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Der Krieg heiligt die Mittel – Die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg

Vorabdruck eines Beitrags von Hannes Heer aus dem Buch "Einspruch! Antifaschistische Positionen zur Geschichtspolitik"

Von Hannes Heer *

Barbarisierung mit System

Unter dem Titel »Einspruch! Antifaschistische Positionen zur Geschichtspolitik« erscheint dieser Tage bei PapyRossa (Köln) ein Sammelband mit Beiträgen u. a. von Kurt Pätzold, Wolfgang Wippermann und Moshe Zuckermann. Die Texte basieren auf Vorträgen, gehalten auf einer Konferenz der VVN-BdA im vergangenen Jahr, die sich mit der Durchsetzung der Totalitarismustheorie in Geschichtswissenschaft, Publizistik und Politik sowie dem damit einhergehenden Geschichtsrevisionismus befaßte. Die "junge Welt" veröffentlichte aus dem Band vorab den Beitrag des Historikers Hannes Heer, von 1993 bis 2000 Leiter des Ausstellungsprojektes »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. Die Buchfassung des Textes enthält einen umfangreichen wissenschaftlichen Apparat, der hier aus Platzgründen entfallen mußte.

In Erinnerung an Thomas Harlan (1929–2010)

Hannah Ahrendt, danach gefragt, wie man das Vergessen des Holocaust verhindern könne, hat lakonisch geantwortet: durch Erinnern. Und dann hinzugefügt, man müsse aber dafür immer wieder eine neue Form des Erzählens finden. Dieses Diktum gilt auch für das zweite Großverbrechen Nazideutschlands: den Vernichtungskrieg. Mit dem Unterschied allerdings, daß das Faktum des Judenmordes, in vielen medialen Varianten erzählt, mittlerweile von der überwältigenden Mehrheit der Deutschen nicht mehr bestritten wird. Die Verbrechen der Wehrmacht dagegen sind, nachdem sie 1995 bis 1999 in einer Wanderausstellung von Millionen Menschen erstmals wahrgenommen und bis an die Schmerzgrenze diskutiert wurden, längst wieder, wie Studien des Münchner Instituts für Zeitgeschichte oder des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes zeigen, zum Gegenstand revisionistischer Deutungen und in Guido Knopps Fernsehen zur Fundgrube von Doku-Soap-Operas geworden, die mit der Faszination des Bösen spielen und die Täter entlasten. Daher ist es notwendig, die Urgeschichte von Hitlers Krieg noch einmal zu erzählen.



Die zweite Säule

Am 3. Februar 1933, vor allen anderen Trägern staatlicher Macht, lud Hitler die Befehlshaber des Heeres und der Marine ein, um ihnen sein Programm zu erläutern. Es bestand aus vier Punkten: 1. Die Wehrmacht sei der einzige Waffenträger der Nation, eine Verschmelzung mit Parteiformationen wie der SA komme nicht in Frage; 2.Als überparteiliche und unpolitische Institution habe sie dem Schutz des Reiches, nicht aber der Befriedung von Kämpfen im Innern zu dienen, letzteres sei Sache der Partei; 3.Zur Wehrhaftmachung des Volkes müßten die militärischen Beschränkungen des Versailler Vertrages, u.a. das Verbot der allgemeinen Wehrpflicht, beseitigt und die marxistisch-pazifistische Gesinnung in Deutschland ausgerottet werden. Wörtlich: »Wer sich nicht bekehren will, muß gebeugt werden. Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stil. Einstellung der Jugend und des ganzen Volkes auf den Gedanken, daß nur der Kampf uns retten kann.« 4.Langfristiges Ziel seiner Politik, so schloß Hitler, sei die »Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung«.

Die programmatische Rede des neuen Reichskanzlers war nichts anderes als das Angebot eines Paktes zwischen NSDAP und Wehrmacht: Für die Revision von 1918 und Deutschlands Wiederaufstieg zur Großmacht verlangte Hitler die Tolerierung seiner Politik im Inneren. Die Generäle signalisierten nach der Begegnung Zustimmung: »Erkenntnis [ist] notwendig, daß wir in einer Revolution stehen. Morsches im Staat muß fallen, das kann mit Terror geschehen. Die Partei wird gegen Marxismus rücksichtslos vorgehen. Aufgabe der Wehrmacht, Gewehr bei Fuß. Keine Unterstützung, falls Verfolgte Zuflucht bei der Truppe suchen«. Hitler tat das Seine und hielt Wort:
  • mit der Schaffung der zunächst noch geheimen deutschen Luftwaffe, im Mai 1933;
  • mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht am 16. März 1935;
  • mit dem Einmarsch der Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland und der damit wiedergewonnenen militärischen Souveränität im März 1936;
  • mit der Unterstützung des Putschgenerals Franco ab Sommer 1936 und einem fast dreijährigen Testlauf für den künftigen Krieg.
Die Reichswehr stand dafür bei allen Etappen des Umbaus der eroberten Republik in einen totalitären Unrechtsstaat, wie versprochen, Gewehr bei Fuß:

Innerhalb von nur vier Monaten waren die konservativen Koalitionspartner, die Hitler hatten zähmen wollen, gescheitert und zu Randfiguren geworden. Die Länder unterstanden Parteistatthaltern, Zehntausende SA-Männer waren zur Hilfspolizisten ernannt worden. Die Reichstagsbrandverordnung (28. Februar 1933) und das folgende Ermächtigungsgesetz (23. März 1933) hatten alle wichtigen Grundrechte außer Kraft gesetzt und die willkürliche Verfolgung der politischen Gegner ermöglicht. Gewerkschaften und demokratische Parteien waren aufgelöst, die NSDAP fungierte als Monopolpartei. Während Zehntausende Kommunisten und Sozialisten die neugeschaffenen KZ füllten, wurde mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7. April 1933) die endgültige Vertreibung der Juden in Gang gesetzt.

