Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Ein tragischer, lehrreicher Tag"

Vor einem Jahr versuchten Polizisten in Ecuador, Präsident Rafael Correa zu stürzen. Das könnte wieder passieren. Ein Gespräch mit Botschafter Jorge Jurado *


Jorge Jurado ist seit März 2011 Botschafter der Republik Ecuador in Berlin.

Vor einem Jahr, am 30. September 2010, versuchten Polizisten, Ecuadors Präsidenten Rafael Correa zu stürzen. Sie haben diesen Tag in Quito direkt miterlebt...

Ich bin Mitbegründer und Mitglied der Bewegung Alianza País und habe in der Regierung zwei sehr hochrangige Posten bekleidet. Ich war Staatssekretär für den Bergbau und Minister für Wasserwirtschaft. An diesem Tag sah ich mich auf einmal der Möglichkeit eines Putsches gegenübergestellt, mit dem jemand, der politisch denkt, selbstverständlich immer gerechnet hat. Aber es ist eine andere Sache, wenn man tatsächlich direkt mit einer solchen Tatsache konfrontiert wird. Unser Präsident Rafael Correa wurde gefangengenommen, und die Situation wurde von Minute zu Minute komplizierter. Die Menschen versammelten sich daraufhin auf dem Hauptplatz vor dem Regierungspalast in Quito, unserer Hauptstadt, um für die Demokratie und für die Freilassung unseres Präsidenten zu demonstrieren. Viele von uns haben die Ereignisse in den ersten Stunden direkt am Fernseher verfolgt. Wir haben gesehen, wie die protestierenden Polizisten zu einer Masse verwilderter Menschen wurden, die an der Polizeikaserne auf den Präsidenten einprügelten. Er ging damals noch an Krücken, weil er sich nur vier Wochen vorher in Kuba einer komplizierten Knieoperation unterziehen mußte. Die streikenden Polizisten waren manipuliert und aufgehetzt worden und brachten das Leben aller Menschen dort in Gefahr. Das sahen wir direkt im Fernsehen.

Gegen Mittag habe ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten und bin zum Präsidentenpalast gegangen. Ich habe meinen Rucksack genommen, zwei Flaschen Wasser, ein Handtuch, ein Radio und ein Buch eingesteckt und bin losgelaufen. Die Verkehrssituation war chaotisch, nichts funktionierte. Ich bin bis zum Palast gelaufen und habe mich dort mit meinen früheren Kollegen getroffen, die ich noch aus meiner Zeit als Minister kannte.

Ein paar Minuten, bevor ich dort ankam, ist unser jetziger Außenminister, Ricardo Patiño, mit einer großen Menge von Menschen zu dem Polizeikrankenhaus losmarschiert, in das der Präsident eingeliefert worden war und wo er festgehalten wurde. Zehntausende Menschen zogen mit dem Minister dorthin, um den Präsidenten zu retten. Aber die Polizisten errichteten schon weit vor dem Krankenhaus Barrikaden und gingen mit Tränengas und Waffengewalt gegen die Menschen vor. Deshalb konnten nur sehr wenige bis zum Krankenhaus gelangen, einer von ihnen war Ricardo Patiño selbst. Wir standen ständig per Funk mit ihm in Verbindung und wußten so, was los war. Ich selbst konnte nicht dort hingehen, weil ich Probleme mit meinen Knien hatte.

Bis zum Abend eskalierte die Situation immer mehr. Über Funk wurden die Polizisten aufgefordert, das Krankenhaus zu stürmen, um den Präsidenten zu töten. Es gibt darüber genügend Mitschnitte der Funkgespräche zwischen den Polizisten. Parallel dazu ereigneten sich überall im Lande Dinge, die beweisen, daß es nicht ein etwas aus den Fugen geratener Protest war, wie die rechte Presse behauptete. So wurde der Flughafen von Quito durch eine Gruppe von Angehörigen der Luftwaffe geschlossen, keine Maschine konnte mehr starten oder landen. Die Polizeieskorte, die für den Schutz unseres Parlamentsgebäudes zuständig war, hat die Mitglieder der Alianza País aus deren Räumen gejagt. Auch in Guayaquil, dem wichtigsten Hafen Ecuadors, rebellierten die Polizisten. In Quito versuchte eine Gruppe von Militärs im Ruhestand, die aktiven Soldaten zum Putsch zu bewegen.

Trotzdem bestreitet die Opposition, daß es überhaupt einen Putsch gegeben hat.

