Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ecuadors Mühen mit der Bürgerrevolution

Maßgeschneiderte Verfassung für Präsident Rafael Correa

Von Gerhard Dilger *

Ecuadors »Bürgerrevolution« geht in die nächste Etappe: Am Donnerstag wird eine neue Verfassung verabschiedet -- der institutionelle Kern des linken Reformprojekts. Die Opposition kritisiert den Machtzuwachs für den Präsidenten. Im September soll dann die Bevölkerung per Referendum das letzte Wort haben.

Es sind bewegte Tage in Montecristi. Das politische Gravitationszentrum Ecuadors liegt derzeit in der Kleinstadt in der Pazifiktiefebene, wo der Verfassungskonvent seit November 2007 tagt. Rockkonzerte und Prozessionen begleiteten die letzten Debatten.

In Montecristi wurde auch Nationalheld Eloy Alfaro geboren. Der liberale General führte vor 100 Jahren einen Modernisierungsschub an. Das ihm gewidmete Mausoleum auf einem Hügel südlich der Stadt ist ein überdimensionierter, von zwei stilisierten Federkronen aus Stahl eingerahmter roter Wurm. Innen reckt sich ein riesiger Torso des Reformers in die Höhe, umgeben von Szenen aus der Geschichte des südamerikanischen 14-Millionen-Landes, die aus der Hochzeit des sozialistischen Realismus zu stammen scheinen. Acht Monate für eine neue Verfassung

Der Mischung der Stile in der patriotischen Pilgerstätte wirkt wie ein ironischer Kommentar zu dem Großversuch, der jetzt in den beiden benachbarten Glaskästen zu Ende geht: Dort haben 130 gewählte Volksvertreter acht Monate lang eine neue Verfassung für Ecuador erarbeitet. Sie wird der institutionelle Kern der »Bürgerrevolution«, die Präsident Rafael Correa seit seinem Amtsantritt im Januar 2007 anführt.

In einer fast 20-stündigen Marathonsitzung stimmten die Abgeordneten am vergangenen Sonnabend (19. Juli) über die letzten der insgesamt 444 Artikel ab, gegen die bis zur Abstimmung des Gesamttextes in den kommenden Tagen noch Einspruch erhoben werden kann. Zuvor hatte der 45-jährige Staatschef zusammen mit der Regierungsfraktion Acuerdo País (AP -- Abkommen für ein stolzes und unabhängiges Vaterland) strittige Punkte geklärt.

So ist die Indianersprache Kichwa nun nicht mehr die zweite offizielle Sprache neben dem Spanischen - obwohl zuvor 67 Abgeordnete eine entsprechende Petition unterschrieben hatten. Die AP-Mehrheitsströmung führte Kostengründe an, Mónica Chuji war entsetzt. Das Konzept der Interkulturalität, das in der Verfassung festgeschrieben ist, wird »ein leeres Gefäß«, sagte die profilierteste Vertreterin der Indígenas im Regierungslager. »Komplexe und rassistische Haltungen« machte Sprecher Humberto Cholango aus, der Sprecher der Hochland-Indígenas. Sie wollen nächste Woche entscheiden, ob sie sich für ein »Ja« beim Verfassungs-Referendum am 28. September einsetzen.

Lange Zeit war es gelungen, ähnliche Fehler wie in Venezuela und Bolivien zu vermeiden, wo der angestrebte Systemwechsel weg vom Neoliberalismus ebenfalls durch einen veränderten Verfassungsrahmen flankiert werden soll. Hugo Chávez etwa scheiterte Ende 2007 mit dem Versuch, eine in kleinen Zirkeln ausgetüftelte »sozialistische« Reform seiner Verfassung aus dem Jahr 1999 per Volksabstimmung absegnen zu lassen. Und in Bolivien entschied sich Evo Morales dafür, das neue Grundgesetz im Alleingang durchzusetzen. Dadurch jedoch spielte er letztlich der rechten Opposition in die Hände, die seither auf weitere Polarisierung setzt. Neugründung Ecuadors mit Partizipation

In Ecuador hingegen wurde Partizipation ganz groß geschrieben -- bis zum Juni. Alberto Acosta, der neben Staatschef Correa bislang wichtigste Protagonist der »Bürgerrevolution«, hatte als Präsident des Verfassungskonvents sieben Monate lang Delegationen aus allen Landesteilen empfangen. Obwohl die Regierungsfraktion über eine bequeme Zwei-Drittel-Mehrheit verfügte, band der rot-grüne Ökonom reformwillige Oppositionelle in die Debatte ein.

Schließlich geht die Idee der »Neugründung« Ecuadors durch eine verfassunggebende Versammlung auf einen Vorschlag des Indígena-Dachverbandes CONAIE aus dem Jahr 1990 zurück. Die indigenen Volksbewegungen bildeten seither den Kern des Widerstandes gegen den Neoliberalismus, doch im Wahlkampf 2006 lehnten sie ein Zusammengehen mit dem oft arrogant auftretenden Correa ab. Jeder dritte Ecuadorianer ist Indianer.

Hoffnung auf das Ende der neoliberalen Nacht

Die Verfassung hat eine Neuordnung und Stärkung staatlicher Instanzen zum Ziel, letztlich das »Ende der langen neoliberalen Nacht«, wie Correa immer wieder betont. Am Verfassungsprozess, den sie 2007 zweimal mit großen Mehrheiten unterstützt hatten, konnten sich die Ecuadorianer durch Eingaben an eine der zehn Arbeitsgruppen oder über das Internet beteiligen.

