Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Auf nach Afrika

China und Bangladesch waren gestern: Deutsche Unternehmen orientieren auf Niedriglohnproduktion in Tunesien, Ägypten, Äthiopien oder Marokko

Von Jörg Kronauer *

Trommeln gehört zum Geschäft. »Afrika ist das neue China«, sagt Michael Meyer, geschäftsführender Gesellschafter des mittelständischen Textillogistikers Meyer & Meyer aus Osnabrück. Das ist natürlich blanker Unsinn: Auch nicht annähernd können die Länder Afrikas ökonomisch mit der boomenden Volksrepublik mithalten. Aber so hat Meyer es auch überhaupt nicht gemeint. Gingen einst Textilhersteller, die billig produzieren wollten, in Scharen nach China, weil dort die Löhne so niedrig waren, so hat sich die Entwicklung mit dem Anstieg der Gehälter dort umzukehren begonnen. Immer mehr Unternehmen sehen sich nach alternativen Standorten um, an denen sie den Arbeiterinnen und Arbeitern weniger zahlen müssen. Neben Südostasien gerät mittlerweile vor allem Afrika in ihren Blick. Immer mehr seiner Kunden eröffneten Produktionsstätten in Ländern wie Tunesien, Äthiopien oder Kenia, so Meyer – und selbstverständlich geht seine Firma mit ihren Kunden mit.

Tunesien ist wegen seiner äußerst niedrigen Löhne schon lange ein Schwerpunktland für die Textilindustrie – auch für die deutsche. »Textilien (Vorerzeugnisse)« zählt das Auswärtige Amt zu den wichtigsten Exportwaren, die die Bundesrepublik in Richtung Tunesien verlassen; »Textilien (Enderzeugnisse)« führt es unter den bedeutendsten Importwaren aus dem nordafrikanischen Land auf. Zwischen Export und Reimport schuften tunesische Näherinnen für Bruttolöhne von kaum 250 Euro im Monat, unter prekären Arbeitsbedingungen, viele nur mit Zeitverträgen. Zu den bekannteren deutschen Unternehmen, die in Tunesien fertigen lassen, gehört der Kuscheltier-Produzent Steiff. Er hat eine Fabrik in Sidi Bouzid – dort, wo Ende 2010 die arabischen Aufstände mit der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi ihren Ausgang nahmen. »An Pfaff-Nähmaschinen« nähten insgesamt gut 900 Arbeiterinnen und Arbeiter in der Provinzstadt unablässig Plüschteddys zusammen, berichtete vor einigen Jahren die FAZ und resümierte: »Der Tierpark deutscher Kinderzimmer kommt zu einem großen Teil aus Sidi Bouzid.« Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert.

Ganz ähnlich verhält es sich in der Kfz-Zulieferindustrie. Bekanntestes Beispiel ist der Nürnberger Kabelhersteller Leoni. »Bordnetze und Kabelbäume werden weit überwiegend in Handarbeit gefertigt«, schilderte der Vorstandsvorsitzende Klaus Probst im Oktober 2013 den Hintergrund: »In Nordafrika liegt der Stundenlohn bei rund zwei Euro, was die Region sehr attraktiv macht.« Selbst »ehemalige osteuropäische Billiglohnländer wie Polen« seien mittlerweile »wegen gestiegener Löhne kaum noch wettbewerbsfähig für unser Geschäft«, erläuterte der Leoni-Chef: »Die Produktion in Nordafrika ist für uns ohne Alternative.« Für seine Firma arbeiten in Tunesien 13.000 Menschen – mehr als für jedes andere private Unternehmen in dem Land. Rechnet man die Werke in Marokko und in Ägypten hinzu, dann kommt Leoni auf rund 24.000 Arbeiter in Nordafrika. Die Niedriglohnproduktion dort rechnet sich, zumal der Transport über das Mittelmeer sehr günstig ist.

