"Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen"
1. Juli 1969: Gustav Heinemanns Antrittsrede als Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland (Auszüge)
Der amtierende Bundespräsident Joachim Gauck hat mit seiner jüngsten
Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz jede Menge Staub aufgewirbelt. Nicht nur deswegen, weil er der Rückkehr des Krieges in die deutsche (Außen-)Politik das Wort redete, sondern auch weil er mit seiner Rede ganz eindeutig die Grenzen seines Amts überschritten hat. Nach dem Grundgesetz der (alten und neuen) BRD bestimmt die Richtlinien der Politik einzig und allein der/die Bundeskanzler/in (Art. 65 GG).
Bundesratspräsident Prof. Dr. Weichmann hatte dies in seiner Erwiderung auf die unten wiedergegebene Rede Gustav Heinemanns die politische Rolle des Präsidenten noch einmal deutlich gemacht:
"Es [das Amt des Bundespräsidenten] fordert den leidenschaftslosen Abstand vom politischen Tagesgeschäft. Es verlangt den Verzicht auf die eigentliche Herausforderung an den Staatsmann, eben am Steuer des Staatsschiffes mitzudrehen und seinen Kurs mitzubestimmen." (Stenografischer Bericht, 5. Wahlperiode, 245. Sitzung, S. 13668)
Wir wollen im Folgenden mit der Dokumentation der Antrittsrede von Bundespräsident Gustav Heinemann vom 1. Juli 1969 zeigen, wie anders man doch über deutsche Verantwortung, außenpolitische Zurückhaltung, Geschichtsbewusstsein und einem dem Völkerrecht verpflichteten Friedensauftrag sprechen kann. Insofern sind die Worte Heinemanns, von zeithistorischen Besonderheiten abgesehen, auch heute noch lesenswert.
Bundespräsident Dr. Dr. Heinemann
(...)
Als Bundespräsident habe ich keine Regierungserklärung abzugeben. Ich bin aus der Bundesregierung und aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden; ich habe alle Funktionen in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands niedergelegt. Nach dem Willen des Grundgesetzes stehe ich fortan denen zur Seite, die die politischen Entscheidungen zu vollziehen und zu verantworten haben. Wohl aber steht dem Bundespräsidenten gerade in dieser Stunde ein
persönliches Wort zu.
Meine Damen und Herren, ich trete das Amt in einer Zeit an, in der die Welt in höchsten
Widersprüchlichkeiten lebt. Der Mensch ist im Begriff, den Mond zu betreten, und hat doch immer noch diese Erde aus Krieg und Hunger und Unrecht nicht herausgeführt. Der Mensch will mündiger sein als je zuvor und weiß doch auf eine Fülle von Fragen keine Antwort. Unsicherheit und Resignation mischen sich mit der Hoffnung auf bessere Ordnungen. Wird solche Hoffnung endlich erfüllt werden? Das ist eine Frage an uns alle, zumal an uns hier, die wir kraft der uns erteilten Mandate Verantwortung für unsere Mitbürger tragen.
Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem
Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.
24 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg stehen wir immer noch vor der Aufgabe, uns auch mit den östlichen Nachbarn zu verständigen. Das allseitige Gespräch über einen gesicherten Frieden in ganz Europa ist fällig und muß kommen. Mit dem deutschen Volk, dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung weiß ich mich einig in dem Willen zum Frieden. Ich appelliere an die Verantwortung in den Blöcken und an die Mächte, ihre Zuversicht auf Sicherheit nicht im Wettlauf der Rüstungen, sondern in der Begegnung zu gemeinsamer
Abrüstung und Rüstungsbegrenzung zu suchen.
(Beifall)
Abrüstung erfordert Vertrauen. Vertrauen kann nicht befohlen werden; und doch ist auch richtig, daß Vertrauen nur der erwirbt, der Vertrauen zu schenken bereit ist.
Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben unserer Politik,
Vertrauen aufzuschließen. Dieser Aufgabe sind alle Machtmittel unterzuordnen – die zivilen und die militärischen.
Auch die
Bundeswehr ist nicht Selbstzweck. Wir wissen, daß sie keine politischen Lösungen zu erzwingen vermöchte. Ihr Auftrag ist, zu verhindern, daß uns Gewaltlösungen von fremder Seite aufgezwungen
werden. Darum setzen wir unsere Verteidigungsanstrengung
fort. Darum gilt unsere Achtung allen denen, die sich dieser Aufgabe unterziehen.
