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Entwicklung für die Menschen

Ecuadors Vordenker Pedro Páez über die neue Finanzarchitektur in Lateinamerika *


Pedro Páez war von 2007 bis 2008 Minister für die Koordination der Wirtschaftspolitik in Ecuador. Bis vor Kurzem war er Vorsitzender der ecuadorianischen Kommission für eine neue regionale Finanzarchitektur, die unter anderem das Ziel der Gründung einer »Bank des Südens« (Banco del Sur) als regionale Alternative zum Internationalen Währungsfonds (IWF) beinhaltet. Er ist Ökonom und Autor mehrerer Bücher. Mit ihm sprach für das "neue deutschland" (nd) Martin Ling.


nd: Die alte Finanzarchitektur hat die globale Krise nicht verhindert, die seit der Lehman-Bankenpleite 2008 die Welt in Atem hält und derzeit in der Euro-Krise kulminiert. Lateinamerika arbeitet an einer neuen Finanzarchitektur. Können Sie die Grundidee beschreiben?

Páez: Die neue Finanzarchitektur hat drei fundamentale Ziele. Zum ersten eine neue Artikulation zwischen der Ökonomie des öffentlichen Sektors, der der großkapitalistischen Privatwirtschaft und der des Klein- und Mittelstandes wie kleinere Unternehmen, Kooperativen, Bauern, Selbstversorger. Dabei geht es darum, den Zusammenhang zwischen Produktion und Konsum wieder herzustellen, ausgehend von den Rechten und Bedürfnissen der Menschen. Das zweite Ziel ist, das Verhältnis zwischen Finanzierung und Produktion generell zu verändern, sowohl im Großen als auch im Kleinen, bei den Kapitalisten und den Nicht-Kapitalisten. Und das Dritte ist, einen Raum für effektive Verhandlungen im Rahmen der Internationalen Arbeitsteilung zu schaffen, um die beiden ersten Punkte umzusetzen. Darin muss die Rolle der peripheren Staaten neu bestimmt und aufgewertet werden.

Mit welchen Institutionen wollen Sie diese Ziele erreichen?

Für eine neue Finanzarchitektur bedarf es mindestens dreier Pfeiler. Der erste ist ein neuer Typ einer Entwicklungsbank, was die Banco del Sur (Bank des Südens) darstellen soll - eine neue Bank für eine neue Form der Entwicklung. Der zweite ist, einen unabhängigen, souveränen monetären Raum zu schaffen. Dafür haben wir das Sistema Unitario de Compensación Regional (SUCRE) geschaffen, ein System zur regionalen Handelsabwicklung auf Basis der neuen Währung Sucre.

Der Unterschied zur europäischen Konstruktion mit dem Euro ist sehr klar: Anstatt auf dem Währungsaltar die Entwicklungsförderungs-, Sozial-, Steuerpolitik und anderes zu opfern, soll der Sucre einen Prozess der Vertiefung der Integration vorantreiben. Der Sucre ist eine Art wechselseitige Kreditkarte zwischen den Zentralbanken, die die Dollarnutzung zwischen unseren Ländern vermeidet und so die Abhängigkeit von der US-Währung in Lateinamerika abbaut. Der dritte Pfeiler ist, ein finanzielles Sicherungsnetz zwischen den Zentralbanken aufzuspannen, einen Fonds des Südens, der die Devisenreserven zusammenfasst und verwaltet und mit dem sich die Staaten gemeinsam gegen die Turbulenzen der internationalen Finanzmärkte zur Wehr setzen können.

Welche Kapazität räumen Sie der Bank des Südens ein, um zu investieren und die Wirtschaft und die Gesellschaft langfristig zu transformieren?

Innerhalb der neuen Finanzarchitektur kommt der Bank des Südens eine bedeutende Rolle zu. Sie ist zwar kein Allheilmittel, aber die Voraussetzung, um die Transformation der Gesellschaft voranzutreiben. Vor allem, weil sie die Rolle der existierenden Entwicklungsbanken verändert. Sie wird zwar nicht alle gegenwärtigen Entwicklungsbanken und -institutionen ersetzen, aber sie wird neue Praktiken einführen. Sie wird das Potenzial des Gebrauchs der nationalen Währungen und der Gemeinschaftswährung Sucre erhöhen, indem sie souveränen Kreditschöpfungsspielraum schafft.