Sind Tunesien, Marokko und Ägypten schon traditionelle Standorte für die deutsche Niedriglohnproduktion, so werfen Unternehmer mittlerweile begehrliche Blicke auch in andere Länder – etwa nach Äthiopien. Die dortige Wirtschaft wächst seit Jahren; die Regierung fördert vor allem die Textilbranche, um auf der Basis magerster Gehälter ausländische Firmen ins Land zu locken. Das gelingt in Ansätzen. Die Kette H&M lässt inzwischen in Äthiopien nähen, Tchibo kauft dort ebenfalls Textilien ein. Als vergangenes Jahr der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) mit Unterstützung des Bundeswirtschaftsministeriums und der deutschen Botschaft eine Unternehmerreise in das Land durchführte, wurden die Teilnehmer aufmerksam: Der Mindestlohn liege, berichteten sie nach ihrer Rückkehr, bei gerade einmal 40 US-Dollar im Monat. »Wird das bitterarme Land zum neuen Bangladesch?« fragte sich schon 2013 die Deutsche Welle. Und damit lag sie sicherlich richtiger als Michael Meyer mit seinem China-Vergleich.

Aber ob China oder Bangladesch – Afrika habe auf jeden Fall »enormes wirtschaftliches Potential«, meint Meyer mit Blick auf die Niedriglohnproduktion, und »deshalb bauen wir unsere Aktivitäten in Tunesien und in weiteren afrikanischen Ländern aus«. Die Unruhen in dem nordafrikanischen Land haben in den letzten Jahren einige ausländische Unternehmen veranlasst, sich zurückzuziehen. Die deutschen Konzerne hingegen sind geblieben, und sie wollen ihre Stellung nun ausbauen. Also ist Bundespräsident Joachim Gauck Ende April in Tunis gewesen – Meyer war mit dabei – und hat in Gesprächen großes Gewicht auf die Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen gelegt. Das Land sei »attraktiv für in- und ausländische Investitionen in Branchen wie Textil, Autozubehör oder Elektronik«, erklärte Gauck beim Staatsbankett in der tunesischen Hauptstadt. Die Wirtschaft habe das früh erkannt. »Rund 250 deutsche Unternehmen beschäftigen hier mehr als 55.000 Menschen.« Tags drauf fügte er auf einer Konferenz der Bertelsmann Stiftung in Tunis hinzu: »Ich wünschte mir, noch mehr deutsche und andere ausländische Investoren würden von den Vorteilen des Standorts Tunesien erfahren. Tunesien hat beträchtliches Potential.« Gauck schloss: »Es möglichst umfassend zu nutzen« – gerade auch zum Vorteil und für den Profit deutscher Unternehmer –, das »wird eine der großen Aufgaben der neuen tunesischen Regierung sein.«

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 13. Mai 2015


Attraktiver Absatzmarkt Ägypten

Von Jörg Kronauer **

Ein aktuelles Schwerpunktland deutscher Aktivitäten in Nordafrika ist Ägypten. Das hat zum einen prinzipielle strategische Gründe: Die Bedeutung des Nilstaates für die gesamte Nahostpolitik ist immens. Zum anderen hat die Bundesrepublik aber auch beachtliche ökonomische Interessen in dem Land. Dort sind fast ein Achtel der gesamten deutschen Investitionen in Afrika getätigt worden; eine höhere Summe haben hiesige Unternehmen nur in Südafrika investiert. Zudem ist Ägypten zweitgrößter Abnehmer deutscher Waren auf dem Kontinent nach Südafrika: 2014 wurden Produkte im Wert von fast drei Milliarden Euro dorthin exportiert, beinahe so viel wie in das EU-Land Bulgarien. Insofern verbietet es sich für Berlin, Kairo zu vernachlässigen.

Politisch ist die Lage schwierig. Die Bundesregierung hat während der Aufstände in der arabischen Welt mit den Muslimbrüdern geliebäugelt, die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung hat vorsichtig die Fühler in diese Richtung ausgestreckt. Daraufhin hat sie allerdings mächtig Schwierigkeiten mit Ägyptens Justiz bekommen, ihr Büroleiter wurde im Juni 2013 in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft verurteilt. Hinzu kommt, dass Berlin nach den Massakern an den protestierenden Muslimbrüdern im Sommer 2013 schlecht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen konnte. Also wurde eine Zeitlang demonstrativ geschmollt. Das kann die Bundesregierung sich aber auf Dauer nicht leisten, denn andere bauen ihre Beziehungen zu Ägypten kräftig aus. Russland zum Beispiel. Im August 2014 besuchte der ägyptische Präsident Abdel Fattah Al-Sisi seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin in Sotschi, im Februar 2015 kam Putin nach Kairo. Das Ergebnis: eine engere militärische Kooperation, Nukleargeschäfte – und darüber hinaus ein Freihandelsabkommen Kairos mit Russlands Eurasischer Wirtschaftsunion.

