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Haziendas zu Hochschulen

In der dünnbesiedelten Sierra will Ecuador eine Universitätsstadt aus dem Boden stampfen. In Yachay sollen Ingenieure und Forscher für die Industrialisierung des Landes ausgebildet werden

Von Christian Selz *

Hoch und karg schießen die Berge der Anden zum Himmel auf. Mal graubraun, mal grün, aber fast nie bewaldet ragen sie in die Wolken, ihre Gipfel darin verborgen. Der moderne Reisebus schiebt sich immer wieder mühsam die Serpentinen der Sierra hinauf, um sich kurz darauf einem neuen Tal entgegenzutasten. Nördlich von Quito dauern die 140 Kilometer auf der Panamericana, jener nicht immer lückenlosen Verbindungsstraße zwischen Alaska und Feuerland, so zweieinhalb Stunden. Es folgen 30 weitere Minuten über enge Dorfstraßen, auf dem letzten Stück nur noch sporadisch gepflastert, dann ist sie erreicht: Ecuadors Universitätsstadt der Zukunft, Yachay. Bald soll die Strecke in der Hälfte der Zeit zu bewältigen sein, die Straßenbauarbeiten laufen bereits.

Yachay bedeutet in der Indiosprache Kichwa »Wissen«. Bald schon sollen in der Reißbrettmetropole die Fachkräfte für die Industrialisierung des Landes ausgebildet werden. Erste Forschungsverträge mit internationalen Konzernen sind schon unter schrieben. »Die Universität wird die Kurse anbieten, die die Industrie braucht, um Spezialisten anstellen zu können«, erklärt Manuel Burbano, beim Staatsunternehmen für den Aufbau Yachays für Unternehmensgründung, Innovation und Technologietransfer zuständig. Ein paar Vorlesungssäle stehen bereits, helle Zimmer von rund 40 Quadratmetern Größe, die eher an moderne Klassenzimmer einer Schule im Grünen erinnern. Eine Wand besteht komplett aus Glas. Draußen vermitteln Ölpalmen und mächtige dickblättrige Bäume einen Hauch von Dschungel. Daß Yachay einmal 140000 Einwohner haben soll, ist noch nicht zu erkennen. In Kleingruppen von 15 Studenten sollen hier die Seminare abgehalten werden. Bereits Ende März begannen für knapp 200 Studienbewerber die ersten Vorlesungen. Biologie, Chemie, Mathematik, Physik, Logik und Englisch stehen in dem 20 wöchigen natur- und ingenieurwissenschaftlichen Vorbereitungskurs auf dem Stundenplan. Künftig sollen in Yachay 10000 Studienplätze zur Verfügung stehen, für die Töchter und Söhne der Andenrepublik ebenso wie für Gaststudenten aus aller Welt. Ecuador, das ist das große Ziel, will seine eigenen Ingenieure, Facharbeiter, Technologieexperten und Forscher ausbilden. Die Zeiten, in denen der hochqualifizierte Nachwuchs gar keine andere Wahl hatte, als ins Ausland abzuwandern, sollen ein Ende finden.

Noch wuchert größtenteils das Gras auf den Haziendas, auf deren insgesamt 4480 Hektar das Prestigeprojekt entstehen soll. Daß die postkolonialen Landgüter der Großgrundbesitzer nicht mehr produktiv oder bereits ganz stillgelegt waren, fällt ins Auge. Nur hier und da ist noch ein kleines Maisfeld zu sehen, ein paar Bananen wachsen am Straßenrand. Sichtbar verarmt ist die durchschnittlich in knapp 2000 Meter Höhe gelegene Region infolge jahrhundertelanger Ausbeutung durch die Kolonialisten und ihre Erben. Die ließen dort meist nur für sich schuften, setzten Verwalter ein und zogen selbst das urbane Leben der Kapitale Quito oder der wärmeren Hafenmetropole Guayaquil vor. Von deren herrschaftlichem Glanz haben die Häuschen des Yachay am nächsten gelegenen Dorfes Urcuqui nichts. Auf den durchhängenden Dächern wuchern Moose, Flechten und Zwergfarne.

»Als die Haziendas vor 30, 40 Jahren dichtgemacht haben, sind wir arbeitslos zurückgeblieben«, blickt Jorge Urwango zurück. »Aber jetzt haben wir wieder eine Zukunft vor Augen.« Der 53jährige stammt aus Mercedes, einem kleinen Dorf in der Nähe. Er ist dort aufgewachsen, in der Zeit des Niedergangs. Nun steht er zusammen mit seinem Kollegen José Miguel Quilca auf dem Dach eines Pavillons, wo sie gerade die Deckschicht aus breitblättrigem Gras festmachen. Quilca, der im nahe gelegenen Dörfchen San Vicente wohnt, ähnelt Urwango nicht nur im Äußeren, in der Arbeitskleidung aus abgewetzter Jeans, ausgewaschener, neonfarbener Warnweste und Krempenhut. Die beiden teilen auch die Lebensgeschichte und die Hoffnungen. »Wir haben das Gefühl, dazuzugehören«, sagt der 62jährige. Er findet es »gut, daß die Regierung nicht einfach billigere und jüngere Arbeiter von außerhalb hergebracht hat«.