Können Sie das mit einem Beispiel illustrieren?

Gerne. Ecuador bittet um einen Kredit, und eine Tranche des Kredits käme in Dollar, nur vorgesehen für den Fall, dass Maschinenimporte aus dem Norden notwendig sind; ein anderer Teil kommt in brasilianischen Reais für Importe anderer Waren aus Brasilien und die Beauftragung brasilianischer Unternehmen. Und wieder ein anderer Teil kommt in argentinischen, bolivianischen, uruguayischen Pesos, usw.

Und worin besteht die Entwicklungsbank neuen Typs?

Die besteht darin, dass die Bank des Südens über die Prioritäten des Marktes und der Preissignale eigene Prioritäten bei der Kreditvergabe setzt. Der Weltmarkt und die von ihm ausgehenden Signale werden von den transnationalen Unternehmen und den Oligopolen beherrscht. Die Signale, die durch die Krise ausgehen, sind destruktiv. Dem setzen wir eine Kreditvergabe entgegen, bei der die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen eine große Rolle spielt.

Ein Vorschlag für strategische Richtlinien wird derzeit erarbeitet, nach den Prioritäten, wie sie die lateinamerikanischen Staatschefs benannt haben: Das Leben an die erste Stelle zu setzen. Und nicht, was der Markt aus Eigeninteresse vorschreibt. Das umfasst das Konzept der kontinentalen Souveränität bei der Ernährungssicherheit, bei der Gesundheit, der Energie, der Wissensproduktion, den Rohstoffen sowie die Transformation der kontinentalen Infrastruktur in eine, die nicht nur dem Export von Rohstoffen unter Wert dient, sondern insbesondere dem Aufbau und der Vertiefung regionaler und lokaler Märkte.

Schließlich geht es darum, Finanz- und andere Instrumente zu schaffen, mit denen den Notwendigkeiten der heterogenen Volkswirtschaften Rechnung getragen wird, insbesondere dem Klein- und Mittelstand, der nach einer anderer Logik als der Großkapitalismus funktioniert und bisher bei der Kreditzuteilung benachteiligt wurde. Diese Elemente verwandeln sich in die Grundlage für Prozesse der Herausbildung der neuen Artikulation zwischen den verschiedenen ökonomischen Sektoren in den einzelnen Volkswirtschaften. Gleichzeitig erlauben sie, die lateinamerikanische Integration zu vertiefen.

Der Wirtschaftsgigant Lateinamerikas, Brasilien, hat die Quito-Gründungsdeklaration von 2007, mit der die neue Finanzarchitektur auf den Weg gebracht wurde, immer noch nicht ratifiziert. Brasilien verfügt mit der BNDES über eine eigene Entwicklungsbank, die allein 2010 für umgerechnet 96 Milliarden Dollar Kredite vergeben hat. Hat Brasilien überhaupt Interesse an der Bank des Südens und der neuen Finanzarchitektur?

Es ist unbestreitbar, dass es Sektoren gibt, vor allem in Brasilien, die die Idee der Bank des Südens nicht verstehen und Widerstand dagegen leisten. In Wirklichkeit ist die BNDES ein Beispiel für den neuen Typ Entwicklungsbank, den wir schaffen wollen. Nur dass es bei der Bank des Südens nicht um eine nationalstaatliche Entwicklungsbank wie bei der BNDES geht, sondern um die Idee einer regionalen Entwicklungsbank, die einen Raum der Integration zwischen Bruderländern schaffen und die strukturellen Asymmetrien abbauen soll, wie zum Beispiel Handelsungleichgewichte. Wir müssen die BNDES wie alle anderen existierenden Entwicklungsbanken und Finanzinstitutionen der alten Finanzarchitektur neu ausrichten, damit sie die Interessen des Südens wahrnehmen.

Spielt Brasilien da mit oder verfolgt es einen eigenen Weg?

