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Das Gespenst heißt Chávez

Ecuador: Nach dem achten Präsidentenwechsel seit 1996 könnte demnächst auch der "venezolanische Weg" nicht mehr ausgeschlossen sein

Von Jeroen Kuiper*

Fünf Dollar kann der Café-Besitzer in Otavalo, einem malerischen Städtchen im Norden Ecuadors, nicht wechseln. "Tut mir leid, Señor, aber wir sind hier besser im Umtauschen von Präsidenten als von Fünf-Dollar-Scheinen", sagt er mit freundlichem Grinsen und hat Recht: Seit 1996 hat Ecuador acht Präsidenten verschlissen. Freilich waren die Gründe von Fall zu Fall recht unterschiedlich. So wurde etwa 1997 Abdala Bucaram gezwungen, das Feld zu räumen, nachdem ihm das Parlament "geistige Inkapazität" bescheinigt hatte. Zuvor schon durfte sich dieser Präsident des Beinamens "el Loco" (der Verrückte) erfreuen.

Der mittlerweile vorletzte Staatschef Lucio Gutiérrez musste vor genau einem Monat aufgeben, weil 62 von insgesamt 100 Abgeordneten in einer improvisierten Parlamentssitzung (s. Übersicht) seine "Abwesenheit vom Amt" feststellten, was mehr in symbolischer Absicht formuliert wurde. Denn Gutiérrez war sehr wohl physisch präsent in Quito und hatte sich bis zuletzt in seinem Amt zu verteidigen versucht - er geriet erst in eine hoffnungslose Lage, als ihn die Armee fallen ließ.

Wieder anders liegt der Fall von Gustavo Noboa, der 2001 abdanken musste, nachdem er in Ecuador den US-Dollar als offizielle Währung eingeführt und den schwer inflationsgeschädigten Sucre abgeschafft hatte. Obwohl die Aversionen gegenüber dem Dollar bis heute groß sind, hat sich kein Präsident die Finger an diesem heiklen Thema verbrennen wollen, indem er zu laut über eine mögliche Rückkehr zum Sucre nachdachte.

"Was nützt es, einen Staatschef zu stürzen, wenn sich doch nichts ändert?"

Das Café, dessen Besitzer das Kleingeld fehlt, liegt in der Nähe des Poncho Plaza von Otavalo, etwa 80 Kilometer nördlich von Quito. Es erinnert an Orte, die Touristen vor Augen haben mögen, wenn sie von den Anden schwärmen: Plazas mit spanischer Architektur, Plazas zum Handeln, um für wenig Geld selbst gewebte Decken und Panflöten zu kaufen. Plazas mit Indigena-Frauen, die mit einem Kind im Tragetuch auf dem Rücken unterwegs sind, während die Männer mit Pferdeschwanz, Hütchen und Poncho hinterher laufen.

An einer Ecke im Zentrum von Otavalo findet sich ein Büro der Organisation FICI, die heute 160 indianische Gemeinden im Norden Ecuadors vertritt. Deren Präsident Benjamin Inuci meint, beim Sturz von Lucio Gutiérrez habe man sich ausnahmsweise einmal nicht so aktiv an Demonstrationen beteiligt wie sonst. "Was nützt es, einen Staatschef zu stürzen, wenn sich doch nichts ändert. Die Politiker bilden zusammen mit den großen Unternehmen die Oligarchie des Landes und geben von ihrer Macht nichts preis. Deswegen wollen wir, dass sie alle gehen, nicht nur die Regierung, auch das Parlament und die sogenannte wirtschaftliche Elite. Hier im Norden haben wir immer von Landwirtschaft gelebt - zusammen mit Handel und Tourismus ist das unser Pfeiler der Zukunft. Aber wenn der tragfähig sein soll, brauchen wir Autonomie und keinen Paternalismus aus Quito."

Der jetzt geschasste Präsident hat leider dazu beigetragen, Leute wie Benjamin Inuci in ihrem Vorurteil zu bestärken, unter den Politikern Ecuadors finde man niemanden mehr, dem man trauen könne. Obwohl Lucio Gutiérrez Anfang 2003 mit einem linkspopulistischen Programm an die Macht kam, verschrieb sich der politisch unerfahrene Ex-Militär alsbald einem neoliberalen Kurs. Die indianische Bewegung Unidad Plurinacional Pachakutik - Nuevo Pais, mit deren Hilfe er Ende November 2002 die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, wandte sich daraufhin von ihm ab. Andere Indigena-Verbände waren schon zuvor aus der ursprünglichen Wahlallianz relegiert worden.

Leider passt diese Willkür in das Bild eines kleinen lateinamerikanischen Staates, der bis zum Fund von Öl in den sechziger Jahren im wahrsten Sinne des Wortes eine Bananenrepublik war und auch danach nie zu innerer Stabilität fand, mit demokratischen Prinzipien haderte und nur zu oft den Streitkräften das letzte Wort ließ. So war letzten Endes auch beim Sturz von Gutiérrez der Verlust seines Rückhalts in der Armee ausschlaggebend. Wer kann sich heutzutage noch vorstellen, dass die Generalität über das Schicksal eines europäischen Regierungschefs entscheidet?

Esperanza Martinez aus dem Vorstand von Oilwatch - eines Verbundes von Umweltschützern, die sich einer extensiven Ausbeutung von Ölressourcen in Ländern wie Ecuador widersetzen - ist es zu einfach, alle Fehlentwicklungen des Landes den Eliten aus Quito oder Guayaquil anzulasten. "Es sind besonders die Megaprojekte, die uns systematisch zermürben", ist sie überzeugt. "Sie zerstören unsere Natur und unsere Ökonomie, während die Gewinne ins Ausland fließen. Denken Sie nur an die kommerzielle Krabbenzucht, die einen Teil der Mangrovenwälder vor der Küste schwer in Mitleidenschaft gezogen hat. Oder die Waldrodung in der Amazonasregion im Osten Ecuadors." Ausgerechnet durch dieses Gebiet verlaufe eine Ölpipeline, die auch den Nationalpark Yasuni streife, in dem man eine Artenvielfalt finde, wie sie weltweit einmalig sei.