Burbano, der eine internationale Gruppe über die Baustelle des Universitätsgeländes führt, begründet das mit der lokalen Verankerung des Projekts, der Einbindung der Lokalbevölkerung, der Schaffung von Akzeptanz. Die ist wichtig, denn Yachay soll Eliten ausbilden, und die werden – darüber machen sich weder die Projektplaner noch die Bauarbeiter gewordenen Bauern Illusionen – zumindest in der ersten Generation nicht aus den historisch von Bildung abgeschnittenen Bergdörfern der Region kommen. »Wir wissen, daß dieses Projekt viele Verbesserungen und wirtschaftliche Entwicklung in die Region bringt, aber unser wichtigstes Anliegen ist, daß wir hier bleiben können und stabile Arbeitsplätze haben«, sagt Urwango. Alle seine Vorfahren, so erzählt er, »haben hier gelebt, unter schwierigen Bedingungen – einige wurden ausgebeutet auf den Haziendas – aber das war ihr Leben«. Lange her ist das noch nicht, doch auf der Baustelle wirken die Worte der Arbeiter wie Erzählungen aus fernen dunklen Tagen.

Der neue Wind, der in Yachay weht, ist deutlich spürbar. Das Leben auf dem Campus wird ein anderes sein als unter den Großgrundbesitzern. Die alte Privatkapelle, in deren Garten ein Limettenbaum grünt, soll künftig als Empfangshalle für internationale Delegationen dienen. Im hinteren Teil entstehen Konferenzräume. Die Studenten wohnen in kleinen Reihenhäuschen, jeweils zu dritt in einer Einheit mit Küche und Bad. Dahinter wachsen kleine Bäumchen, die einmal für einen schattigen Innenhof sorgen sollen. Aus der alten Zuckerverarbeitungsfabrik ertönt emsiges Hämmern, draußen wird schon verputzt. Die alten Bögen, die den Hazienda-Stil transportieren, sollen erhalten bleiben, aber im Inneren werden bald Bücher gewälzt statt Zuckerrohr gepreßt. Eine Bibliothek und ein Laborkomplex entstehen.

»Es ist immer viel billiger, abzureißen und neu zu bauen, aber wir wollen das Kulturerbe erhalten«, sagt Burbano. Daneben wachsen freilich auch etliche Neubauten, hinter deren noch glaslosen Fensterlöchern orange Warnwesten auf und ab huschen. 1050 Arbeiter sind in drei Schichten rund um die Uhr beschäftigt. Die Zeit drängt, bald soll eine immer größere Zahl von Studenten kommen, mit Yachay der Technologiestandort Ecuador wachsen. »Forsche, erneuere, produziere« steht auf der Landkarte des zukünftigen Yachay, die hinter restaurierten Steinsäulen an einer Wand auf dem Campus hängt. Noch sind dort nur Felder zu erkennen und ein paar Höhenmarken der umliegenden Berge. Wenn die Stadt in 15 bis 20 Jahren fertig ist, sollen dort zwischen den Häusern nach den Wünschen der Planer vornehmlich Buslinien sowie Fuß- und Radwege eingezeichnet sein. Autos, in Ecuador ohnehin nur Verkehrsmittel der Reichen, sollen die Reißbrettmetropole nicht verstopfen.

Noch besteht sie größtenteils aus Modellen, kleinen Papphäuschen mit kugeligen Spielzeugbäumchen auf einer Gipskartonlandschaft unter Glas. Ob der Traum Wirklichkeit wird, dürfte nicht zuletzt von der Integration der einheimischen Bevölkerung abhängen. Wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, werden sie den Visionen in den Hochglanzprospekten der staatlichen Planungsorganisation für Yachay zufolge auf die Felder im Umland zurückkehren und die Lebensmittelmärkte der Stadt beliefern. An staatlichen Schulen lernen einige jetzt schon die Kunst der mobilen Bewirtung – Planer und Marketingstrategen würden von Catering sprechen. Erste Ergebnisse sind sichtbar: Zum Mittag werden Quimbolitos, in breite Achira-Blätter eingewickelte, über Wasserdampf gegarte, feste Bälle aus einem Eier-Rosinen-Maisbrei gereicht. Das Rezept ist uralte Küchentradition in den Anden, nur unter glänzenden Silberglocken wurde es zuvor vermutlich selten versteckt. »Das Essen wurde anfangs nicht so serviert, daß man es einer Microsoft-Delegation hätte anbieten können«, sagt Burbano mit einem Schmunzeln. Das mag befremdlich nach Oberschichtsallüren klingen, doch die Botschaft ist simpel: In Yachay soll es keine halben Sachen geben, Ecuador will Standards setzen – auch auf dem Teller.

