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"Gegen eine zu starke Privatisierung des Wissens ankämpfen"

Gespräch. Mit Guillaume Long. Über das ecuadorianische Bildungssystem, die Universitätsstadt Yachay, Biopiraterie und die Zusammenarbeit unter den ALBA-Staaten *


Guillaume Long ist seit 2013 Minister für Wissen und Humantalent in Ecuador. Von 2011 bis 2013 leitete er den Rat zur Evaluation der Höheren Bildung (CEAACES). In der Regierungspartei Alianza PAIS steht er derzeit außerdem der Kommission für Internationale Beziehungen vor.


Am kommenden Dienstag beginnt an der technischen Universität Yachay nahe den ecuadorianischen Anden das Semester. Die Hochschule und die angrenzende Stadt wurden am Reißbrett entworfen, im Mai 2012 begann man, sie auf einem riesigen Gelände zu errichten. Wie steht es um dieses Vorzeigeprojekt der Regierung insgesamt?

Das Projekt läuft sehr gut. Während der Bauarbeiten haben einige vorhergesagt, das werde nicht funktionieren, aber es läuft bereits, es gibt dort rund 400 Studenten und Professoren von höchstem akademischen Niveau. Seit einem halben Jahr füllt sich der Campus mit Leben, seitdem laufen bereits die Vorbereitungskurse für das Universitätsstudium. Wir knüpfen große Hoffnungen an Yachay. Unser Land hat immer Rohstoffe abgebaut, Erdöl gefördert und tropische Landwirtschaft betrieben.

Unsere Regierung setzt aber nicht nur auf Umverteilung, wie wir das im Rahmen der Armutsbekämpfung oder der Reduktion von Einkommensungleichheiten bereits getan haben. Wir wollen auch neuen und größeren Reichtum schaffen durch eine Veränderung der Produktionsweise und durch bessere Produktionsmittel. Wir wollen Wissen schaffen und das Land industrialisieren. Dafür stellen wir auch das entsprechende Budget und die notwendigen Ressourcen zur Verfügung. Das Projekt hat außerdem viel Aufmerksamkeit bei strategischen Partnern weltweit erregt – bei Universitäten in Europa, den Vereinigten Staaten und Lateinamerika, die in Yachay bereits jetzt mitarbeiten.

Gibt es noch andere Projekte wie Yachay?

Es gibt insgesamt vier Großprojekte im Hochschulbereich, darunter Yachay. Einmal wird eine Universität der Künste in Guayaquil gebaut, der größten Stadt Ecuadors. Wir denken, dass Kunst Inspiration bedeutet und kritisches Denken vermittelt, wir brauchen sie, um die Demokratie auszubauen und die Wissenschaft voranzubringen. Eine Gesellschaft ohne Kunst ist keine lebendige Gesellschaft.

Wir bauen außerdem eine Universität für Erziehungswissenschaften in der Stadt Azogues im Süden des Landes auf. Wenn wir keine gute Bildung an Grund- und weiterführenden Schulen haben, werden wir auch keine guten Universitäten und keine gute Berufsausbildung haben. Wir werden kein Humankapital haben, das zu einen qualitativen Sprung des Landes beiträgt – von einer auf Rohstoffen basierenden, untätigen Gesellschaft zu einer kreativen.

Zudem bauen wir eine Amazonas-Universität namens Ikiam. Diese errichten wir in einem Naturschutzgebiet, das das natürliche Laboratorium dieser Bildungseinrichtung sein wird. Dort liegt der Fokus auf den biologischen und den Lebenswissenschaften, sie soll »Universität der Biodiversität« heißen. Wir können die Artenvielfalt in der Flora und Fauna nutzen, um Biotechnologie zu erforschen, unsere eigene Pharmaindustrie aufzubauen und die Umwelt zu schützen.

Wie sollen diese Ziele erreicht werden?