Ein Jahr später, am 30. Juni 1934, war die Gefahr eines Konflikts zwischen Hitlers Parteiarmee und der Wehrmacht durch Abschlachten von Röhm und mehr als 100 seiner SA-Führer gebannt. Kurz darauf, nach dem Tod von Hindenburg, wurde der Reichskanzler Hitler auch Reichspräsident: Er war jetzt Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Diese leistete ihren Eid ab sofort nicht mehr auf Verfassung und Vaterland, sondern persönlich »auf den Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler«.

Die am 15. September 1935 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg erlassenen Rassegesetze machten die deutschen Juden zu politisch rechtlosen Staatsangehörigen. Aber die Wehrmacht hatte diese Apartheidpolitik schon vorher praktiziert: Am 28. Februar 1934 waren alle jüdischen Offiziere und Soldaten aus der Truppe entfernt worden. Der Begriff der Rassenschande wurde ab jetzt Teil des Dienstreglements: Offizieren war die Ehe mit Jüdinnen verboten.

Die rabiate Durchsetzung des Arierparagraphen war nicht nur vorauseilender Gehorsam der Wehrmachtsführung in einer Einzelfrage, sondern Ergebnis der von ihr systematisch betriebenen Heranführung der Truppe an den Nationalsozialismus. Seit Herbst 1933 hatte der »nationalpolitische Unterricht« die Aufgabe, die »Leitgedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung« und die tagespolitischen Maßnahmen der NSDAP zum »revolutionären Umbau von Staat und Gesellschaft« im Offizierskorps zu verankern. »Wehrmacht und Staat sind eins geworden«, verkündete der Reichswehrminister Blomberg schon 1934 voll Stolz. Und Hitler bestätigte: Die neue Staatsführung werde »von zwei Säulen getragen, politisch von der in der nationalsozialistischen Bewegung organisierten Volksgemeinschaft, militärisch von der Wehrmacht«. Das entsprach durchaus dem Selbstverständnis der Mehrheit der Uniformträger. Das Bündnis NSDAP und Wehrmacht war nicht nur ein taktischer Deal zur Sicherung der eigenen Interessen, sondern es basierte auf einer großen Schnittmenge gemeinsamer politischer Überzeugungen: Die Militärs des 100 000-Mann-Heeres hatten die Republik von Weimar abgelehnt und wollten den autoritären Führerstaat, sie haßten demokratische Parteien und international agierende Gewerkschaften, die ihnen als Steigbügelhalter des Bolschewismus galten, ihre Ziele hießen Rache für Versailles und ein neuer Krieg für Deutschlands Größe. Juden waren ihnen suspekt, und sie hatten nichts dagegen, daß ihre angebliche »Macht« beschnitten wurde. Diese, wie Manfred Messerschmidt formuliert hat, »Teil­identität der Ziele« sorgte dafür, daß das Bündnis 1933 gelang: Es sicherte Hitler den Sieg und besiegelte Deutschlands Schicksal.

Krieg als Gesellschaftszustand

Im Zentrum von Hitlers Denken stand der Krieg. Seine Programmschrift »Mein Kampf« hatte das unmißverständlich schon 1924 zum Ausdruck gebracht, und sein 1928 verfaßtes »Zweites Buch« hatte diesen Gedanken weiter zugespitzt: »Kampf« war das Natürliche und »Krieg« das Ziel jeder Politik. Damit war die instrumentelle Vorstellung vom Krieg als eines Mittels der Politik, wie sie Clausewitz entwickelt hatte, auf den Kopf gestellt: Krieg war der Zweck, war Politik. Hitler leitete sein Konzept direkt aus dem Naturgesetz ab: Da das Recht des Stärkeren den Ablauf des einzelnen Lebens wie den Gang der Weltgeschichte bestimme, habe der Krieg als die höchste Lebensäußerung eines Volkes und als die einzige Überlebenschance einer Nation zu gelten. Der Gegner stehe aufgrund eines historischen Antagonismus, der durch Deutschlands Niederlage 1918 und den Sieg der russischen Revolution nur eine gefährliche Zuspitzung erfahren habe, schon lange fest: Das Krebsgeschwür der Geschichte seien die Juden, die extremste Inkorporation dieses Übels aber der Bolschewismus. Dieser jüdische Bolschewismus schicke sich an, den Tod der höheren, kulturbegründenden Rassen zu besiegeln und damit die Weltherrschaft zu erringen. Als einzige Ziele eines künftigen deutschen Waffengangs habe die Ausrottung dieser Weltverderber und die eigene gewaltsame Eroberung von Lebensraum im Osten zu gelten. Dabei seien alle supranational verabredeten oder aus der gültigen Ethik folgenden völkerrechtlichen oder moralischen Begrenzungen im Falle eines solchen Krieges nicht bindend. Der Kampf gegen den Rassenfeind und für Lebensraum sei ein Krieg um Deutschlands Schicksal und daher ein gerechter Krieg. Er dürfe folglich mit allen – auch den inhumansten – Mitteln geführt werden.

Der Weg dahin sei nicht in einem einzigen Schritt, sondern in Etappen zu erreichen. Nach der »Wiedervereinigung« mit Österreich in einem Großdeutschen Reich stehe die »Vernichtung« des »unerbittlichen Todfeindes« Frankreich auf der Tagesordnung. Dann beginne der eigentliche Schicksalskampf des deutschen Volkes im Osten, der im Bündnis, mindestens aber mit Billigung der an kontinentalen Machtverschiebungen desinteressierten »Seemacht« England erfolgen werde; Länder wie Polen und die Tschechoslowakei besäßen, als Ausgeburten des Versailler Vertrages und als Teil der slawischen Minderrasse, kein Lebensrecht und seien zu »germanisieren«.

