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"Für mich hat allein die ecuadorianische Bevölkerung Bedeutung"

Präsident Rafael Correa im Interview - Am 30. November wurde die verfassunggebende Versammlung eröffnet, ein historischer Tag

Der Freitag, der 30. November 2007, ist für Ecuador gewiss ein historischer Tag: In der Hauptstadt Quito wird die verfassunggebende Versammlung feierlich eröffnet. Erklärtes Ziel des amtierenden Präsidenten Correa und der ihn stützende Regierungspartei "Alianza País" ist es, per Verfassung dem Sozialismus den Weg zu öffnen.
Im Folgenden dokuemntieren wir hierzu einen Bericht sowie ein hochinteressantes Interview mit Präsident Correa.



Ecuador vor Neugründung

Verfassunggebende Versammlung beginnt mit der Arbeit. Rechte Parlamentarier rufen zur Strafverfolgung von Regierungsanhängern auf

Von Harald Neuber *


Über 800 Personen aus dem In- und Ausland werden am heutigen Freitag im ecuadorianischen Montecristi erwartet, um der feierlichen Eröffnung der verfassunggebenden Versammlung beizuwohnen. In der 500 Kilometer von der Kapitale Quito entfernten Küstenstadt wird das Gremium eine neue Konstitution ausarbeiten, die auf dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts aufbauen soll. Das erklärte Präsident Rafael Correa vor Beginn der Arbeit. Ecuador ist damit nach Bolivien und Venezuela das dritte Land der Region, das sich die Etablierung eines modernen Sozialismus zueigen macht.

Correas Regierungspartei Alianza País (AP) kann den kommenden sechs Monaten – diese Frist ist für die Verfassungsnovelle zunächst vorgesehen – gelassen entgegensehen. Bei der Wahl der Konventsmitglieder hatte die AP im April dieses Jahres 70 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen können. Sie verfügt damit über 80 der insgesamt 130 Sitze. Mit dieser absoluten Mehrheit können die Regierungsvertreter alle Entscheidungen auch gegen den Widerstand oppositioneller Gruppen treffen. Im Vorfeld haben die AP-Abgeordneten keinen Zweifel daran gelassen, daß sie dieses Recht gemäß dem Wählerauftrag auch wahrnehmen werden: Die nächstplazierte Partei hat schließlich gerade einmal sieben Prozent erhalten. Weil die Kräfteverhältnisse klar sind, haben die Regierungsanhänger bereits vor dem offiziellen Beginn der Arbeit mit den Abstimmungen über die Arbeitsagenda begonnen. Währenddessen traf in Montecristi am Dienstag eine Karawane von 200 Personen ein. Sie übergaben den Konventsmitgliedern der Alianza País Vorschläge für Verfassungsänderungen, die sie gemeinsam mit Basisgruppen und sozialen Bewegungen zusammengetragen haben.

Der eigentliche Konflikt wird nicht in der verfassunggebenden Versammlung ausgetragen werden, sondern mit dem Ein-Kammer-Kongreß. Die Regierungsfraktion im Konvent will ihn als erste Maßnahme auflösen. Dieses Vorgehen entspricht zwar der Verfassung, weil mit der Novelle der Staat quasi neu gegründet und der bisherigen Legislative sowie den übrigen Staatsorganen damit die Grundlage entzogen wird. Trotzdem wehren sich die Vertreter des »alten Ecuador« mit aller Kraft gegen ihre Entmachtung. Der Präsident des Senats, Jorge Cevallos, kündigte gemeinsam mit weiteren Parlamentariern an, eine Auflösung der Legislative nicht anzuerkennen. Zugleich rief er Anhänger der Opposition auf, den Senat zu verteidigen. Als die Regierungspartei AP unlängst zu einer Unterschriftenaktion zugusten der Auflösung des Kongresses aufrief, forderte Cevallos die Staatsanwaltschaft auf, jene strafrechtlich zu verfolgen, die die Aktion mit ihrer Unterschrift unterstützen. Der Appell verhallte ungehört.

Das Regierungslager reagiert bisher gelassen auf die konfrontative Haltung der Opposition. Demonstrativ kündigte Präsident Rafael Correa am Mittwoch an, sein Amt in die Hände des Verfassungskonvents zu legen. Mehrere hohe Staatsbeamte, unter ihnen der Präsident des höchsten Wahlgerichtes, taten es ihm gleich. Nach Ende der verfassunggebenden Versammlung soll es zu Neuwahlen kommen. Erwartet wird, daß Correa dann erneut kandidiert, um die »Neugründung der Republik«, die er beabsichtigt, durchzusetzen.

* Aus: junge Welt, 30. November 2007

"Wir haben keine Angst vor dem Wort Sozialismus"

Der Regierungskonvent in Montecristi soll die Weichen für das Land neu stellen. Ein Gespräch mit Rafael Correa **
Herr Präsident, wie sehen Sie und Ihre Regierungspartei Alianza País die Lage in Ecuador zu Beginn der verfassunggebenden Versammlung?

