Baltische Bruchlandung
Geplatzte Immobilienblase, horrendes Leistungsbilanzdefizit, hohe Teuerungsraten - in Estland, Lettland und Litauen sind die Boomjahre vorbei
Von Zygmunt Kowalski *
Es war ein detaillierter Bericht über die wirtschaftlichen Aussichten
des Baltikums, den die Danske Bank am 31. Juli veröffentlichte. Trotz
des Umfangs der vom führenden dänischen Geldinstitut angefertigten
Studie, die voluminös wie ein großstädtisches Telefonbuch ist, war deren
Kernaussage knapp: Es geht abwärts im Baltikum, teilweise in
beängstigendem Tempo. Laut der »North Eastern Recap« betitelten
Untersuchung stehen alle drei baltischen Volkswirtschaften vor ernsten
wirtschaftlichen Verwerfungen. Demnach ist die ökonomisch »harte
Landung« in Estland »bereits Realität « geworden. Litauen wird der
Studie zufolge nachziehen. Die düsterste Prognose aber bekam Lettland.
Dessen Volkswirtschaft werde in einer Krise versinken, die bis 2012/2013
andauern könne. Violeta Klyviene, Chefökonomin der dänischen Bank,
sprach von einer »hohen Wahrscheinlichkeit«, daß die lettische und die
estnische Volkswirtschaft bereits dieses Jahr in einer Rezession landen.
Demnach soll das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Lettlands um 0,5 Prozent
schrumpfen, das estnische gar um 0,8 Prozent. Für Litauen prognostiziert
die Studie eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums: 2009 soll es
noch 2,3 Prozent betragen -- nach stolzen 7,7 Prozent im ersten Quartal
2008. Der Absturz der seit fast einer Dekade boomenden lettischen
Wirtschaft ist dramatisch. Das Land konnte oftmals zweistellige
Wachstumsraten verzeichnen. 2006 legte das BIP um 13 Prozent zu. Selbst
2007 stieg die lettische Wirtschaftsleistung noch um zehn Prozent. In
diesem Jahr kam es zur Vollbremsung. Innerhalb weniger Monate sackte das
Wirtschaftswachstum auf nur noch drei Prozent ab. Die Absturzursachen
gleichen sich in den drei Staaten. In Lettland wurde dabei exzessiv
betrieben, was nahezu überall in Osteuropa für einen fast rauschhaften
Aufschwung gesorgt hatte: Konsum auf Pump. Getreu dem großen Vorbild USA
wurde die Konjunktur mittels kreditfinanzierter Binnennachfrage
befeuert. Der Konsum expandierte, stolze Wachstumsraten gaukelten
Wirtschaftsdynamik vor, doch selbsttragend war dieser Aufschwung
niemals. Der lettische Ökonom Morten Hansen beschrieb das in der
österreichischen Presse so: »Jedesmal, wenn man für vier Lat (lettische
Währung, jW) produzierte, konsumierte man für fünf«. Das Geld kam in
Form von Krediten, großzügig vergeben von zumeist skandinavischen
Banken. Volkswirtschaften, die mehr verbrauchen als leisten bzw.
produzieren, geraten in die Schuldenfalle. Lettland baute also ein
extremes Leistungsbilanzdefizit auf. Anfang 2008 mußten die
Verantwortlichen in Riga eingestehen, daß dieses Minus unglaubliche 21,4
Prozent des BIP betrug. In Estland lag die Differenz zwischen
eingeführten und exportierten Gütern, Dienstleistungen und Kapital bei
16 Prozent, in Litauen bei 13 Prozent eines jährlichen
Bruttoinlandsprodukts. Die atemberaubende Geschwindigkeit der
Verschuldung wird z. B.am Wachstum der estnischen Verbraucherkredite um
65 Prozent allein im Jahr 2006 deutlich. Diese hatten schon damals ein
Volumen von 38 Prozent der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung und
von 70 Prozent der verfügbaren Einkommen der Baltenrepublik erreichten.
Es wundert nicht, daß nun die Danske Bank den baltischen Staaten so viel
Aufmerksamkeit zukommen läßt. Denn das Finanzhaus ist seit der 2006
erfolgten Übernahme der finnischen Sampo Bank im Baltikum präsent und
fürchtet nun offenbar um sein ausgeliehenes Geld. Die größten Risiken
auf faulen Krediten sitzenzubleiben haben indes die schwedischen
Geldhäuser Swedbank und SEB. Deren Marktanteil im Baltikum beläuft sich
auf 70 Prozent. So stufte Anfang August die Ratingagentur Moody's die
Swedbank von der ohnehin nicht sonderlich guten Bewertung »B« auf »B -«
herab. Die Bank sei vermittels ihrer Tochtergesellschaft Hansabank zu
stark dem baltischen Finanzmarkt »ausgesetzt«, so Moody's kühl.
Swedbank-Chef Jan Liden beeilte sich zu versichern, daß nur zwischen 0,5
und 0,7 Prozent der von der Hansabank vergebenen Kredite vermutlich
nicht mehr eingetrieben werden könnten. Dies dürfte eine sehr
optimistische Einschätzung sein. Betrug doch der Anteil der überfälligen
Darlehen allein in Estland Anfang 2007, also noch am Vorabend der Krise,
bereits 3,1 Prozent des gesamten Kreditaufkommens. Dazu kommen die
Auswirkungen der geplatzten Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt
hinzu. Jahrelang hat auch die Baubranche zur zahlenmäßig guten
Konjunktur beigetragen, doch nun verfallen die Preise. Massenweise waren
Luxusappartements oder Eigenheimghettos nach westlichem Vorbild aus dem
Boden gestampft worden. Jetzt gibt es erste Investitionsruinen in den
baltischen Hauptstädten. 2008 fielen die Immobilienpreise in Tallinn um
ca. zehn, in Riga sanken sie um sechs Prozent und im litauischen Vilnius
stagniert der Immobilienmarkt derzeit.
Kreditkrise und Einbruch des Immobilienmarkts werden durch die Inflation potenziert. Auch hier ist Lettland vorn. Im vergangenen Mai betrug die Teuerungsrate dort 17,9
Prozent. Estland und Litauen schlagen sich mit einer Inflation um die
elf Prozent herum. Gemeinsam ist allen drei Staaten, daß diese
Geldentwertung einen Großteil der Lohnerhöhungen der vergangenen Jahre
aufzehrt. An denen hatten ohnehin beispielsweise Rentner oder
Staatsangestellten so gut wie nicht partizipiert. Inzwischen erreichen
die Preise in den großen baltischen Städten Weltniveau. Laut estnischem
Statistikamt liegt der Preis für den zur Berechnung der Inflation
zusammengestellten Warenkorb bei Lebensmitteln in Tallin höher als in
New York. Der Mindestbruttolohn indes beläuft sich in Estland auf
umgerechnet 278 Euro monatlich, in Lettland - das ein vergleichbares
Preisniveau hat - auf 230 Euro.
* Aus: junge Welt, 8. August 2008
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