Um das Amazonasgebiet zu bewahren, müssen wir natürlich die Menschen sensibilisieren, aber vor allem gelingt der Umweltschutz, wenn die Bewahrung des genetischen Erbes des Waldes als wertvoller erachtet wird als das Holz oder das Erdöl, das unter der Erde liegt. Es ist also sehr wichtig, dass wir das biologische Erbe Ecuadors nutzen. Dieses wird zur Zeit vor allem von Ländern verwertet, die Biopiraterie betreiben. Es gibt Institutionen aus Europa und den Vereinigten Staaten, die in das Amazonasgebiet fahren und dort mit den Indigenen sprechen. So lernen sie die Eigenschaften der Pflanzen kennen, nehmen diese heimlich und illegal mit, stellen Untersuchungen an und lassen sich die Forschungsergebnisse im Ausland patentieren. In letzter Zeit gab es davon zwei wichtige Fälle: Vor kurzem wurde Epibatidin patentiert, das Sekret eines giftigen Frosches in Ecuador, das vermutlich das Morphium der Zukunft ist. Es wird außerdem ein Pilz erforscht, der möglicherweise Plastik zersetzt. Das wäre eine unglaubliche Entdeckung! Von diesen Errungenschaften hat aber Ecuador im Moment nichts. Deshalb ist Ikiam für uns so wichtig – diese Universität ist eine souveräne Antwort auf diese Problematik. Wir sagen damit, wir werden selbst das Amazonasgebiet wissenschaftlich untersuchen und unsere Wirtschaft durch diese Forschung bereichern.

In Yachay wird auch mit Konzernen zusammengearbeitet. Besteht nicht das Risiko, dass diese die Lehre und Forschung beeinflussen?

Die Universitäten funktionieren mit öffentlichen Geldern. Wir gehen also nicht das Risiko ein, dass Konzerne uns sagen, was wir erforschen sollen. Bei Yachay sind die groben Vorgaben für die Forschung an der landesweiten Planung orientiert. Auf nationaler Ebene gibt es alle vier Jahre einen Plan, und die darin enthaltenen Themen sind nicht von einem Unternehmen festgelegt worden, sondern vom ecuadorianischen Staat im Sinne der Bevölkerung. Die medizinische Forschung soll beispielsweise nicht dazu dienen, Gesundheitsprobleme der reichen Staaten zu lösen, sondern die unseres Landes. Wenn wir Unternehmen einladen, sagen wir das von Anfang an. Die Regeln, die die Universität Yachay aufstellt, sind sehr modern, sicher und eindeutig. Sie brechen mit bisherigen Paradigmen. Yachay ist nicht der übliche »Silicon Valley«-Wissenschaftspark, sondern basiert auf einer anderen Art, über Wissenserwerb und -vermittlung nachzudenken.

Wie sehen diese Regeln aus?

Das geistige Eigentum wird dort offen für die gesamte Universität sein. Es wird eine gemeinsame Verwaltung der Patente geben, der Staat wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Man kann dort also nicht einfach Wissen abgreifen, gehen und von den Patenten profitieren, ohne die Erkenntnisse zu teilen. Auch der Boden wird anders verwaltet werden. Wir arbeiten gerade eine Methode aus, die ohne Wertzuwachs des Bodens funktioniert. Wie kann sich der Wert des Bodens vervielfachen, obwohl man gar nichts daran gemacht hat? Wir wollen das vermeiden und versuchen außerdem, ein Leasingsystem aufzubauen. Auch große Städte wie New York experimentieren mit so etwas. Wir möchten Teil der Avantgarde in dieser Diskussion um Besitz an Land sein und setzen uns auch mit dem Konzept von geistigem Eigentum intensiv auseinander.

Worum geht es bei dieser Auseinandersetzung?

Wir glauben, dass dieses Konzept weltweit bald überholt ist. In vielen Ländern ist es ineffizient, denn die Überprivatisierung des geistigen Eigentums beschränkt den Wissenstransfer. Wenn es zu viele Patente gibt, werden Erkenntnisse nicht ausreichend verbreitet. Das kann negative Effekte auf die Innovationsfähigkeit haben. Es gibt zwar internationale Regelungen, die wir natürlich einhalten werden, generell wollen wir aber gegen zu viele Patente und eine zu starke Privatisierung des Wissens ankämpfen. Im 21. Jahrhundert werden wir diesbezüglich einen paradigmatischen Wandel erleben. Das wird ein großer Kampf, denn einige verteidigen eine sehr konservative Sicht darauf, aber weltweit stellen wir fest, dass eine zu umfassende Privatisierung für die Menschheit nicht gut ist.

Wie sieht die staatliche Finanzierung der Universitäten denn derzeit aus?