Die Jahre 1933 bis 1939 dienten Hitler dazu, Krieg als gesellschaftliches Projekt durchzusetzen. Die innenpolitischen Gegner wurden, als Verursacher vergangenen oder gegenwärtigen Schadens, markiert und, je nach Opportunität, mit brutaler Gewalt oder auf dem Verordnungswege eliminiert. Das Chaos der internationalen Politik, die in Folge der europaweit verhängten Versailler Verträge wie der weltweiten ökonomischen Dauerkrise noch zu keiner neuen Ordnung gefunden hatte, konnte als Vorwand benutzt werden, die gegen Deutschland verhängten Sanktionen zu annullieren und in Europa neue Grenzen zu ziehen. Die reibungslose »Gleichschaltung« im Inneren wie die vom Ausland geduldeten »Anschlüsse« benachbarter Staaten wurden von den meisten Deutschen als erfolgreiche Bestätigung einer Politik verstanden, die statt auf rechtsförmige Verfahren und diplomatisches Paktieren auf offene Gewalt setzte.

Aber Ende der 30er Jahre traute Hitler seinem Volk und dessen Gewalt- und Wehrbereitschaft noch nicht ganz über den Weg. Am 5. November 1937 hatte er den Befehlshabern der Wehrmacht seinen Entschluß mitgeteilt, die Schicksalsfrage des deutschen Volkes, die Gewinnung von Lebensraum, ab sofort mit kriegerischen Mitteln zu lösen. Erste Ziele auf diesem Weg seien Österreich und die Tschechoslowakei. Entsprechend waren durch einen Akt staatlicher Erpressung am 12. März 1938 Österreich, dann aufgrund des Münchener Abkommens am 10. Oktober 1938 das mehrheitlich von Deutschen bewohnte tschechoslowakische »Sudetenland« annektiert worden. Bevor Hitler die nächsten, sehr viel riskanteren Schritte, die »Zerschlagung der Resttschechei« und den Überfall auf Polen, einleitete, ließ er am 10. November 1938 in Berlin 400 Journalisten und Verleger zusammenrufen, um sie auf die größte Propagandakampagne der Neuzeit einzuschwören. Am Beginn seiner Rede stand das Bekenntnis, sein bisheriges Eintreten für eine friedliche Beseitigung des durch den Versailler Vertrag entstandenen Unrechts sei ein bewußtes Täuschungsmanöver gewesen, um dem deutschen Volk Handlungsfreiheit und militärische Souveränität zurückzugewinnen. Allerdings habe diese langjährige Friedenspropaganda auch dazu geführt, daß viele glaubten, er trete für Frieden um jeden Preis ein. Daher sei es jetzt an der Zeit, »das deutsche Volk psychologisch umzustellen und ihm langsam klarzumachen, daß es Dinge gibt, die (...) mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen«. Das werde nicht erreicht, indem man einfach nur die Gewalt als solche predige. Es komme vielmehr darauf an, belehrte Hitler die handverlesenen Meinungsmacher, »bestimmte außenpolitische Vorgänge so zu beleuchten, daß die innere Stimme des Volkes selbst langsam nach der Gewalt zu schreien [beginne]«, daß »im Gehirn der breiten Masse des Volkes ganz automatisch allmählich die Überzeugung ausgelöst [werde]: so aber kann es auf keinen Fall weitergehen.« Dieses Gefühl des »So-kann-es-nicht-weitergehen«, das in den kommenden Monaten systematisch mobilisiert wurde, speiste sich aus der angeblichen Verweigerung des Lebensraums für das deutsche Volk und aus dessen vermeintlicher Einkreisung durch eine von England angeführte Kriegskoalition.

Der Einmarsch in Prag am 15. März und der Überfall auf Polen am 1. September 1939 schienen der Ausweg aus dieser Sackgasse zu sein. Daß beide Coups gelangen, schuf den vorgeschobenen Kriegsgründen eine nachträgliche Legitimierung. Der Blitzkrieg in Polen gab zudem Gelegenheit, Hitlers Vorstellung vom Krieg zu studieren.

Polen: Einübung in den Völkermord

Am 22. August 1939, während die internationale Diplomatie heißlief, um den drohenden Ausbruch des Krieges doch noch zu verhindern, hatte Hitler auf dem Obersalzberg die für den Feldzug vorgesehenen Befehlshaber versammelt und Klartext gesprochen: »Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. (...) Restlose Zertrümmerung Polens ist das militärische Ziel.« – »Nicht Land (...) besetzen, sondern die Kräfte (...) vernichten.«– »Mit der physischen Vernichtung [der Bevölkerung gewinnt Deutschland] den Lebensraum, den wir brauchen.« – »Mittel gleichgültig. (...) Es handelt sich nicht darum, das Recht auf unserer Seite zu haben, sondern ausschließlich um den Sieg.« Die Sorgen seiner Generäle vor einem drohenden Angriff Englands und Frankreichs im Westen löste Hitler wie mit einem Zauberstab in Nichts auf: Der Nichtangriffspakt mit Stalin, der am nächsten Tag in Moskau paraphiert werden würde, sah vor, Polen in die Zange zu nehmen und nach dem Sieg unter sich zu verteilen.

