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Gewerkschaft ist Traditionssache

Finnische Arbeitnehmervertreter prägten Aufbau des Sozialstaates mit

Von Andreas Knudsen *

Die finnischen Gewerkschaften gewinnen ihre Macht aus dem hohen Organisationsgrad. Im Landesdurchschnitt sind es 80 Prozent.

Im Zuge der Industrialisierung Finnlands entstanden Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Gewerkschaften, die sich 1907 zum Zentralverband SAK zusammenschlossen. Die ersten Jahrzehnte boten schwierige Arbeitsbedingungen unter der zaristischen Herrschaft, dem weißen Terror nach dem Bürgerkrieg 1918/19 und den Kriegen gegen die Sowjetunion. Bis Anfang der 50er Jahre lebte nur jeder dritte Finne in der Stadt, doch dann bekam die Entwicklung Flügel mit der weitgehenden Urbanisierung der Bevölkerung und der Entwicklung der Industrie- und Servicegesellschaft.

Zahlungsbilanzprobleme, Exportabhängigkeit und rasch wechselnde Konjunkturabläufe brachten soziale Unsicherheit und viele Streiks mit sich, aber auch konsolidierende Stärke und steigenden Organisationsgrad. Um den Unsicherheiten ein Ende zu bereiten, einigten sich Ende der 60er Jahre Arbeitgeber und Gewerkschaften auf ein Modell, das mit den konzertierten Aktionen verglichen werden kann und ähnlich auch in den anderen nordischen Ländern praktiziert wurde. In dreiseitigen Verhandlungen unter Einbeziehung der Regierung wurde eine Einkommenspolitik vereinbart, die auf Produktivitätssteigerungen beruht und Einkommensverbesserungen für die Beschäftigten sichert. Das »Finnische Modell« war geboren, das in seinen Grundzügen noch heute gilt und die nationale Einkommensstruktur und Steuerpolitik regelt.

Die Regierung ist verpflichtet, das Verhandlungsergebnis zwischen ihr und den Arbeitsmarktpartnern gesetzlich umzusetzen. Da letztere die Bedingungen aushandeln, gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn, sondern nur Sätze, die in den branchenspezifischen Tarifen festgesetzt sind. Arbeitgeber, die nicht in ihrem Branchenverband organisiert sind, richten sich im Allgemeinen nach deren Richtsätzen.

Hoher Organisationsgrad

Das Finnische Model ist möglich, weil der Organisationsgrad in allen Branchen hoch ist und im Landesdurchschnitt 80 Prozent beträgt. Die Fachgewerkschaften sind in drei Verbänden organisiert. Übergeordnet repräsentieren SAK die Facharbeiter (eine Million Mitglieder, AKAVA die Angestellten (550 000 Mitglieder) und STTK die öffentlich Angestellten (610 000 Mitglieder) – bei rund 5,3 Millionen Einwohnern. Die Verbände bestehen aus Fachgewerkschaften, von denen mehrere in Großunternehmen repräsentiert sein können, während in kleinen und mittelständischen Unternehmen die Möglichkeit besteht, dass alle Arbeitnehmer über Fachgrenzen hinaus in einer Ortsgruppe repräsentiert sind. Die wöchentliche Arbeitszeit liegt in der Regel zwischen 38 und 40 Stunden.

Wenn es ernst wird

Ein Grund für den hohen Organisationsgrad ist, dass die Gewerkschaften die Arbeitslosenkassen verwalten. Finnische Beschäftige haben historisch gesehen zahlreiche Krisen und wirtschaftliche Flauten erlebt, die den Wert gewerkschaftlicher Hilfe bei Entlassungen dokumentieren. Die Krise der 90er Jahre war dabei wesentlich härter als die Finanzkrise 2008/09. Entlassungen müssen zwei bis drei Monaten vorher angekündigt werden. In dieser Zeit muss ein Sozialplan ausgearbeitet werden. Die im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften stimmen ihre Positionen im Vorfeld und während der Verhandlungen laufend ab. Teil des Sozialplans können auch Fortbildungsmaßnahmen für die zu Entlassenden sein, die aus Imagegründen oft von Unternehmen freiwillig angeboten werden. Während der Finanzkrise bemühten sich viele finnische Unternehmen, ihre Beschäftigten solange wie möglich zu halten und nutzen ähnlich wie in Deutschland Kurzarbeit und Beurlaubungen, um Fachkräfte für »die Zeit danach« zu behalten. Die unterschiedliche Behandlung von Arbeitern und Angestellten ist in den letzten Jahren weitgehend verwischt worden zugunsten einheitlicher und relativer sozialer Abfederungen.

Die Entlassungszeiten für den einzelnen Arbeitnehmer hängen von der Länge seiner Beschäftigung im Unternehmen ab. Ist sie unter einem Jahr, sind es lediglich zwei Wochen, während eine Arbeit länger als 12 Jahre ein halbes Jahr Entlassungszeit sichert. Halbwegs sozial bewusst und imagefreundlich bot Nokia Entlassungsbedrohten, die freiwillig ihre Arbeit aufgeben, an, in diesem Fall zwischen fünf und 15 Monatsgehälter zu zahlen.

Eine große Herausforderung für die finnischen Gewerkschaften ist es, individuell anreisende Arbeitssuchende aus Osteuropa zu erreichen bzw. eine Strategie zu finden, wie der Lohndrückerei begegnet werden kann, die durch Beschäftigte osteuropäischer Firmen ausgeübt wird, die nach Lohnsätzen des Heimatlandes arbeiten.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Juli 2011


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