(Beifall.)
Ich möchte alles, was ich tun kann, in den Dienst der Bemühungen um eine
Friedensregelung stellen, die unser ganzes Volk einschließt. Auf dem weiten Weg bis zu diesem Ziel gilt es, die Lebensverbundenheit der Menschen unseres Volkes zu stärken und zu verbessern.
Hilfreich wäre es, wenn auch wir der
Friedensforschung, das heißt einer wissenschaftlichen Ermittlung nicht nur der militärischen Zusammenhänge zwischen Rüstung, Abrüstung und Friedenssicherung,
sondern zwischen allen Faktoren, also z. B. auch den sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen, die gebührende Aufmerksamkeit zuwenden würden.
Bei alledem geht es nicht nur um den Ost-West-Konflikt, sondern in steigendem Maße auch um den Nord-Süd-Konflikt.
Hunger und Elend in der Welt rufen nach Hilfe. Die Industrienationen in allen Lagern dürfen sich dieser Hilfe nicht entziehen. (...)
Unser Volk kann aus seiner Geschichte vieles aufweisen, was uns mit Freude und Selbstbewußtsein zu erfüllen vermag. Es ist nicht wenig, was wir zur Bereicherung der Menschheit beigetragen haben. Aber unter Mißbrauch des Namens unseres Volkes ist auch das Unheil des Zweiten Weltkrieges entfesselt worden. Nur wenn wir uns selber nicht aus der Frage entlassen, wie es zu dem schreckensvollen Kapitel des Nationalsozialismus kommen konnte, werden andere Völker dieses Kapitel nicht länger gegen uns hervorkehren können.
Diese
Vergangenheit darf auch um derer willen nicht wiederkehren, die neben den Millionen Juden und den weiteren Millionen Kriegstoten in aller Welt aus unserem eigenen Volk zu den Opfern des nationalsozialistischen Terrors, des Krieges und schließlich der Vertreibung von Haus und Hof gehören. Als 1945 der Krieg endlich zu Ende war, als sich nach einem Wort von Theodor Heuss damals die Paradoxie ereignete, daß wir gleichzeitig erlöst und vernichtet waren, sollte das Geschehene zum Anlaß einer Erneuerung werden.
Auch nach allem materiellen Wiederaufbau und über allem fortschreitenden Generationenwechsel hinweg bleibt die Aufhellung unserer eigenen Geschichte um unserer Zukunft willen geboten.
Meine Damen und Herren, wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte.
Freiheitliche Demokratie muß endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden. Nur wenn das gelingt, begegnen wir der Widersprüchlichkeit unserer Zeit, die ich darin sehe, daß der Bereich dessen, was der einzelne gestalten kann, enger wird, zugleich aber die Selbstbestimmung des einzelnen Raum gewinnt. Was ich meine, ist dieses: In einem zuvor nie erlebten Tempo macht sich die Menschheit die Schöpfung bis in den Weltraum hinein untertan. Der einzelne aber wird immer ohnmächtiger. Die Konzentration der Wirtschaft schreitet fort. Die ohnehin großen Bürokratien wachsen weiter. Was wird – so frage ich – aus dem freien Existenzraum der einzelnen? Ihr Anteil am Getriebe von Erzeugung und Verbrauch wird immer spurenloser, immer unpersönlicher, immer fremdbestimmter.
Ist es aber zugleich nicht auch so, daß wir eine neue Welle von Umbruch einer jahrhundertelangen
Fremdbestimmung des Menschen in eine
verantwortliche Eigenbestimmung erleben? Solcher Umbruch hat sich seit dem Ausgang des Mittelalters in verschiedenen Bereichen längst angebahnt. Er kommt aber jetzt in besonderer Breite und Intensität zu neuem Austrag.
Überall müssen
Autorität und Tradition sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung gefallen lassen. Weder die christlichen Kirchen mit ihren Glaubensaussagen und ihren Ordnungen noch der Staat mit seinen verfassungsmäßigen Organen wie etwa den Parlamenten, noch Sitte und Moral als solche oder in ihrem Verhältnis etwa zum Strafrecht oder zum Familienrecht, noch die Sozialordnungen – zumal in den Bereichen von Ehe und Familie, des Eigentums oder der Arbeit – sind heute von bohrenden kritischen Fragen ausgenommen.