Dies würde kein normaler Waffengang werden, das wußten die Generäle schon während der Rede. Aber Polen war auch kein normaler Gegner, sondern wurde wegen seiner angeblich kulturellen und ökonomischen Rückständigkeit von großen Teilen der Deutschen seit Jahrzehnten verachtet und wegen der gescheiterten Kämpfe um Oberschlesien Anfang der 20er Jahre gehaßt. Entsprechend rassistisch waren die Instruktionen, die von der Abteilung Wehrmachtspropaganda des OKW Ende August 1939 an die Truppe verteilt wurden: der Pole sei »in seinen Forderungen (...) maßlos, in seinen Versprechungen unzuverlässig. (...) Er ist willkürlich und rücksichtslos gegen andere. Grausamkeiten, Brutalität, Hinterlist und Lüge sind Kampfmittel, die er an Stelle der ruhigen Kraft in der Erregung gebraucht.« Die Truppenkommandeure zogen daraus, noch bevor der erste Schuß gefallen war, militärisch eindeutige Schlußfolgerungen: »Dem hinterhältigen Charakter des Slaven ent[sprechend]« müsse mit einem Krieg hinter der Front gerechnet werden, dessen Träger vor allem die Geistlichen sein würden, die bekanntlich »fanatische Deut[schen]hasser« seien. Auch von der übrigen Bevölkerung sei mit »hetzerischer Tätigkeit« zu rechnen. Das einzige Mittel dagegen sei »rücksichtsloses Durchgreifen« – »Erschießungen sind am wirksamsten«. Es verwundert nicht, daß die Truppe, so eingestellt, nach Überschreiten der Grenze das Feuer auf jeden eröffnete, der im Verdacht stand, Sabotage oder Widerstand zu leisten. Dutzende von Dörfern gingen schon in den ersten Kriegstagen in Flammen auf, Hunderte Einwohner wurden erschossen. In Städten wie Katowice und Czestochowa kam es zu Massakern mit mehr als 1000 Toten. Dabei waren die Opfer in vielen Fällen Freiwillige, die zur Unterstützung der ohne Kriegserklärung überfallenen polnischen Streitkräfte mobilisiert worden waren oder sich freiwillig in »Bürgerkomitees« organisiert hatten.

Die Schimäre des Partisanenkrieges schien durch das Auftauchen von zersprengten Feindabteilungen in Flanke und Rücken der Wehrmacht bestätigt zu werden. Obwohl diese infolge des militärischen Überfalls und des dadurch möglichen raschen Durchstoßens der polnischen Truppenverbände diese Unübersichtlichkeit des Schlachtfeldes selbst geschaffen hatte, löste sie das Problem, indem sie alle diese Feindverbände, falls sie sich nicht ergeben würden, zu Partisanen erklärte: »Heimtückische Überfälle auf deutsche Truppen hinter der Front sind kein ehrlicher Krieg. Solche Banden betrachten wir als Räuber und werden sie entsprechend behandeln«, lautete das apodiktische Urteil der Generäle, das die Regeln des Völkerrechts außer Kraft setzte. Das war schon vorher an der Front durch vielfachen Mißbrauch unterminiert worden: Etwa 500 Kriegsgefangene waren vor dem 12. September als »Vergeltung« für eigene Verluste, weil sie »revoltierten« oder die »Flucht ergreifen wollten«, erledigt worden. Weitere 1500 Gefangene wurden bis zum Ende der Kampfhandlungen am 28. September 1939 erschossen. Dazu kamen 8000 als »Freischärler« und Geiseln erschossene Zivilisten.

»Flurbereinigung«

Zur allgemeinen Barbarisierung trug bei, daß zusammen mit der Wehrmacht deutsche Sondereinheiten einmarschiert waren, die nicht unter ihrem Kommando standen. Es handelte sich um sechs Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes SD des Reichsführers SS, sechs Polizeibataillone, drei SS-Totenkopfregimenter aus den Standorten KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Sie folgten den Befehlen Himmlers und waren, laut einer Vereinbarung mit dem Oberkommando des Heeres (OKH), mit der »Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente in Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe« beauftragt. In Hey­drichs präziserer Diktion lautete der Auftrag: »Die kleinen Leute wollen wir schonen, der Adel, die Popen und Juden müssen aber umgebracht werden.« Oder als zynischer Imperativ: »Flurbereinigung: Judentum, Intelligenz, Geistlichkeit, Adel.« Schon am Ende der ersten Kriegswoche nannte Heydrich die Zahl von »täglich (...) 200 Exekutionen«. Dank dieser Mordpraxis konnte der SD-Chef Ende September melden, daß vom polnischen Führertum »höchstens noch 3% vorhanden« seien. Insgesamt wurden von diesen SS-Verbänden synchron mit den militärischen Operationen 10000 bis 17000 Menschen erschossen.

Hitler hatte die Wehrmachtsführung über den Ausrottungsfeldzug der SS gegen Juden und polnische Intelligenz am 7. September offiziell informiert. Aber die Wehrmachtsführung reagierte erst, als ihr Heydrich am 19. September von seinen weitergehenden radikalen Plänen Mitteilung machte: die Juden sollten aus den bald deutschen Gebieten Westpolens entfernt und zusammen mit den Juden aus dem Reich in einem bei Krakau einzurichtenden »Judenstaat unter deutscher Verwaltung« konzentriert werden. Walther von Brauchitsch, der Oberbefehlshaber des Heeres, versuchte, Zeit zu gewinnen und Verantwortung abzuschieben und plädierte dafür, diese »volkspolitischen Bewegungen« erst nach Abzug der Wehrmacht und Errichtung einer Zivilverwaltung durchzuführen. Auch aus wirtschaftlichen Überlegungen warnte er vor einer »zu schnellen Beseitigung der Juden«.

Die Ursachen für diese ambivalente Haltung der Wehrmachtsführung in der sogenannten Judenfrage waren die durchgängige Ablehnung der »Ostjuden« durch das Offizierskorps. Entsprechend hatten die Befehlshaber vom ersten Tag an ihren Truppen die Juden als Feinde präsentiert: Sie seien »absolut deutschfeindlich« und »meist mit der Regierung auf Gedeih und Verderb verbündet«. Je nach Marschgebiet wurde vor »den Dorfjuden« gewarnt oder auf die Gefahren hingewiesen, die aus »bis zu 90% jüdischen« Städten im Norden oder vom »jüdischen Proletariat« des ostgalizischen Erdölgebietes drohten. Es war kein Wunder, daß Teile der Truppen diesen Instruktionen folgten. Sie unterstützten nicht nur den Judenmord der SS, sondern gingen auch selber gegen die Juden vor: Sie plünderten ihre Häuser und Läden, steckten Synagogen in Brand, vergewaltigten und mordeten. Von den 10000 Zivilisten und Gefangenen, die Angehörige der Wehrmacht im September 1939 töteten, waren 2000 Juden. Um die Disziplin der Truppe zu erhalten, verbot der OB in einem Geheimbefehl die Waffenhilfe für die SS, und die Truppenführer vor Ort untersagten »eigenmächtige Maßnahmen gegen die Juden«. Wie der Eintrag des General­stabschef des Heeres, Franz Halder, im Kriegstagebuch vom 5. Oktober 1939 zeigt, hatte das keine Wirkung: »Judenmorde – Disziplin!«