Sie betreibt eine Goebbels-Politik, in der Hoffnung, daß eine Lüge, die oft genug wiederholt wird, irgendwann doch zur Wahrheit wird. Aber die Tatsachen sind vollkommen andere. Der Präsident wurde in dem Krankenhaus nur von ein paar Leuten seiner Eskorte geschützt, von nicht mehr als sechs Leuten. Zugleich kamen über den Polizeifunk die Aufrufe, den Präsidenten zu töten. Also mußte eine Entscheidung getroffen werden. Nach sechs, sieben Stunden ergebnisloser Verhandlungen wurde deshalb entschieden, daß die Armee eingreifen sollte. Eine Elitetruppe, die Fallschirmjäger, ist daraufhin zum Krankenhaus ausgerückt, um den Präsidenten zu befreien. Das alles ist gefilmt und direkt im Fernsehen übertragen worden. Wir haben alle gesehen, was da geschah. In dem Moment, wo die Militärs aus dem Laster sprangen, wurden sie von einem Kugelhagel empfangen. Die Polizisten, die das Krankenhaus umzingelt hatten, schossen auf sie. Es gab einen heftigen Schußwechsel, bis die Soldaten in das Krankenhaus vordringen konnten. Nach etwa einer Stunde konnte dann der Präsident im Rollstuhl und mit kugelsicherer Weste aus dem Krankenhaus geholt werden. Geschützt von loyalen Angehörigen einer Eliteeinheit der Polizei, wurde der Präsident zu den Fahrzeugen gebracht. In dem Moment wurde wieder direkt auf den Wagen des Präsidenten geschossen. Dabei wurde ein Polizist getroffen, er ist einer der Toten dieses tragischen Tages. Die Kolonne fuhr dann sehr schnell weg, und und kurze Zeit später kam der Präsident in den Regierungspalast. Der Platz dort war voller Menschen, die den Präsidenten umjubelt haben, als er auf den Balkon getreten ist und eine gute, feurige Rede gehalten hat.

Das war der Verlauf des Tages, wie ich ihn erlebt habe. Ich bin ständig im Präsidentenpalast gewesen. Ich dachte, mein Platz ist dort, um, wenn nötig, diese Demokratie zu verteidigen. Wir waren auf alles gefaßt. Es war ein sehr, sehr schrecklicher, aber auch ein äußerst lehrreicher Tag.

Historisch einmalig war die schnelle Reaktion der anderen süd­amerikanischen Staaten...

Allerdings. Die anderen Präsidenten haben sofort erkannt, wie schwer die Situation war. Alle Staatschefs der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) haben sich hinter unsere Regierung gestellt, hinter unseren Präsidenten, und den Putschversuch verurteilt.

Wie ist die Situation heute? Ist die Polizei wieder unter Kontrolle, oder muß man damit rechnen, daß eine solche Situation wieder entsteht?

Es wäre ein großer politischer Fehler, wenn man die Ereignisse vor einem Jahr einfach vergessen und sagen würde, das wird nicht mehr vorkommen. Ecuador erlebt seit vier Jahren den größten politischen, ökonomischen, sozialen Umgestaltungssprozeß der letzten 100 Jahre. Wir versuchen, das Land wirklich zu verändern, und wir glauben aufrichtig, daß dies zum Guten, zum Wohl des Volkes geschieht. So eine Bewegung, so eine Regierung, die links ist, und unsere Vision für die Zukunft werden immer großen Widerstand hervorrufen. Politisch gesehen darf man deshalb nicht außer acht lassen, daß eine solche Situation wieder auftreten könnte. Das, was am 30. September 2010 geschah, war die Antwort der Leute, die das Geld, das große Kapital besaßen, die immer, über Jahrzehnte hinweg, profitiert haben und die nun dieser großen Bewegung Widerstand leisten, die das Land von den Wurzeln her verändern will.

Die letzten vier Putschversuche, die es in Lateinamerika gegeben hat – in Venezuela, Bolivien, Honduras und Ecuador –, haben allesamt Länder betroffen, die Mitglied der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) waren oder sind. Ist das Zufall?

Nein, das ist kein Zufall. ALBA ist die Vereinigung der fortschrittlichsten Regierungen Lateinamerikas. Es gibt auch andere progressive, zum Beispiel in Uruguay oder Brasilien. Aber vor allem die ALBA-Staatsführungen sind eine Herausforderung für diejenigen, die wollen, daß die Lage so bleibt, wie sie gewesen ist, damit ihre eigenen Interessen dort besser geschützt werden.

Ende des Jahres wird die CELAC gegründet, die Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik...

Je mehr wir uns vereinigen, je mehr Länder sich gegenseitig stützen, desto eher können wir unseren eigenen Weg gehen, der unabhängig von fremden Interessen ist. Lateinamerika ist groß geworden und steht jetzt auf eigenen Füßen.

Wenn sich diese Länder vereinigen, welche Rolle kann dann noch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) spielen?

Nach und nach wird sich die OAS mit einer viel bescheideneren Rolle abfinden müssen. Es entwickeln sich andere Organisationsformen, die tatsächlich eine souveräne Stimme sind und die auch von anderen Regionen der Welt, etwa Europa oder Asien, aber auch den USA selbst, als wichtiger Gesprächspartner wahrgenommen werden.

Interview: André Scheer

* Aus: junge Welt, 1. Oktober 2011


Zurück zur Ecuador-Seite

Zurück zur Homepage