Doch trotz aller Bemühungen um Transparenz wirkte das Treiben in Montechristi manchmal seltsam entrückt. Correa griff wiederholt mit Rücktrittsdrohungen in die Debatten ein, und der Konvent verabschiedete anstelle des beurlaubten Kongresses nebenbei noch eine Handvoll Gesetze. An patriotischen Gedenktagen wurden im Plenum lange Reden geschwungen, und die Medien interessierten sich mehr für parteipolitischen Hickhack als für inhaltliche Debatten.

Mitte Juni war nicht einmal ein Fünftel des Verfassungstextes verabschiedet. Im Politbüro, dem mit Correa-Getreuen besetzten AP-Führungsgremium, setzte der Staatschef den 26. Juli als Endtermin für die Verabschiedung der Verfassung durch. Daraufhin trat Acosta als Konventspräsident zurück. Er sei nicht bereit, die Debatte und die Qualität des Textes dem Zeitdruck zu opfern, sagte er. Allerdings stellte er klar, dass er sich weiterhin als Teil des linken Projekts betrachtet.

Anders als der Machtpolitiker Correa denkt Acosta eher langfristig. Zur Debatte über einen lateinamerikanischen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« hat der 60-jährige Intellektuelle die bisher originellsten Beiträge beigesteuert. An einem typischen Tag fernab von Montecristi gab er morgens ein halbstündiges Live-Interview im Radio, hielt anschließend eine kämpferische Rede auf einem Treffen linker Gewerkschafter in der Hauptstadt, nahm in einer nahelegenen Provinzhauptstadt an zwei Diskussionrunden über die Verfassung teil und referierte abends an der Katholischen Universität von Quito ganz grundsätzlich über das »gute Leben«, den Kern seiner Gesellschaftsvision, den er dem Kichwa-Konzept »sumak kawsay« entlehnt hat.

Die Ecuadorianer müssten das koloniale Denken überwinden, sagt Acosta: »Man hat uns eingeredet, dass wir am besten die Entwickungswege der so genannten entwickelten Länder wieder neu auflegen müssten«. Doch stattdessen müsse der Mensch statt des Kapitals ins Zentrum der Wirtschaftsweise gerückt werden: »Das 'gute Leben' entsteht aus dem kollektiven Leben der indigenen Völker. Angestrebt wird das harmonische Zusammenleben zwischen den Menschen sowie zwischen Mensch und Natur.«

Auf seine Initiative hin wurden in der neuen Verfassung die Rechte der Natur verankert -- ein weltweites Novum. »Die westliche Gesellschaft betrachtet die Natur nicht als Ganzes, sondern vor allem als Ressourcen, die ausgebeutet, verkauft oder gekauft werden müssen«, stellt er fest, »ähnlich wie früher die Sklaven.« Der Markt, aber auch der Staat müssten als Wirtschaftsakteure von den Bürgern kontrolliert werden, meint Acosta und definiert Sozialismus als »demokratischen Prozess ohne Ende«.

Funkstille zwischen den beiden Protagonisten

Im Tauziehen mit Correa, der einen klassischen Wachstumskurs verfolgt, zog Acosta nun den Kürzeren. Rückendeckung erhielt er von der indigenen Bewegung und der unabhängigen Linken. An Regierungsämtern sei er nicht interessiert, sagt Acosta trotzig, »Macht um der Macht willen macht dumm«. Gegenüber Journalisten vermeidet er direkte Kritik an Correa, doch noch herrscht Funkstille zwischen den beiden früheren Freunden. In den nächsten Wochen will er dennoch für ein »Ja« bei der Volksabstimmung werben, denn »die Verfassung ist nicht von Correa oder für Correa, sie gehört dem ecuadorianischen Volk«. Entscheidend sei zudem ihre Umsetzung in der Gesellschaft, und da stehe man noch ganz am Anfang. León Roldós, der das Plenum am Sonnabend ebenso wie die indigenen Pachakutik-Parlamentarier aus Protest verlassen hatte, weist auf das entscheidende Dilemma hin. »Sieben Monate und 20 Tage lang haben wir über Rechte und Prinzipien gearbeitet, aber in den letzten zehn Tagen wurden Dinge zum Staatsaufbau hineingeschrieben, die nie im Plenum diskutiert wurden«, klagt der prominente Sozialdemokrat. Die neu eingerichteten Transparenz- und Kontrollinstanzen würden künftig von Bürgern besetzt, an deren Ernennung der Präsident beteiligt sein soll. Als »sehr gut« bewertet er die Verfassung in den Aspekten »Romantisches, Rechte und Prinzipien«, in Sachen Demokratie sei sie jedoch »mangelhaft«.

Rafael Correa sieht die Verfassung vor allem als machtpolitisches Instrument. Das zeigt sich auch in Frage der Wiederwahl: Sollten die Ecuadorianer die Verfassung Ende September annehmen, finden Anfang 2009 Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, die die rechte Opposition auf dem falschen Fuß erwischen dürften. Danach könnte sich der Staatschef noch einmal wiederwählen lassen. Läuft alles nach Plan, würde Correa demnach bis 2017 amtieren.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Juli 2008


Zurück zur Ecuador-Seite

Zurück zur Homepage