Nach dem Sieg gegen Polen kündigte Hitler am 6. Oktober vor dem Reichstag an, daß er »eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse« im Osten und Südosten Europas und auch »eine Regelung des jüdischen Problems« plane. Nachdem die westpolnischen Gebiete zu den zwei neuen Reichsgauen Danzig/Westpreußen und Wartheland zusammengefügt und Zentralpolen mit den Städten Warschau, Krakau, Lublin zum »Generalgouvernement« gemacht worden waren, wurden am 25. Oktober die bisherige Militärverwaltung aufgehoben und die politische Macht den Gauleitern bzw. dem Generalgouverneur Hans Frank übertragen. Sofort setzte die »Umsiedlung« der Polen und Juden aus den beiden neuen Gauen in das Generalgouvernement ein. Parallel dazu kam es in allen drei Gebieten zu Massenerschießungen der polnischen Führungsschicht und der Juden.

Die Proteste der Militärbefehlshaber in den beiden neuen Gauen gegen das öffentliche Morden zeigten ebenso wenig Wirkung wie die Eingaben des im Generalgouvernement stationierten Generaloberst von Blaskowitz, der auf den politischen Schaden hinwies, den das Abschlachten von, »einigen 10000 Juden und Polen« nicht zuletzt durch die dadurch bewirkte »maßlose Verrohung und sittliche Verkommenheit« der Truppe anrichte. Sein Vorgesetzter, der Oberbefehlshaber des Heeres, rechtfertigte diese zur »Sicherung des deutschen Lebensraumes notwendige und vom Führer angeordnete Lösung volkspolitischer Aufgaben« und versprach, deren Durchführung in Zukunft »von der Truppe fernzuhalten«. Die letzten Skrupel beseitigte Himmler, als er Anfang März 1940 auf einer Versammlung der für den Westfeldzug abkommandierten Generäle in Koblenz erklärte, alle Maßnahmen der SS in Polen seien auf den ausdrücklichen Befehl des Führers erfolgt. Das reichte, um die Debatten über die »Mißgriffe« in Polen zu beenden.

Massenmord nach Plan

Das »Unternehmen ›Barbarossa‹«, der Vernichtungskrieg gegen die UdSSR, war Hitlers immer geplanter, sein eigentlicher Krieg. Die Rede, die er am 30. März 1941 an die 100 Befehlshaber und Stabschefs des künftigen Ostheeres im Empfangssaal der Reichskanzlei richtete, verriet das. Sie war ein offener Aufruf zum Verbrechen: »Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander. Vernichtendes Urteil über Bolschewismus, ist gleich asoziales Verbrechertum. Kommunismus ungeheure Gefahr für die Zukunft. Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher [als Gefangener] kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf. (...) Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz. (...) Der Kampf muß geführt werden gegen das Gift der Zersetzung. Das ist keine Frage der Kriegsgerichte. (...) Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen. Im Osten ist Härte mild für die Zukunft. Die Führer müssen von sich das Opfer verlangen, ihre Bedenken zu überwinden.«

Als Hitler nach der Rede sofort den Saal verließ, löste sich auch die Versammlung auf. Äußerungen von Empörung, Widerspruch oder Zweifel aus dem Kreis der anwesenden Generäle sind nicht bekannt. Das belegen auch die vier Grundsatzbefehle, die von der Wehrmachtsführung in den folgenden Wochen ausgearbeitet wurden. Sie heißen, weil sie den Grundriß des Vernichtungskrieges lieferten, unter Historikern »die verbrecherischen Befehle«:

Am 13. Mai 1941 wurden die für Delikte der Zivilbevölkerung sonst zuständigen Kriegsgerichte abgeschafft: »Freischärler« wie alle tatverdächtigen Zivilisten mußten von der Truppe an Ort und Stelle erledigt werden; falls sie nicht gefaßt wurden, sollten »kollektive Gewaltmaßnahmen« gegen nahliegende Dörfer und deren Einwohner erfolgen. Damit wurde von Beginn an eine zweite Front eröffnet und legitimiert – der Partisanenkrieg als Kampf gegen die Zivilbevölkerung.

Am 19. Mai folgten »Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland«, in denen für jeden Soldaten die Feindgruppen des künftigen Krieges definiert wurden: der Kampf gegen den Bolschewismus, den »Todfeind des nationalsozialistischen deutschen Volkes«, verlange »rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden«. Damit waren die Juden als militärischer Feind benannt.

Am 6. Juni erging der Befehl zur Behandlung der Kommissare der Roten Armee: »Als Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden« seien diese »grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen«. Damit war der Gefangenenmord auf dem Schlachtfeld eingeführt.

Am 16. Juni erfolgten Bestimmungen über die Kriegsgefangenen: Die ihnen zustehenden Rechte wie ausreichende Ernährung und medizinische Versorgung wurden faktisch außer Kraft gesetzt; am 8. September erging eine Anordnung, daß der gefangene Rotarmist »jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafter Soldat und nach dem Genfer Abkommen verloren« habe. Ab jetzt waren die Gefangenen endgültig Freiwild.

Umfassende Instruktionen

Diesen Befehlen lagen drei weitergehende, aber nicht offen genannte Weisungen zugrunde. Die erste, die das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen bestimmen sollte, besagte, daß sich die Wehrmacht »aus dem Land« zu ernähren und alle Überschüsse der Heimat zuzuführen hatte. »Hierbei«, so lautete der Beschluß der beteiligten Ministerien am 2. Mai 1941 in Berlin, »werden zweifellos zig Millionen Menschen [in Rußland] verhungern«. Das Massensterben der Kriegsgefangenen, eine Million im ersten Halbjahr, war also kein durch widrige Umstände verursachtes Mißmanagement, sondern Kriegsplan.

