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Südeuropa im Würgegriff

Jahresrückblick 2014 BRD: Berlin verursacht durch Spardiktat und "Arbeitsmarktreformen" die Zerstörung der betroffenen Gesellschaften

Von Jörg Kronauer

»Così non va!«, »So geht's nicht!« Hunderttausende setzten sich am 12. Dezember in Italien gegen die Austeritätspolitik zur Wehr, die Berlin der EU seit Jahren oktroyiert. Zahllose Industriebetriebe standen still, Nah- und Fernverkehr kamen weitgehend zum Erliegen. Über eine Viertelmillion Menschen gingen laut Gewerkschaftsangaben auf die Straße, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.

Gegenstand des Protests waren offiziell die Arbeitsmarktreformen, die Ministerpräsident Matteo Renzi dem Land verordnen will. Diese aber folgen dem deutschen Modell, der Agenda 2010, und so hatten die Proteste am 12. Dezember stets auch die deutschen Austeritätsdiktate im Visier. Erst wenige Tage zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer Äußerung, die bisherigen »Reformen« der Regierung in Rom seien unzureichend und Renzi müsse endlich Druck machen, starken Unmut in Italien ausgelöst. »Così non va!«, das richtete sich auch gegen Berlin.

Die Bundesregierung hat bei ihrem Bestreben, der gesamten EU ihre Austeritätspolitik aufzudrücken, 2014 einige wichtige Erfolge erzielt. Vor allem hat sie den Widerstand Frankreichs im Kern gebrochen. Mitte Januar sah sich Staatspräsident François Hollande gezwungen, eine dramatische Kürzung der Staatsausgaben zu verkünden: Er werde bis zum Jahr 2017 ganze 50 Milliarden Euro einsparen und der Privatwirtschaft Steuererleichterungen in Höhe von 30 Milliarden Euro zukommen lassen, kündigte er unter dem Beifall Berlins an.

Opfer für Deutschland

In Paris gab das einigen Ärger. Im August war der Druck der Basis so groß, dass Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg offen und wütend opponierte. »Wenn wir uns der extremistischsten Orthodoxie der deutschen Rechten anpassen müssen«, wetterte er in einem Interview mit der Tageszeitung Le Monde, »dann bedeutete das, dass die Franzosen, auch wenn sie die französische Linke wählen« – er meinte den Parti Socialiste –, »in Wahrheit für die Anwendung des Programms der deutschen Rechten stimmen«. Unmittelbar darauf musste er den Dienst quittieren. Montebourg sei »Deutschland geopfert worden«, hieß es in Kommentaren, und das traf wohl zu.

Paris muss seinen Haushalt kürzen, Rom die Arbeitsgesetze deregulieren – gibt es noch etwas, was den Durchmarsch des deutschen Neoliberalismus aufhalten kann? Widerstand regt sich inzwischen an ganz unerwarteter Stelle – in der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft. Ziemlich perplex berichtete Die Welt im August vom Jahrestreffen der Wirtschaftsnobelpreisträger in Lindau, das in Berlin als so relevant eingestuft wird, dass Kanzlerin Merkel es diesmal persönlich besuchte.

Merkel sei dort mit heftiger Kritik konfrontiert worden, hieß es in der Welt. Nicht nur der Nobelpreisträger von 2001, Joseph Stiglitz, habe erklärt, der deutsche Austeritätskurs garantiere der EU »eine jahrelange Depression, die selbst die verlorenen Dekaden Japans in den Schatten stellen wird«. Auch der Nobelpreiskollege von Stiglitz, Eric Maskin, (2007) habe geäußert: Der von Merkel »verordnete Sparkurs wird die Euro-Zone in die Depression schicken«. Christopher Sims, Nobelpreisträger 2011, habe den Regierungen in Athen, Madrid und Lissabon nachdrücklich geraten, »Notfallpläne für den Ausstieg aus der Währungsunion auszuarbeiten«. Das Urteil der Nobelpreisprominenz über die deutsche Austeritätspolitik sei fast durchweg verheerend gewesen, berichtete anschließend Die Welt.

Wachsende Armut

Wie weit muss es 2014 gekommen sein, wenn bürgerliche Ökonomen vor Schäden der Berliner Austeritätspolitik warnen, und das nicht nur wegen der Gefahr einer Depression? Ziemlich weit. Welche Zustände nicht nur in den südeuropäischen Krisenstaaten, sondern in der gesamten EU herrschen, das zeigt eine knappe Analyse, die der Geograph Holger Jahnke und der Ökonom Gerd Grözinger im Oktober in der Geographischen Rundschau veröffentlichten. Die Zeitschrift ist sicher kein linkes Kampfblatt. EU-weit sei die Arbeitslosenquote in den Jahren von 2008 bis 2012 von 7,1 Prozent auf 10,5 Prozent gestiegen, schreiben die Autoren. Die Jugendarbeitslosigkeit habe sogar von 15,8 Prozent auf 23 Prozent zugenommen.

