel des Strombedarfs befriedigt und noch immer Souveränität mit dem Besitz von Nuklearwaffen verwechselt. Auch gegen diese Art Diktatur hilft nur: Non merci!

** Aus: Neues Deutschland, 13. September 2011 (Kommentar)


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