Die zweite, den Maßnahmen gegen die Juden zugrunde liegende Abmachung erfolgte zwischen Wehrmacht und SS am 28. April 1941. Für die »Durchführung besonderer sicherheitspolizeilicher Aufgaben« sollten vier Einsatzgruppen des SD in den rückwärtigen Gebieten des Heeres gegen »führende Emigranten, Saboteure, Terroristen usw.« tätig werden. Daß mit der Formel »usw.« Juden und Kommunisten gemeint waren, wußte jeder Stabsoffizier aufgrund mündlicher Instruktionen und eines exakteren Befehls aus dem Feldzug gegen Jugoslawien. Die SS-Kommandos handelten »in eigener Verantwortlichkeit«, waren aber der Wehrmacht »hinsichtlich Marsch, Versorgung und Unterbringung unterstellt« und verpflichtet, alle geplanten Aktionen den zuständigen Wehrmachtsstäben »rechtzeitig zur Kenntnis zu bringen«. Die Wehrmacht wußte also, was hinsichtlich der Verfolgung der Juden auf sie zukam: eine genau geregelte Arbeitsteilung.

Die dritte Rahmenentscheidung betraf die Zielplanung für die besiegte Sowjetunion: Nach dem Willen Hitlers sollte der »Lebensraum im Osten« als Lieferant für Lebensmittel und als Siedlungsraum deutscher Volksgenossen dienen. Um Raum dafür zu schaffen, sah ein im Auftrag Himmlers ausgearbeiteter »Generalplan Ost« vor, 14 Millionen Einheimische als Arbeitssklaven am Leben zu lassen, 31 Millionen sollten deportiert und ermordet werden. Jeder tote Russe war also ein Stück deutscher Zukunft.

Die verbrecherischen Befehle wurden befolgt und die von Himmler vorgegebene Maßzahl toter Russen fast erreicht. 27 Millionen Sowjetbürger verloren in diesem Krieg ihr Leben – 11,5 Millionen Rotarmisten, 3,5 Millionen Kriegsgefangene, 2,5 Millionen Juden und 9,5 Millionen andere Zivilisten. Dieser Sachverhalt war gemeint, als wir in der ersten Wehrmachtsausstellung, diesen Krieg »das – neben Auschwitz – barbarischste Kapitel der deutschen und österreichischen Geschichte« nannten. Dieser Massenmord war nicht das Werk der SS, wie es jahrzehntelang erzählt wurde, sondern konnte nur durch die aktive Mitwirkung, Billigung oder Duldung der zehn Millionen an der Ostfront eingesetzter Wehrmachtssoldaten Realität werden. Wie aber erklärt sich diese vom ersten Tag an zu beobachtende Bereitschaft zum Verbrechen? Wie konnten Soldaten Mörder werden?

Verteufelung des Gegners

»Daß Ihnen die friedliche Arbeit mehr liegt und [sie] mehr erfreut als das Morden, glaube ich, wenn aber die Überzeugung in den Menschen gekommen ist, treibt man auch dieses Handwerk mit Stolz und Gewissenheit«, so hat ein unbekannter Soldat in einem Feldpostbrief einem Bekannten in der Heimat die am eigenen Leib erfahrene Veränderung erklärt. Wenn man die Ursachen für diese »Überzeugung«, daß das Morden rechtens war, erklären will, reicht es nicht, auf die rassistische Sozialisierung in Schule, HJ, Reichsarbeitsdienst (RAD) und Wehrmacht, auf die in Polen praktizierte Einübung in den Völkermord (siehe Teil 1) oder auf die Droge der Unbesiegbarkeit aus den Blitzsiegen im Westen hinzuweisen. Genau so wichtig war, daß es der direkten Intervention Hitlers und der ausführenden Wehrmachtstäbe gelang, die Wahrnehmung des Krieges an der Ostfront vorab so zu manipulieren, daß sie durch die Realität der »Ostfront« bestätigt zu werden schien.

Hitler hatte schon bei der Niederschrift von »Mein Kampf« zu ergründen versucht, wie man vor einem künftigen Waffengang eine bestimmte »Optik« auf die Ereignisse erzeugen könnte. Zu seinem Modell wurde dabei das Vorgehen der Engländer im Ersten Weltkrieg. Diese hätten, so sein Fazit, die Deutschen »als Barbaren und Hunnen« präsentiert und so die eigenen Soldaten wirkungsvoll auf die Schrecken des Krieges vorbereitet: »Denn die grausame Wirkung der Waffe, die er ja nun an sich von seiten des Gegners kennen lernte, erschien ihm allmählich als Beweis der ihm schon bekannten ›hunnenhaften‹ Brutalität des barbarischen Feindes, ohne daß er auch nur einen Augenblick soweit zum Nachdenken gebracht worden wäre, daß seine Waffen (...) noch entsetzlicher wirken könnten.« Diese Lektion wandte Hitler an, als er den lange geplanten Krieg gegen die Sowjetunion vorbereitete. Entschlossen, ihn außerhalb der Normen des Völkerrechts zu führen, sorgte er in seinen Reden, Befehlen und Instruktionen dafür, dieses Szenario zu verschleiern, indem er den Gegner zum Rechtsbrecher abstempelte. Der Sowjet­union wurde unterstellt, sie habe einen Angriff geplant, dem das deutsche Reich nur zuvorgekommen sei, sie betreibe eine »asiatische« Kampfesweise und zeige ein Verhalten außerhalb jeder Kriegskonventionen und jenseits aller Standards einer Kulturnation: »Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen«, das wurde der Schlüsselsatz in den verbrecherischen Befehlen: Kommissare mußten erschossen werden, da von ihnen »eine haßerfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten« sei, dem gefangenen Rotarmisten wurde eine völkerrechtskonforme Behandlung verweigert, weil er dazu ausgebildet worden sei, den Krieg »mit jedem ihm zur Verfügung stehenden Mittel: Sabotage, Zersetzungspropaganda, Brandstiftung, Mord« zu führen, die für Delikte der Zivilbevölkerung sonst zuständigen Kriegsgerichte wurden abgeschafft wegen der »Besonderheit des Gegners« und der durch den »bolschewistischen Einfluß« verursachten »Leidenszeit des deutschen Volkes« seit 1918. Und die Juden wurden zu Feinden, weil sie die »Träger des Bolschewismus«, des Todfeindes des nationalsozialistischen Deutschland, waren.