Gleichzeitig seien die Sozialleistungen allgemein gekürzt worden – darauf hatte in der Tat Berlin gedrungen –, und das spiegele sich recht deutlich in der Armutsstatistik wider. So sei der Armutsanteil nur in sieben EU-Staaten konstant geblieben, in 14 weiteren jedoch gewachsen und in den restlichen sieben sogar stark gestiegen. 2010 seien 23 Prozent der Bevölkerung der gesamten EU von Armut oder von sozialer Exklusion bedroht gewesen. 2012 habe das bereits auf 24,8 Prozent zugetroffen.

Weil sich in vielen Ländern die offizielle Armutsgrenze verschoben habe, sei die reale Armut sogar noch stärker gewachsen. Das »ärmste Fünftel« der Menschen in der EU sei inzwischen »hoch verschuldet«, »das wohlhabendste Fünftel« besitze »über zwei Drittel des Nettovermögens«. Nun – das sind die Durchschnittswerte für die gesamte EU.

Jugend ohne Perspektive

Weitaus dramatischer sieht es in den südeuropäischen Krisenstaaten aus. Zum Beispiel Italien: Dort ist die Arbeitslosigkeit von 6,1 Prozent im Jahr 2007 auf 13,2 Prozent im Oktober 2014 angestiegen. Im Sommer teilte das offizielle Statistikamt mit, im ganzen Land lebten 16,6 Prozent der Bevölkerung – mehr als zehn Millionen Menschen – unterhalb der Armutsgrenze. Der Prozentsatz derjenigen, die ihre Existenz in absoluter Armut fristen müssten, sei von 6,8 Prozent auf 7,9 Prozent gestiegen. Das sind fast fünf Millionen Menschen.

Im Jahr 2007 seien es – schlimm genug – immerhin nur halb so viele gewesen, berichtete die Caritas. Besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind die künftigen Generationen. Die Jugendarbeitslosigkeit hat sich in Italien seit 2008 fast verdoppelt und erreichte 2014 44,2 Prozent.

Mehr als verdoppelt hat sich auch die Zahl der Italiener, die das Land verlassen, um woanders – etwa in Deutschland – Arbeit zu suchen. Das sind die Punkte, die inzwischen auch Ökonomen auf die Palme bringen. Peter Diamond, Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2010, schimpfte beim Treffen mit seinen Kollegen in Lindau, ganzen Generationen fehlten entscheidende Früherfahrungen auf dem Arbeitsmarkt – sprich: Sie gewöhnten sich nicht an die Arbeitsdisziplin und würden später aus Kapitalperspektive als Arbeitskräfte zu wünschen übrig lassen. »Wir verbrennen eine Generation von jungen Arbeitern und möglichen Unternehmern«, klagte auch Marco Gay, Präsident des italienischen Jungunternehmerverbandes: »Wir verbrennen Teile unserer Zukunft.«

»Così non va!« In Italien machten am 12. Dezember Hunderttausende mobil, weil es so tatsächlich nicht weitergehen kann. Reaktionen bleiben auch in anderen Ländern nicht aus. In Griechenland sahen Umfragen Mitte Dezember die linke Partei Syriza an erster Stelle. Das Land ist wohl am schlimmsten von den deutsch inspirierten Kürzungsorgien betroffen: 2,5 Millionen von elf Millionen Griechen sind inzwischen von Armut betroffen und müssen von maximal 432 Euro pro Einzelperson oder 908 Euro für eine vierköpfige Familie im Monat leben. Hinzu kommen 3,8 Millionen, die in akuter Gefahr sind, in Armut abzurutschen.

In Spanien, wo Arbeitslosigkeit und Armut ebenfalls dramatisch zugenommen haben, hat das Jahr 2014 der linken Partei »Podemos« (»Wir können es«) einen überraschenden Aufstieg gebracht. Und sogar in Ländern, die nicht zu den am härtesten getroffenen zählen, gärt es: In Belgien legte am 15. Dezember ein Generalstreik das Land lahm. Eines scheint klar: Die Frage, ob ganz Europa sich den deutschen Austeritätsdiktaten beugt, ist 2014 noch nicht endgültig entschieden worden.

* Aus: junge Welt, Samstag, 3. Januar 2015


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