Kleine lokale Unternehmen sollen dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Regierung in Quito will, daß die von wirtschaftlicher Entwicklung und Perspektiven bisher abgehängten ländlichen Gebiete aufholen. Der Mensch, das werden heimische Ökonomen nicht müde zu betonen, soll im Mittelpunkt der Entwicklung stehen. Genau deswegen wird Yachay auch nicht einfach am Rande einer der Metropolen hochgezogen, sondern ganz bewußt weit draußen auf dem Land. »Das Bruttosozialprodukt ist die Formel, um sämtliche Volkswirtschaften zu messen und zu vergleichen«, sagt Yachay-Chef Héctor Rodríguez, »aber wenn wir souverän sind, brauchen wir diesem veralteten Modell nicht mehr zu folgen«. Nur aus finanzieller Sicht werde das Leben betrachtet, führt der Soziologe aus, um schließlich Marx zu zitieren: »Die einzige reale Quelle der Wertschöpfung ist Arbeit«, sagt er. »Und deswegen müssen wir soziale Aspekte berücksichtigen, wir können nicht von Humankapital reden, sondern nur von Humantalent«.

Genau das soll in Yachay gefördert werden. »Wir haben eine Menge Potential, denn die einzigen, die Zugang zur Gründung eines Unternehmens haben, sind diejenigen, die in Familien mit Geld geboren werden. Das zu ändern, daran arbeite ich«, sagt Burbano. Wenn er ins Reden kommt, schwingt häufig eine Portion Pathos mit. Von Chancen, sozialer Gerechtigkeit und Zukunft spricht er, für eine Generation, deren Hoffnungen der erst 22jährige auch aufgrund seines Alters nicht nur beschreibt, sondern verkörpert.

Ein Selbstläufer wird das Projekt dennoch nicht werden, die Unwägbarkeiten sind groß, mit Reißbrettmetropolen dieser Dimension gibt es international wenig Erfahrungen – zumal Yachay anders als die brasilianische Hauptstadt Brasilia auch als vollwertige Wohnstadt aufgebaut werden soll. Zu den sozialen Faktoren, zum Zuzug auf der Suche nach einfacher Arbeit und seinen Auswirkungen auf die Region gibt es zwar hübsche Ideen von Einbindung und Entwicklung, aber keine tatsächlichen Vergleichswerte. Dazu kommt der Pakt mit Teufel, der Yachay zugrunde liegt. Internationale Konzerne von Microsoft bis Telefonica werden sich sicherlich nicht vorrangig zum Wohl der Allgemeinheit und zum Aufbau des Sozialismus des 21. Jahrhunderts in der Universitätsstadt niederlassen. Wenn sie kommen, dann wollen sie günstige Rahmenbedingungen ausnutzen und letztendlich Profite erwirtschaften. Die Macher Yachays sind selbstverständlich nicht so naiv, das nicht zu wissen. Aber sie glauben, die geballte Konzernmacht lenken zu können. Will Ecuador in der internationalen Forschung mithalten, so sieht man es in Quito, hat das Land wohl auch kaum eine andere Wahl.

»Vor acht Jahren wäre so ein Projekt nicht möglich gewesen«, sagt Burbano mit Blick auf die Zeit vor Präsident Rafael Correa, »aber jetzt ist die Regierung da wirklich hinterher«. Der junge Mann aus Quito bezeichnet Yachay als seine Herzensangelegenheit. Für ihn könne die Universitätsstadt das Herzstück einer gerechten Diversifizierung werden, einer eigenen Wirtschaft, einer Zukunft, ja eines besseren Lebens. Die Notwendigkeit der Industrialisierung in Ecuador ist offensichtlich.

Ob sich die Wünsche der Bauern von Mercedes, San Vicente und all den anderen kleinen Andendörfern erfüllen, wird sich wohl erst in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zeigen. Die Alten hier haben ihr Leben lang nur Ausbeutung und karge Verhältnisse gekannt, sie haben nicht viel zu verlieren. Und sie haben einen Traum, den sie eisern am Leben halten und der auf der Baustelle von Yachay jede mögliche Skepsis verdrängt: »Ich hoffe, daß meine Kinder eines Tages hier studieren können«, sagt Jorge Urwango. »Ich bin einfach froh, daß sie in einer guten Umgebung unter besseren Bedingungen leben, lernen und arbeiten können, als wir sie auf den Haziendas hatten.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 19. Juli 2014


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