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"Antifaschisten stehen auf einer schwarzen Liste"

Estlands Regierung unterstützt jährliches Veteranentreffen der Waffen-SS – keine Partei protestiert. Gespräch mit Andrej Zarenkov *


Für den 22. September, den Tag der Befreiung der estnischen Hauptstadt Tallinn durch die Rote Armee im Jahr 1944, planen Sie eine antifaschistische Konferenz. Um was geht es am Samstag?

Wir wollen unter dem Motto »22. September: Tag des Widerstands« über Faschismus und den aktuellen Neofaschismus sprechen. Wir wollen damit auch zur Versöhnung zwischen den verschiedenen politischen Lagern in Estland sowie zwischen Esten und Russen beitragen.

Was den Neofaschismus angeht, ist vor allem das jährliche Veteranentreffen der 20. Waffen-SS-Grenadier-Division in der Region Sinimaed berüchtigt ...

Das ist ein europaweites Treffen von bis zu 2000 Faschisten. Da kommen aber nicht nur die Veteranen, zwei Drittel sind junge Leute aus neofaschistischen Bewegungen, sie kommen aus Norwegen, Holland, Belgien und den baltischen Staaten. Sie begrüßen sich dort mit »Heil Hitler«, verbreiten antirussische Losungen und verkaufen Bücher, die den deutschen Faschismus verherrlichen.

Der estnischen Regierung werden Sympathien mit diesem Treffen nachgesagt. Trifft das zu?

Seitdem unser Ministerpräsident bei einem USA-Besuch auf seine Haltung zu dem Treffen in -Sinimaed angesprochen wurde, hält er sich offiziell auf Distanz. Wir wissen aber, daß die Regierung die Organisatoren des SS-Treffens finanziell unterstützt. Und Verteidigungsminister Urmas Reinsalu hat vor wenigen Wochen auf der Versammlung einer weniger bekannten Organisation, der »Union der estnischen Freiheitskämpfer«, in Kuressaare gesprochen und behauptet, die estnischen Legionäre seien Helden gewesen, weil sie für die Unabhängigkeit gekämpft hätten. Auf diese Weise beteiligt sich die Regierung an der Glorifizierung des Nationalsozialismus.

Wie sehen das die anderen Parteien Estlands?

Keine der im Parlament vertretenen Parteien protestiert gegen diese Politik. In Estland glaubt man an das Märchen, die SS-Leute hätten mit den Deutschen für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft, vor allem gegen eine sowjetische Besetzung. Das hat auch damit zu tun, daß Estland in seiner Geschichte fast immer fremdbestimmt war – von Deutschen, Dänen, Schweden und Russen. Es gibt ein großes Bedürfnis nach nationalen Helden, um Estland nachträglich zu einer großen Nation zu machen. Zur Not werden solche Helden eben frei erfunden.

Der frühere Verteidigungsminister Mart Laar wollte die SS-Angehörigen per Gesetz ehren. Was ist daraus geworden?

Diese Pläne hatten in anderen EU-Staaten einiges Aufsehen erregt und Protest ausgelöst. Unsere Regierung war daraufhin sehr besorgt um ihren Ruf in der EU. Es gab deswegen eine Minilösung: Das Parlament hat im März dieses Jahres eine kurze, aber unverbindliche Resolution verabschiedet, in der allerdings behauptet wird, die Angehörigen der 20. Waffen-SS-Division seien Freiheitskämpfer gewesen.

Gibt es wenigstens auf der Straße Proteste gegen die SS-Verherrlichung?

Linke Bewegungen sind in Estland nicht sehr populär (lacht). Es gibt Demonstrationen in Sinimaed, vor allem von Angehörigen der russischen Minderheit. Sie werden von der Sicherheitspolizei, der KaPo, massiv behindert. Potentielle Teilnehmer werden eingeschüchtert. Bei mir erschienen zum Beispiel Polizisten am Arbeitsplatz und forderten meinen Chef auf, mich zu entlassen, falls ich zur Gegendemo gehen sollte. Zum Glück hat er sich darauf nicht eingelassen. Aber viele Angehörige unserer Organisation trauen sich nicht, öffentlich in Erscheinung zu treten, weil sie um ihren Arbeitsplatz fürchten. Die KaPo hat auch geheimdienstliche Kompetenzen, sie überwacht unsere Treffen, hört unsere Telefongespräche ab. Unterstützer aus dem Ausland erhalten Einreiseverbote: Antifaschistien etwa aus Finnland und Lettland stehen auf einer schwarzen Liste und werden an der Grenze festgehalten und zurückgeschickt, damit sie nicht zu den Protesten kommen.

Welche Perspektiven gibt es für Sie?

Wir müssen einen echten Dialog entwickeln, um wenigstens ansatzweise eine Versöhnung und eine gemeinsame Erinnerung an die Vergangenheit zu entwickeln. Dazu soll auch unsere Konferenz beitragen.

Interview: Frank Brendle

Andrej Zarenkov ist Sprecher der Organisation »Welt ohne Nazismus« in Estland

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 20. September 2012


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