Der Park wurde 1979 gegründet und 1989 von der UNESCO als Biosphären-Reservat anerkannt. Als dort die Regierung zwischen 2001 und 2003 mit finanziellem Beistand der deutschen West-LB die 500 Kilometer lange Öltrasse bauen ließ, wurde das Projekt von Oilwatch hart, aber erfolglos bekämpft. Heute steht der Yasuni-Park größtenteils unter Kontrolle von Firmen aus Spanien, Italien, Brasilien, Argentinien und Kanada.

"Nachdem wir Anfang der siebziger Jahre mit der Ölförderung begonnen hatten", erinnert sich Esperanza Martinez, "hat die Regierung hemmungslos Kredite im Ausland aufgenommen. Es war paradox, ausgerechnet in dem Moment, als das Land damit begann, endlich Geld zu verdienen, verschuldete es sich noch mehr als je zuvor. Die Darlehen wurden uns von internationalen Bankenkonsortien regelrecht aufgedrängt. Es hieß: ›Ecuador braucht doch jetzt Finanzen, um sich zu entwickeln, also müsst ihr in die Infrastruktur investieren. Nehmt unser Geld!‹. Und das tat die Regierung. Die Konsequenz davon ist, dass wir mittlerweile um die 40 Prozent unseres Staatshaushalts für die Tilgung von Schulden verwenden müssen."

"Mittlerweile gelten wir fast als Kolonie der Vereinigten Staaten"

Das Durchschnittseinkommen in Ecuador liegt derzeit bei 150 Dollar - wer keine Arbeit hat, kann auf keinerlei soziale Unterstützung rechnen. Als vor mehr als drei Jahrzehnten der "Ölboom" einsetzte, hatte der Staat etwa 300 Millionen Dollar Auslandsschulden, während knapp 47 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten - 2005 liegt die Schuldenlast bei knapp 14 Milliarden Dollar und 80 Prozent der Ecuadorianer leben in Armut.

Das scheint auch der neue Präsident Alfredo Palacio als die alles entscheidende Herausforderung verstanden zu haben. Er ließ seinen Wirtschaftsminister Rafael Correa verkünden, der FEIREP-Fonds, in den bisher die Öleinnahmen für die Schuldentilgung geflossen seien, werde aufgelöst und das Geld für soziale Projekte verwendet.

"Was sollen wir uns darauf verlassen? Auch Palacio gehört zur Oberschicht", meint Esperanza Martinez von Oilwatch. "Seine Wirtschaftspolitik wird sich kaum von der seiner Vorgänger unterscheiden. Für ausländische Ölfirmen wird es weiter heißen: ›Herzlich willkommen!‹. Aber Palacio ist wenigstens ein Nationalist, und das brauchen wir, denn mittlerweile gelten wir fast als Kolonie der Vereinigten Staaten. Wir benutzen ihre Währung, die Amerikaner haben ihre Militärbasis in Manta, ihre Firmen beaufsichtigen unsere Wirtschaft, sie kontrollieren die Grenzen zwischen Ecuador und Kolumbien. Das einzige was noch fehlt - dass sie uns auf ihre Sprache verpflichten."

"Que se vayan todos!" (Lasst sie alle abhauen!) hatten die Demonstranten im April vor dem Präsidentenpalast Carandolet in Quito skandiert, um Lucio Gutiérrez aus dem Amt zu zwingen. Gladys Maldonato, eine pensionierte Staatsbeamtin, die als unbeteiligte Passantin den Aufruhr verfolgte, kommentierte dabei das Geschehen später auf ihre Weise: "Wissen Sie, es war höchste Zeit, dass Gutiérrez verschwindet. Er wollte aus Ecuador ein zweites Venezuela machen." Dies entsprach zwar nicht im Geringsten der Wahrheit, reflektierte aber sehr wohl die Angst der Etablierten, es könne zu einer "Chávezisierung" Ecuadors kommen. Diese Möglichkeit ist mit dem jüngsten Revirement und der Amtsübernahme durch Alfredo Palacio keineswegs verbannt. Im Gegenteil, die indianische Bewegung wird noch für manche Überraschung gut sein.


Ecuadors Ökonomie 2004


Bruttosozialprodukt (BSP)12,5 Mrd. Dollar
Wachstumsrate BSP (2003/2004)+ 3,5 Prozent
Einkommen/pro Kopf und Jahr1.080 Dollar
Auslandsschulden (Stand 2003)13,9 Mrd. Dollar


Zusammensetzung des ecuadorianischen Parlaments


ParteienMandate seit 2002
Partido Social Cristiano (PSC) 24
Partido Roldosista Ecuatoriano (PRE/rechtsliberal)15
Izquierda Democrática (ID/sozialdemokatisch)13
Partido Renovador Institucional Acción Nacional
(PRIAN/rechtsbürgerlich)
10
Movimiento Unidad Plurinacional Pachakutik - Nuevo Pais
(MUPP-NP/Indígena-Partei)
5
Weitere Parteien15
Wahlbündnisse
Partido Sociedad Patriótica 21 de Enero/MUPP-NP
(ursprüngliche Allianz des gestürzten Präsidenten Gutiérrez)
6
Zwei Bündnisse mit je zwei Mandaten4
Acht Bündnisse mit je einem Mandat8
Gesamt100


*Aus: Freitag 20, 20. Mai 2005


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