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"Das PKK-Verbot muss aufgehoben werden"

Die Kurden in der Region um das syrische Kobani haben keine Hoffnung auf Hilfe der türkischen Regierung gegen die Terrormiliz IS. Gespräch mit Sabine Leidig *


Sie haben Anfang der Woche mit einer Delegation der Linksfraktion die türkisch-syrische Grenzregion bereist. Welche Situation haben Sie vorgefunden?

Die Grenzregion ist geprägt von der Flucht aus Kobani. Die meisten Flüchtlinge sind in Suruc angekommen – die Bürgermeisterin sprach von 50.000. Das ist die letzte türkische Stadt vor der Grenze. Die Flüchtlinge sind nicht nur in selbstverwalteten Camps untergebracht, sondern auch im Kulturhaus, im Rathaus, überall in der Stadt. Da wirkt es lächerlich, wenn eine Stadt wie Hamburg sagt, sie habe keinen Platz mehr für die Unterbringung von Flüchtlingen.

Doch es fehlt an Medikamenten und Ärzten sowie an Wohncontainern für den nahenden Winter. Die Zusage der türkischen Regierung, ärztliche Hilfe zu schicken, wurde laut unseren Gesprächspartnern nicht eingehalten. Wir haben nur einen ehrenamtlichen Ärzteeinsatz aus einer benachbarten kurdischen Stadt gesehen und zwei Wagen vom Roten Kreuz, die von kurdischen Gemeinden aus Deutschland organisiert worden sind. Die türkische Regierung untersagt jedoch ihren Einsatz.

Was haben Sie von der Situation in Kobani mitbekommen?

Die Stadt ist, abgesehen von den kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern, menschenleer. Zivilisten halten sich dort nicht mehr auf. Wir waren an der Grenze und konnten Schüsse und Raketeneinschläge hören. Junge Männer versuchen täglich, über die Grenze zu kommen, um Kobani zu verteidigen. Das türkische Militär setzt aus Panzern Tränengas gegen sie ein.

Die Kurden setzen keine Hoffnung auf einen Militäreinsatz der Türkei. Sie fordern von der türkischen Regierung die Öffnung der Grenze für kurdische Kämpfer und deren Schließung für IS-Kämpfer. Als wir an der Grenze standen, konnten wir einen Konvoi aus Lastwagen und einem Panzer sehen. Kurdische Genossen sagten uns, das sei ein IS-Konvoi. Er wurde vom Militär durchgelassen.

Sie sagen, die kurdischen Volks- und Frauenselbstverteidigungskräfte (YPG und YPJ) fordern Waffen. Nun hat sich die Partei Die Linke gegen Rüstungslieferungen ausgesprochen. Sehen Sie das inzwischen als Fehler an?

Vor Ort hat niemand zu uns gesagt, dass eine Waffenlieferung der deutschen Regierung sinnvoll sei. Es fehlt in der Region nicht an Waffen: Die türkische Armee ist die am zweitstärksten aufgerüstete Armee der NATO. Es gibt andere Wege, den bewaffneten Widerstand zu unterstützen, als Waffen aus Deutschland zu liefern. Darüber würde sich wohl am meisten die hiesige Rüstungsindustrie freuen.

Die USA haben laut Aussage der Kurden lange Zeit lieber das freie Feld bombardiert als gezielt den IS. Die kurdische Miliz hatte den Eindruck, dass der IS durch die US-Bomben Richtung Kobani getrieben wurde.

Mittlerweile fordern 14 Abgeordnete des Reformerflügels Ihrer Fraktion rund um Dietmar Bartsch und Stefan Liebich einen UN-Militäreinsatz gegen den IS.

Den Aufruf habe ich noch nicht gelesen. Aber ich finde es nicht gut, Forderungen aufzustellen, ohne sie vorher mit den Kurdinnen und Kurden abzusprechen, die vor Ort gegen den IS kämpfen. Meine Wahrnehmung ist, dass dem IS militärisch nicht beizukommen ist. Und wie wir gerade sehen, haben Militäreinsätze Folgen, die nicht absehbar sind.

Welche konkrete Unterstützungsarbeit kann man von Deutschland aus für die kurdische Selbstverwaltung in Rojava leisten?

Wir organisieren eine Spendenkampagne für Decken und Container in den Flüchtlingscamps. Außerdem muss man gemeinsam mit den kurdischen Genossen hier Druck auf die Bundesregierung aufbauen, damit endlich humanitäre Hilfe geleistet und das unsägliche PKK-Verbot aufgehoben wird. Der Demokratisierungsansatz linker kurdischer Parteien in der Region muss anerkannt werden. Ebenso muss Druck auf die türkische Regierung ausgeübt werden. Zwar hat der türkische Präsident Erdogan gesagt, dass er gegen den IS kämpft, aber davon ist in der Grenzregion nichts zu merken.

Linke Gruppen wie die »Neue antikapitalistische Organisation« sammeln Geld, um die YPG und YPJ mit Waffen zu unterstützen. Was sagen Sie dazu?

Ich denke, das kann nützlich sein.

Interview: Elsa Koester

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. Oktober 2014


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