In Ecuador ist das Studium an staatlichen Universitäten kostenlos. Das war vor dem Regierungsantritt von Präsident Rafael Correa nicht so. In der neuen Verfassung haben wir das aber festgehalten. Das bedeutet, dass die Hochschulbildung finanziert werden muss, und das geht nur, wenn dafür der politische Wille gegeben ist. Ecuador wendet derzeit zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die Hochschulbildung auf. In Lateinamerika werden dafür durchschnittlich 0,8 Prozent des BIP investiert. Das OECD-Mittel liegt bei 1,7 Prozent, das ist das, was die reichen Länder dafür aufbringen. Dies beweist zum einen den politischen Willen, die staatliche Bildung zu finanzieren, zum anderen, dass wir nicht von privaten Investitionen abhängig sein werden. Das wäre außerdem verfassungswidrig.

Aber wenn Ecuador ohnehin nicht auf die Investitionen angewiesen ist, wäre es nicht einfacher, auf diese zu verzichten?

Es gibt Firmen, die Neues ausprobieren wollen. Viele Firmen sehen ein, dass eine zu starke Privatisierung von Wissen nicht gut für die menschliche Kreativität und den wissenschaftlichen Fortschritt ist. Einige erkennen, dass die Welt dabei ist, sich zu verändern. Außerdem wollen wir nicht mit riesigen Multis zusammenarbeiten. Wir wählen also aus. Nicht interessiert sind wir beispielsweise an Unternehmen, die auf Militärtechnik zurückgreifen oder an der Privatisierung von Saatgut beteiligt sind.

Sie sagten bereits, dass eine gute grundlegende Bildung Voraussetzung für gute Universitäten ist. Welche Programme gibt es an Grundschulen und weiterführenden Schulen?

Die Primar- und Sekundarstufe ist für uns das Allerwichtigste. Ohne eine gebildete Bevölkerung kann man nicht die Struktur einer Gesellschaft verändern: Für Demokratie braucht es eine gebildete Wählerschaft, und um das Land zu industrialisieren, braucht es eine qualifizierte Arbeiterschaft. Im Moment ist das Bildungsministerium das Ministerium mit dem größten Budget – Zwölf Prozent des landesweiten Etats, nur für die Primar- und Sekundarstufe. Das ist im Vergleich zu den anderen lateinamerikanischen Ländern enorm hoch. Laut Verfassung müssen wir sechs Prozent des BIP in Grundschul- und weiterführende Bildung investieren. Da die Ausgaben früher so gering waren, können wir diesen Wert nicht über Nacht erreichen, in der Verfassung ist ein jährlicher Anstieg um 0,5 Prozent vorgeschrieben. Wir werden bald fünf Prozent erreichen.

Was bedeutet das in der Praxis?

In erster Linie bauen wir flächendeckend Schulen. Früher sind nicht alle zur Schule gegangen, in sieben Jahren Bürgerrevolution mit der Regierung von Rafael Correa haben wir das geschafft. Was die Primarstufe bis 16 Jahre angeht, haben wir unser Ziel bereits erreicht. Bei den weiterführenden Schulen decken wir derzeit etwa 89 Prozent des Bedarfs ab.

Außerdem arbeiten wir an der Qualität der Bildung. Manches politische Programm bezieht sich nur auf die Deckung des Bedarfs, berücksichtigt aber nicht die Qualität. Das betrifft den gesamten öffentlichen Dienst, auch die Sozialversicherung oder das Gesundheitswesen. Wenn aber die Qualität nicht stimmt, wird es ein Zweiklassensystem geben – gute, private Versorgung für die Reichen und schlechte, staatliche für die Armen. Wir haben ein Programm, die sogenannten Milleniumsschulen. Im Vergleich zu diesen schneiden die privaten Schulen schlecht ab. Bisher haben wir fast 50 gebaut, wir brauchen aber 900. Wir wollen also perspektivisch alle alten Schulen ersetzen.

Das wichtigste aus meiner Sicht sind aber die Lehrer. Diese haben früher 250 Dollar pro Monat verdient, heute bekommen sie mindestens 850 Dollar. Aber wir wollen ihr Gehalt weiter anheben, um den Beruf des Lehrers aufzuwerten. In den Ländern, in denen es ein hervorragendes Bildungssystem gibt, ist es eine Ehre, Lehrer zu sein, etwa in Finnland. Wir wollen für sie außerdem eine gute akademische Ausbildung gewährleisten, deshalb bauen wir ja die Universität für Erziehungswissenschaften.