Wir befinden uns inmitten einer Revolution der Bürger, eines radikalen Wandels, der die politischen, sozialen sowie wirtschaftlichen Strukturen verändern wird. Die politischen Institutionen unseres Landes sind am Ende. Ein Kongreß, dem nach Umfragen nur noch drei Prozent der Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer Glauben schenken, ist nicht mehr repräsentativ. Die dort vertretenen Gruppen nennen sich Parteien, doch es sind nichts als Feudalherrscher und Caudillos. Unser Land ist nicht mehr bereit, ihre Politik der letzten zehn, zwanzig Jahre wirtschaftlich zu tragen, die sie auf Weisung Washingtons durchgesetzt haben. Die Folgen dieser indirekten Fremdherrschaft waren für Ecuador und ganz Lateinamerika verheerend. In unserem Land hat diese Politik in den vergangenen Jahren zu zwei Millionen Emigranten geführt.

Erfahrungsgemäß haben die USA stets Probleme mit einem »radikalen Wandel« in der Region gehabt. Beunruhigt Sie das nicht?

Mir ist völlig gleich, wie die Regierung der USA, die Regierungen der Europäischen Union oder anderer Staaten den Wandel sehen. Gleichgültiger noch stehe ich der Haltung der transnationalen Konzerne gegenüber. Für mich hat allein die ecuadorianische Bevölkerung Bedeutung, die Regent und Besitzer des Landes ist. Aus dieser Überlegung heraus können wir es auch nicht akzeptieren, daß die kolumbianische Regierung die Herbizid-Besprühungen an der Grenze zu Ecuador fortführt, um Coca-Anpflanzungen zu zerstören, und damit unsere Bevölkerung vergiftet. Wir können es nicht akzeptieren, daß wir in den internen Konflikt hereingezogen werden, unter dem unsere Schwesternation Kolumbien leidet. Wir werden uns nicht einmischen. Aber wir können helfen, diesen Konflikt friedlich beizulegen. Deswegen haben wir den sogenannten Kolumbienplan, die militärische Strategie von Bogotá und Washington, stets abgelehnt. Denn auch wir leiden unter den negativen Auswirkungen dieser Politik, etwa durch die Flüchtlingsströme, die wir aus Kolumbien aufnehmen müssen.

Lassen sie uns weiter über die verfassunggebende Versammlung sprechen. Worauf basiert die »Revolution der Bürger«?

In erster Linie auf dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Auch wenn viele Stimmen fordern, daß wir von einem »Humanismus« sprechen sollten, haben wir keine Angst vor dem Wort »Sozialismus«. Unser politisches Projekt beruft sich auf den wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels. Der Mensch darf nicht mehr wie ein weiteres Produk­tionsmittel behandelt werden, das den Interessen des Großkapitals unterstellt wird. Die Marktwirtschaft beschränkt sich eben auf die Produktion. Die Bedeutung dieses Prozesses für den Menschen, mögliche Schäden für die Umwelt oder andere kritische Aspekte spielen in ihr keine Rolle.

Ich vermute, daß es trotzdem Unterschiede zum klassischen Sozialismus gibt?

Ja, es ist heute zum Beispiel schwer, von der vollständigen Verstaatlichung aller Produktionsmittel zu sprechen. Wir müssen sie demokratisieren. Aber es ist wichtig, die strategischen Industrien der Kontrolle des Staates zu unterstellen. Einer der größten Fehler des klassischen Sozialismus lag doch darin, daß er sich kaum vom kapitalistischen Entwicklungsmodell unterschied. Er hat uns mehr Gleichheit versprochen, strebte aber ebenso den Aufbau von Industrie und Produktion an. Denken wir nur an die Konkurrenzsituation zwischen den USA und der Sowjetunuion. Eine Alternative für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft bot dieses Kräftemessen, unter Einbezug etwa der Umweltkomponente, nicht. Das ist einer der größten Vorteile des Sozialismus des 21. Jahrhunderts, den wir mit der verfassunggebenden Versammlung in Ecuador ertablieren wollen. Er wird einen alternativen Entwicklungsweg anbieten. Aber es gibt noch einen zweiten Unterschied, der uns die Kritik traditioneller Sozialisten einbringen wird. Wir treten dafür ein, anstelle von Modellen von Prinzipien zu sprechen. Denn in dieser Hinsicht war der klassische Sozialismus nicht nur dominant, sondern arrogant. Er hielt uns an, eine Seite eines Buches aufzuschlagen, um eine Wahrheit oder eine Lösung zu finden. Was er uns bot, war ein politischer Katechismus. Wir sollten aber lernen, uns an die Gegebenheiten eines jeden Landes anzupassen, ohne vorgefertigte Modelle. Als Akademiker sage ich: Jeder Versuch, so komplexe Prozesse wie die, von denen ein gesellschaftlicher Wandel bestimmt ist, zu kontrollieren, ist zum Scheitern verurteilt.

Ihre Alternative?

Wir müssen Dogmen vermeiden. Wir dürfen den Ursprung unserer Kraft nicht vergessen: die politische Kreativität.

Interview: Hernando Calvo Ospina, Quito

** Rafael Correa ist Präsident von Ecuador

Aus: junge Welt, 30. November 2007





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