"Wir wollen uns selbst regieren"
Ecuadors Indígenas werfen der Regierung vor, die Wirtschaftspolitik ihrer neoliberalen Vorgänger fortzusetzen. Ein Gespräch mit Monica Chuji
Monica Chuji ist Sprecherin der Konföderation indigener
Nationalitäten Ecuadors (CONAIE). 2007 war sie einige Monate lang
Ministerin in der Regierung von Rafael Correa
In der vergangenen Woche fand in Otavalo ein Gipfeltreffen der
Bolivarischen Allianz ALBA statt, in dessen Mittelpunkt die indigenen
und afroamerikanischen Gemeinden in Lateinamerika standen. Trotzdem
kritisierten Sie dieses Treffen...
Die indigenen Nationalitäten und Völker Ecuadores fehlten bei dieser
Veranstaltung. Ich denke, die ALBA hat durchaus Sinn als eine nicht nur
ökonomische, sondern auch soziale Integration, wie sie Präsident Chávez
zu Beginn vorgestellt hat. Deshalb hatte ALBA Erwartungen geweckt, und
tatsächlich glaube ich, daß eine regionale Integration in jeder Hinsicht
notwendig ist, um der Krise und anderer weltweiter Phänomene zu
begegnen. Aber wir sehen nun, daß diese Integration ohne die Handelnden
durchgeführt werden soll, die den Staaten erst ihren Sinn geben. Ich
meine damit die indigenen Völker und die Zivilgesellschaft ganz
generell. Leider hat das Treffen meine Befürchtungen bestätigt. Die
Präsidenten werden ihr Wirtschaftsmodell nicht verändern, so daß die
Indígenas die Opfer bleiben.
Ecuador war in den letzten Wochen Schauplatz indigener Proteste. Warum?
Die fortschrittlichen oder »linken« Regierungen, die in der Region die
Macht übernommen haben, haben die Vorschläge für strukturelle
Veränderungen nicht verstanden, die wir Indígenas unterbreitet haben.
Sie verstehen nicht, daß unsere Gesellschaften vielschichtig und
plurinational sind, daß es uns seit Jahrtausenden gibt und daß wir als
allererste daran interessiert sind, Staaten aufzubauen, die diese
koloniale und völkerkundliche Behandlung der indigenen Völker hinter
sich lassen.
Im Falle Ecuadors gab es die Demonstrationen, weil die nationale
Regierung dieselbe Wirtschaftspraxis früherer Regierungen fortsetzt,
wenn auch im Unterschied zu diesen mit einem nationalen,
indigenistischen und ökologischen Diskurs. Dieser Prozeß kann nicht als
Revolution bezeichnet werden, sondern ist höchstens eine Reihe von
Reformen, von denen einige positiv sind, aber für die die Rechte derer
eingeschränkt werden, die vom Staat ausgeschlossen wurden und werden. Es
gibt zwar positive Maßnahmen, aber die verändern die Lage des Landes nicht.
Ecuadors Präsident Rafael Correa hat den Organisationen, die diese
Proteste getragen haben, vorgeworfen, dem Extremismus verfallen zu sein
und »Staaten im Staat« schaffen zu wollen...
Gerade in diesen Vorwürfen und Praktiken ähnelt er der Regierung von
Lucio Gutiérrez und seinen anderen neoliberalen Vorgängern, aber auch,
und das ist das Schlimmste, Perus Präsident Alan García und Kolumbiens
Uribe. Es gibt in den indigenen Protesten keinerlei Extremismus, sondern
es geht um einen Ausweg aus der sozialen, Wirtschafts- und Umweltkrise.
Sie waren selbst Teil der Regierung von Rafael Correa...
Das ist richtig, aber ich möchte klarstellen, daß ich schon immer und
für immer der CONAIE angehöre. Nach der Wirtschaftskrise und der
Dollarisierung der ecuadorianischen Wirtschaft haben die
Zivilgesellschaft und die Indígenas an niemanden mehr geglaubt und
gefordert, daß alle verschwinden sollen. In dieser Zeit, 2006, griff
Alianza País, die Allianz um Correa, die historischen Thesen der
indigenen Bewegung auf und zeigte ein ökologisches Gesicht. Wie
Millionen andere Ecuadorianer identifizierte ich mich mit den
alternativen Thesen, die Correa von der CONAIE und anderen Vereinigungen
übernommen hatte, und deshalb akzeptierte ich nach langem Überlegen
seinen Vorschlag, das Kommunikationsministerium zu übernehmen. Doch
diese Begeisterung wich nach und nach der Frustration. Nach meinem
Rücktritt als Ministerin wurde ich 2007 zum Mitglied der
verfassunggebenden Versammlung gewählt, und dort verstand ich, daß
unsere Vorschläge benutzt wurden, um uns zu neutralisieren.
Was ist die Alternative der CONAIE?
Wir schlagen die Schaffung eines plurinationalen Staates vor.
Plurinationalität meint eine Veränderung des juristischen, politischen,
ökonomischen, sozialen und kulturellen Systems und damit einen neuen
Gesellschaftsvertrag mit dem Staat. Innerhalb dieses Staates fordern wir
Indígenas die Selbstbestimmung, das Recht auf unsere eigene indigene
Selbstregierung im Rahmen der nationalen Verfassung, aber auch bestimmt
von unseren eigenen Normen. Die CONAIE fordert die Einführung einer
ausgeglichenen Wirtschaft, die die irrationale Ausbeutung der
Naturressourcen überwindet und die individuellen und kollektiven
Menschenrechte respektiert. Wir glauben, daß ein Staat starke und von
den Regierungen unabhängige gesellschaftliche Organisationen braucht,
die ihre Rechte verteidigen.
Interview: André Scheer
* Aus: junge Welt, 1. Juli 2010
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