Sie haben den privaten Bildungssektor erwähnt. Wie viele private Schulen und Universitäten gibt es in Ecuador, und wie schneiden sie im Vergleich zu den öffentlichen ab?

Es gibt private Grundschulen und Colleges, der größte Teil der Bevölkerung geht aber auf die öffentlichen. In den unteren Klassen ist das Niveau recht ähnlich, aber auf der High-School-Ebene entwickelt sich das auseinander. Die privaten Schulen, für die man sehr viel zahlen muss, sind besser. Das hat auch mit dem Niveau der Lehrer zu tun.

In Lateinamerika ist folgendes sehr typisch: Es gibt private Eliteuniversitäten und -schulen, das öffentliche Bildungssystem auf mittlerem Niveau und dann die »Garagenuniversitäten« von sehr niedriger Qualität. In Mexiko heißen sie »Kükenuniversitäten«. Im neoliberalen Fieber der 90er wurden in Ecuador an jeder Ecke Schulen und Universitäten gegründet. Per Verfassungsauftrag gab es eine Evaluation aller Hochschulen. Im Jahr 2008 gab es 71 Universitäten, davon wurden 45 in der Zeit von 1992 bis 2006 gegründet, also über die Hälfte. Viele davon waren miserabel.

Wie hat der ecuadorianische Staat darauf reagiert?

Wir sind sehr hart vorgegangen. Ich war damals der Vorsitzende des Rates, der diese Untersuchung durchgeführt hat, deswegen war ich es, der darauf eine Antwort finden musste. Wir haben 14 Universitäten auf einen Schlag geschlossen und später drei weitere – insgesamt also 17 Hochschulen. Das hat vorher noch kein Land in Lateinamerika gemacht, denn sich mit den Universitäten anzulegen, ist politisch sehr schwierig. An diesen Hochschulen waren acht Prozent aller Studenten, diesen mussten wir einen anderen Platz anbieten, damit sie weiterstudieren konnten. Der akademische Schwindel an den »Garagenuniversitäten« ist grundlegender Bestandteil des Neoliberalismus und zeigt, dass Bildung aufgehört hat, ein öffentliches Gut zu sein. Sie mag privat oder staatlich sein, aber letztlich wirkt sie immer auf die Gesellschaft zurück: Die Ärzte, die aus den »Garagenuniversitäten« kommen, untersuchen Patienten, und deren Recht ist es, eine gute Gesundheitsversorgung zu bekommen. In diesem Sinne betrachten wir sowohl die private als auch die staatliche Bildung als öffentliches Gut. Dieses darf und muss vom Staat geschützt werden. Die Schließung der Universitäten war eine Konsequenz daraus. Wir haben keine Schulen geschlossen, aber viele haben selbst zugemacht, denn mit der neuen staatlichen Infrastruktur sind viele ärmere Leute von den schlechten privaten Schulen auf die besseren öffentlichen gewechselt.

Was bedeutet für die Bildungspolitik die Zusammenarbeit mit anderen Ländern, insbesondere mit den ALBA-Staaten?

Jeder Staat hat seine Stärken, auf die wir bei der Zusammenarbeit setzen. Mit den ALBA-Staaten ist die Zusammenarbeit natürlich ganz besonders. Diese ist viel symmetrischer als mit anderen Staaten, und uns verbinden sehr freundschaftliche Beziehungen mit diesen Ländern. Auch diese haben verschiedene Stärken. Kuba ist im Bildungssektor am weitesten fortgeschritten.

Die ALBA-Staaten haben einen Bildungsrat gebildet, in dem wir viel gemeinsam diskutieren. Ecuador hat sehr spezifische Ansätze. Das hat insbesondere damit zu tun, dass Correa einen Schwerpunkt auf die wissenschaftlich-technische Entwicklung legt. Darüber konnten wir mit unseren Freunden von ALBA eine sehr interessante Debatte führen. Diese haben mit viel Bewunderung beobachtet, was wir in Ecuador gemacht haben. Schließlich setzen wir uns mit Problemen auseinander, mit denen viele lateinamerikanische Staaten konfrontiert sind.

Interview: Lena Kreymann

* Aus: junge Welt, Samstag, 25. Oktober 2014


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