Die Präsidenten Lula da Silva als auch seine Nachfolgerin Dilma Rousseff haben sich eindeutig für die neue Finanzarchitektur ausgesprochen. Sie sind nicht das Problem. Es gibt allerdings einen Teil der Opposition in Brasilien, der einfach noch nicht verstanden hat, worum es bei der neuen Finanzarchitektur geht und dass diese auch Brasilien zupass käme. Das gilt auch für einen Teil der Technokraten, die die Verhandlungen über den Aufbau der neuen Finanzarchitektur führen, aber der alten Finanzarchitektur verhaftet sind, zum Beispiel der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank etc. und die neue Vision noch nicht teilen.

Wir brauchen Institutionen, die es den Regierungen des Südens ermöglichen, sich souverän den Interessen ihrer Bevölkerung zu verpflichten und mit diesem Mandat gegenüber den internationalen Banken und Finanzinstitutionen aufzutreten, statt sich wie in der Vergangenheit den Vorgaben der internationalen Institutionen zu unterwerfen. Sie haben definiert, was die Prioritäten sind, sie haben definiert, was Entwicklung ist. Lehrreich ist das Beispiel der BID, die ein Fünftel ihres Kapitals in spekulativen Investitionen in den USA verloren hat.

Die Frage stellt sich klar: Warum verstrickt sich eine Entwicklungsbank für Lateinamerika in spekulative Geschäfte, wo es doch offensichtlich so viele Bedürfnisse von Menschen gibt, die es zu befriedigen gilt? Für die BID gilt wie für die alte Finanzarchitektur, dass sie nach wie vor allen Reformbekundungen zum Trotz an der alten neoliberalen Agenda festhalten. Sie legen keine Rechenschaft darüber ab, dass die Früchte dieser Politik eine aktuelle globale Strukturkrise verursacht haben, die auch Lateinamerika bedroht und die ohnehin in Lateinamerika bereits in den letzten 30 Jahren ein Scheitern nach dem anderen verursacht haben. Dort wurden der produktive Sektor und ein guter Teil der Institutionen geschleift.

Wie schätzen Sie die Europäische Investitionsbank (EIB), quasi die Entwicklungsbank der Europäischen Union, ein?

Die EIB blickt auf eine spannende Geschichte zurück. Sie hat mit ihrer gezielten Kreditvergabe nach ihrer Gründung 1958 eine sehr wichtige Rolle in den ersten Jahrzehnten der Entstehung der Europäischen Gemeinschaft und der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes gespielt. Später geschah mit der EIB dasselbe wie mit den 1944 gegründeten Bretton-Woods-Institutionen IWF und Weltbank, die beide in ihrer Geschichte bei allem Schatten auch Licht aufweisen: Wie IWF und Weltbank wurde die EIB transformiert und deformiert, indem neoliberale Politikansätze verankert wurden.

Bei der EIB fand diese Transformation später statt, rund um die Verabschiedung der Maastricht-Kriterien des Stabilitätspaktes im Frühjahr 1992, mit der die Konvergenz bei Haushalt und Fiskalpolitik angestrebt wurde sowie der Spekulation gegen das Europäische Währungssystem (EWS) im Herbst 1992, als die Spekulation gegen das Britische Pfund das EWS beinahe zum Einsturz brachte. Diese beiden Ereignisse veränderten die Natur und die Ausrichtung der EIB.

Aber das zeigt auch, dass es keine Unmöglichkeiten gibt. Die Ausrichtung der EIB ist nicht zwangsläufig vorbestimmt. Es ist keine Aufgabe aus einer anderen Welt, sie neu auszurichten und einen guten Teil der positiven Errungenschaften zurückzugewinnen, sie für die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts und die strukturelle Krise anzupassen. Die europäischen Institutionen sind im Prinzip sehr robust, es gibt auch jede Menge talentierte Leute, die die EIB schnell in eine Entwicklungsbank umbauen könnten, die die Vertiefung eines sozialen Europas, die Vertiefung der demokratischen Errungenschaften befördern könnte. Doch stattdessen wird derzeit den »Erpressungen« durch die Finanzmärkte gefolgt!

* Aus: neues deutschland, 10. Dezember 2011


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