Was mit dieser Verteufelung des Gegners erreicht wurde, war die Überzeugung von der eigenen gerechten Sache. Die Kriegsführung der Deutschen reagierte in den Augen der Wehrmacht offensichtlich nur auf die permanenten Rechtsbrüche der Roten Armee und versuchte, die eigenen Soldaten davor zu schützen. Die Wehrmachtsführung bezeichnete daher ihr Vorgehen an der Ostfront als »Kriegsbrauch mit östlichen Mitteln« und wies die Truppe im Vorweg darauf hin, daß »im kommenden Einsatz Rechtsempfinden u.U. hinter Kriegsnotwendigkeit zu treten habe«. Der eigene Kampf, indem er dem permanenten Rechtsbruch des Gegners widerstand und diese bestrafte, erhielt, geadelt durch das Opfer der gefallenen Kameraden, eine hohe moralische Legitimation, die jeden Zweifel an der eigenen Kriegsführung ausschloß.

»Selbst Phänomene, die eigentlich deutlich auf den Vernichtungscharakter dieses ›Krieges‹ hinwiesen«, hat sich ein ehemaliger Soldat selbstkritisch erinnert, »habe ich (wie wohl die allermeisten Frontsoldaten) eingeordnet in ein ganz allgemeines, um nicht zu sagen ›normales‹ Kriegsgeschehen und militärisches Unternehmen«. Nur wenige von Hitlers Kriegern waren in der Lage, Jahre nach dem Völkermord an der Ostfront, die eigene Verblendung – wie Amoralität zu Normalität wurde – so zu erkennen und zu benennen.

Der Export des Vernichtungskrieges

Am 7. Juni 1944, einen Tag nach der Landung der Alliierten in der Normandie, griffen um fünf Uhr morgens 1300 Angehörige der französischen Widerstandbewegung »Franctireurs et partisans« ­Tulle, die Hauptstadt des Départements Corrèze, an. Die Stadt, in der 700 deutsche Soldaten und ebensoviel französische Polizisten stationiert waren, sollte besetzt und ein Signal für den offenen Aufstand in ganz Südfrankreich werden. Am Abend des 8. Juni schien dies Ziel erreicht zu sein: nachdem die 700 französischen Polizisten kapituliert und freien Abzug bekommen hatten, 60 deutsche Soldaten sowie neun Angehörige des SD gefallen und 60 weitere Soldaten gefangengenommen worden waren, hatte sich der Rest der deutschen Besatzer in einer Schule verschanzt, um von dort in der Nacht auszubrechen. Während die Bevölkerung auf den Straßen und Plätzen von Tulle die Befreiung feierte und die Résistance im Rathaus ihr Hauptquartier einrichtete, hatte gegen 22 Uhr eine Panzerabteilung der SS-Division »Das Reich« Tulle erreicht und begann, die Stadt zurückzuerobern. Den Maquisards, die zwei Dutzend Tote zurückließen, gelang es, sich mit ihren Gefangenen unbehelligt zurückzuziehen.

Bewaffnete Kämpfe wie die von Tulle ereigneten sich im Sommer 1944 überall im besetzten Europa. Die Wehrmacht stand nicht nur einem weit überlegenen militärischen Gegner gegenüber, sondern kämpfte an einer zweiten Front auch gegen den bewaffneten, von großen Teilen der Bevölkerung unterstützten Widerstand. Dieser hatte sich vor allem in der Folge von alliierten Landeoperationen entwickelt. Die erste Phase wurde im Winter 1942, zeitgleich mit der Einschließung der 6. Armee in Stalingrad, eingeleitet: Am 7. November waren alliierte Truppen in Nordafrika gelandet und hatten mit der Eroberung Algeriens und Marokkos begonnen. Daraufhin hatte die Wehrmacht am 11. November die bisher von der Vichy-Regierung in Frankreich verwalteten Gebiete südlich der Loire besetzt. Sie war jetzt der direkte Gegner der seit Sommer 1941 bestehenden Résistance. In Griechenland machte der Widerstand, unterstützt von englischen Spezialisten und Waffenlieferungen, zur gleichen Zeit mit spektakulären Sprengungen von Nachschubverbindungen auf sich aufmerksam. Die italienischen Besatzer, die 70 Prozent des Landes kontrollierten, wurden in ihre Garnisonen zurückgedrängt. Die zweite Phase begann im Sommer 1943: Die am 10. Juli erfolgte Landung der Alliierten in Sizilien und der am 3. September geglückte Sprung aufs Festland führten zum Sturz Mussolinis und der Kapitulation der italienischen Armee. Die Wehrmacht reagierte wie in Frankreich: Sie besetzte das restliche Italien und die bisherigen italienischen Besatzungsgebiete in Albanien und Griechenland. Während die deutschen Truppen nach der Niederlage in Stalingrad und der gescheiterten Offensive bei Kursk ab Sommer 1943 im Osten den verlustreichen Rückzug antraten, standen sie in West- und Südeuropa in einem verlustreichen Zweifrontenkrieg.