Berlin hat das Schmollen inzwischen denn auch beendet. Nachdem Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel bereits Mitte März nach Ägypten gereist war, tat ihm das Anfang vergangener Woche sein Kollege im Außenamt, Frank-Walter Steinmeier, nach. Das Problem mit der Adenauer-Stiftung scheint im Grundsatz ausgeräumt zu sein. Al-Sisis für Juni geplanter Berlin-Reise steht damit wohl nichts mehr im Wege. Zeit also, sich endlich auch wieder stärker um die Wirtschaft zu kümmern, die von den niedrigen Löhnen und dem ägyptischen Absatzmarkt profitieren möchte. Zudem haben es Konzerne darauf abgesehen, an den attraktiven Investitionsprojekten teilzuhaben, die Kairo derzeit plant. Allein 45 Milliarden US-Dollar sind für die Errichtung einer neuen Hauptstadt östlich von Kairo vorgesehen. Siemens hat kürzlich bereits einen Auftrag zum Bau von Kraftwerken im Wert von vier Milliarden Euro erhalten und will in Ägypten ein Werk zur Produktion von Rotorblättern für Windturbinen mit rund 1.000 Arbeitsplätzen errichten. Der Konzern verdient an Kairos Bestreben, die Stromversorgung zu verbessern, gutes Geld. Vor allem aber will er natürlich sicherstellen, dass er nicht ins Hintertreffen zum Beispiel gegenüber russischen oder chinesischen Unternehmen gerät. »Der Westen verliert immer mehr an Einfluss im Nahen Osten«, urteilte kürzlich Amr Adly vom Carnegie Middle East Center in Kairo. Er meinte die Politik; aber die ist ja bekanntlich von der Wirtschaft nicht zu trennen.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 13. Mai 2015


Geschäfte auf dem »Chancenkontinent«

Die Staaten Afrikas sind aus der Perspektive der deutschen Wirtschaft sehr verschieden. Viele Unternehmen nutzen die Niedriglohnproduktion im Norden des Kontinents. Viele sind auch im industrialisierten Südafrika präsent. Nach West-, Zentral- oder Ostafrika hingegen wagen sich jenseits der Rohstoffbranche deutlich weniger Firmen. Gewöhnlich nehmen sich nur die ganz Großen den gesamten Kontinent vor. Bayer zum Beispiel. Der Leverkusener Multi beschäftigt inzwischen über 1.000 Menschen in mehr als einem Dutzend afrikanischer Staaten – mit steigender Tendenz. Seit 2006 ist das Afrikageschäft des Konzerns im Durchschnitt jährlich um zehn Prozent auf 2013 rund 700 Millionen Euro gewachsen. Vor allem in Ländern, die Öl besitzen und daher nennenswerte Einkünfte verzeichnen, »ergeben sich interessante Perspektiven vor allem für unser Pharma- und Pflanzenschutzgeschäft«, bilanzierte Bayer-Vorstandschef Marijn Dekkers Ende 2013.

Die Bayer-Geschäftshoffnungen werden in einem PR-Video präzisiert, das auf der Website des Konzerns einzusehen ist. Afrika besitze nicht nur große Mengen an Rohstoffen – Öl, Gas, Minerale –, sondern mehr als 200 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche. Außerdem wachse die Bevölkerung schnell: Bis 2050 werde »ein Viertel der weltweiten Erwerbsbevölkerung afrikanisch« sein. Vor allem aber habe sich die afrikanische Mittelschicht – das sind diejenigen, deren Einkommen ausreicht, um zumindest gelegentlich deutsche Produkte zu kaufen – in den letzten 30 Jahren verdreifacht. In dem Video heißt es weiter: »Sie ist heute die am schnellsten wachsende Mittelschicht der Welt, und entsprechend steigt die Nachfrage nach Gesundheits-, Lebensmittel- und Lifestyle-Produkten ständig. Daraus ergeben sich für Unternehmen, die in diesen Märkten präsent sind« – wie Bayer – »hervorragende Langzeitperspektiven.« Und deshalb spricht die Wirtschaft heute zuweilen vom »Chancenkontinent«. (jk)




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