Generell wird man sagen müssen, daß ein Drang nach Freiheit von alten Bindungen und nach Mitbestimmung in allen Gemeinschaftsverhältnissen
unsere Zeit erfüllt. Es geht um den Dialog, es geht um die Durchsichtigkeit der Geschehnisse und der Entscheidungen. Sind wir — so frage ich — bereit, dem Rechnung zu tragen? Ich meine, wir sind in der
Lage, die große Wandlung aus obrigkeitlicher Fürsorge in Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu bestehen, ohne daß unser Zusammenleben aus den Fugen gerät.
Es kommt ja hinzu, daß der Mensch sich nicht nur in seiner Arbeit und in seinem Verbrauch einer Fremdbestimmung ausgeliefert sieht, sondern daß er auch als Staatsbürger einen realen Anteil an demokratischer
Mitbestimmung fordert. In den Massengesellschaften der Industriestaaten kann es aber nur repräsentative Demokratie geben. Diese Bundesrepublik
Deutschland ist daher bewußt als
repräsentative Demokratie gestaltet. Ich halte ihre auf Menschenwürde und Menschenrecht begründete Ordnung als Grundlage und Rahmen für die beste in unserer bisherigen Geschichte.
(Lebhafter Beifall.)
Diese Ordnung ist aber nicht fertig.
Alle ihre Orientierungsmerkmale, als da sind: freiheitliche Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit, bedürfen im Staat und in der Gesellschaft der fortwährenden Bemühung um täglich bessere Verwirklichung durch den mündig mitbestimmenden Bürger.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß manche das nicht hören wollen. Einige hängen immer noch am Obrigkeitsstaat. Er war lange genug unser Unglück und hat uns zuletzt in das Verhängnis des Dritten Reiches geführt. Andere halten unsere heutige Ordnung für eine besonders raffinierte Ablenkung und Unterdrückung, der mit der „großen Weigerung"
begegnet werden müsse. Sie verhalten sich so, als ob sich das Reich Gottes auf Erden verwirklichen oder das verlorene Paradies wiederherstellen ließe.
(...)
Meine Damen und Herren, anläßlich meiner Wahl sind mir aus allen Schichten und Berufen, zumal aus der jungen Generation, in großer Fülle Briefe zugegangen, die mit meinem Amtsantritt hohe, viel zu hohe Erwartungen verbinden. Ich nehme die Erwartungen ernst. Soweit sie sich auf persönliche Anliegen beziehen, sind es Hilferufe aus vielfältigen Bedrängnissen des täglichen Lebens, aus Not und Krankheit, Wohnungssorge, Strafhaft, aus Einsamkeit und Unrechtserleben. Solche Nöte sind offensichtlich größer, als unsere Wohlstandsgesellschaft gemeinhin annimmt. Aus vielen Zuschriften spricht aber auch eine Angst vor der Zukunft, Sorge um den Arbeitsplatz, die Furcht vor dem Altwerden.
In den letzten 24 Jahren ist vieles erreicht und geleistet worden; doch die Leistungen von gestern werden morgen schon nicht mehr zählen. Sie haben auch gestern nicht allem Genüge getan und werden es morgen vollends nicht tun, wenn wir sie nicht steigern. Der soziale Wandel schreitet fort. Deshalb sind wir alle gerufen, die Forderungen des Grundgesetzes nach dem
Ausbau der sozialen Demokratie in steigender Bemühung zu verwirklichen. Wir werden erkennen müssen, daß die Freiheit des einzelnen nicht nur vor der Gewalt des Staates, sondern ebensosehr vor ökonomischer und gesellschaftlicher Macht geschützt werden muß. Der Einfluß der Verbände und ihrer Lobbyisten steht oft genug im Gegensatz zu unserer Ordnung, in der Privilegien von Rechts wegen abgeschafft sind, aber in der sozialen Wirklichkeit noch weiter bestehen.
Wir müssen uns in einer Leistungs-, Aufstiegs- und Bildungsgesellschaft entwickeln, in der die Vision der Freiheit für alle dadurch verwirklicht wird, daß jeder seine konkrete und persönliche Chance erhält. Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben.
Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist u n s e r Vaterland. Hier leben und arbeiten wir. Darum wollen wir unseren Beitrag für die eine Menschheit mit diesem und durch dieses unser Land leisten. In solchem Sinne grüße ich auch von dieser Stelle alle deutschen Bürger. [Lebhafter Beifall]
* Quelle: Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode - 245. Sitzung zugleich 341. Sitzung des Bundesrates, Bonn, den 1. Juli 1969 (Stenografischer Bericht, S. 13664-13667
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