Die Antwort auf diese bedrohliche Lage war ein doppelter Export – die Übertragung der an der Ostfront erprobten Methoden eines gnadenlosen Terrors und die Abkommandierung von Personal, das über langjährige Erfahrung im Krieg gegen die Zivilbevölkerung verfügte. Himmler hatte schon im Sommer 1942 dafür gesorgt, daß die SS eine führende Rolle bei der Bekämpfung der sowjetischen Partisanen übernahm: Der wegen seiner Brutalität von Hitler geschätzte SS-Führer Erich von dem Bach-Zelewski schuf eine zentrale Kommandostelle, die mit ihren Verbänden das perfektionierte, was die Wehrmacht schon im ersten Jahr der Besatzung begonnen hatte – die Einschleusung von V-Leuten in die Bevölkerung, plötzliche und weiträumige Razzien, Massenerhängungen und das Abbrennen der Dörfer als Abschreckung, militärische Großaktionen, bei denen bis zu 20000 Soldaten, Polizisten und SS-Männer unter Einsatz von schweren Waffen und in der Form einer Treibjagd »bandenverseuchte Gebiete« einkesselten und in »tote Zonen« verwandelten. Aufgrund dieser Verdienste wurde Bach-Zelewski am 21. Juni 1943 von Himmler zum »Chef der Bandenkampfverbände« in allen von der Wehrmacht besetzten Gebieten ernannt. Ganz Europa, so der Wille Hitlers, sollte von seinen Erfahrungen im Massenmord und von seinen SS- und Polizeiverbänden profitieren.

Aber auch die Wehrmacht entsandte in die west- und südeuropäischen Gebiete, in denen sie die vollziehende Gewalt übernommen hatte, Hilfstruppen von der Ostfront – erfahrene Orts- und Feldkommandanten, die auf politische »Gegnerbekämpfung« spezialisierte Feldgendarmerie und Geheime Feldpolizei, Sicherungsregimenter und Einheiten der Division »Brandenburg«, aus Kriegsgefangenen gebildete »Ostbataillone« sowie die für den Kampf in schwierigem Gelände ausgestatteten und besonders hitlerhörigen Gebirgsdivisionen. Die blutige Spur, die diese Wehrmachtsverbände in engster Waffenbrüderschaft mit Bach-Zelewskis SS-Truppen hinterließen, kennt mittlerweile jeder in Europa. Die Zahl der Opfer – meist Alte, Frauen und Kinder– geht in die Zehntausende. Die Schauplätze tragen Namen wie Kommeno, Kalavryta, Distomo in Griechenland, Civitella, St. Anna di Stazzema, Marzabotto, Fosse Ardeantine in Italien, Tulle und Oradour in Frankreich.

»Das hier macht uns nichts aus«

In Tulle hatte eine Panzerabteilung der SS-Division »Das Reich« nach der Wiedereinnahme der Stadt am 9. Juni eine Razzia durchgeführt und 5000 Männer zwischen 16 und 45 Jahren auf einem großen Platz zusammengetrieben. 99 von ihnen wurden selektiert und am Nachmittag an Telefonmasten, Straßenlaternen und Balkonen erhängt. 149 weitere Männer wurden ins KZ Dachau deportiert, 101 von ihnen starben unterwegs oder im Lager. Der Offizier der SS, der die Selektion leitete, kommentierte die Erhängung der 99 Geiseln so: »Wir haben uns in Rußland an die Erhängungen gewöhnt. In Charkow und Kiew haben wir mehr als 100000 Männer gehängt, das hier macht uns nichts aus.« Wir, damit waren seine Offizierskameraden gemeint, die 1941 bis 1943 mit ihm zusammen an der Ostfront gekämpft hatten:

Ihr jetziger Befehlshaber, SS-Brigadeführer Heinz Lammerding, war der 1. Stabschef des obersten »Bandenbekämpfers« von dem Bach-Zelewski gewesen und hatte alle oben erwähnten Methoden der Terrors und des Mordens mitentwickelt.

Der Leiter des für Tulle und die Region zuständigen SD, August Meier, dessen Leute die Opfer ausgesucht hatten, war 1941/42 als Führer von Kommandos der Einsatzgruppe C für die Ermordung von 40000 ukrainischen Juden verantwortlich.

Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe G, also aller deutschen Truppen südlich der Loire, war jener General von Blaskowitz, der 1939 eine Armee in Polen befehligt hatte und noch »Bauchschmerzen« wegen der Erschießungen von Zivilisten durch die SS gehabt hatte. Jetzt befahl er selbst solche Maßnahmen, wie die dreiwöchige »Aktion Brehmer«, bei der im Frühjahr 1944 in drei Departements 208 Zivilisten ermordet wurden, davon ein Drittel Juden.

Auch alle diensthabenden Truppenführer in der Region Tulle/Limoges hatten vorher als rückwärtige Orts- und Feldkommandanten oder an der Front in Rußland gedient.

Ihr jetziger Vorgesetzter, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, der 1941 als Befehlshaber der Heeresgruppe Süd in die Sowjetunion einmarschiert war, wurde 1942 zum Oberbefehlshaber West ernannt. In dieser Funktion unterstellte er die SS-Panzer-Division »Das Reich« am 7.Juni 1944 dem 66. Armeekorps und gab die Befehle zum rücksichtslosen Angriff auf alle Widerstandsnester auf dem Weg zur Invasionsfront in der Normandie.

Während der Massenhängung und den Deportationen in Tulle am 9. Juni marschierte das 4. Panzerregiment der SS-Division nach Norden. Am 10. Juni trieben 150 Männer dieser Einheit, angeblich als Rache für zwei in einem Nachbarort getötete Kameraden, alle Bewohner des Dorfes Oradour auf dem Marktplatz zusammen. Die Männer wurden anschließend in Scheunen erschossen, die Frauen und Kinder in die Kirche getrieben und dort verbrannt. 642 unschuldige Menschen starben an diesem Tag. Der verantwortliche Divisionskommandeur Heinz Lammerding, obwohl 1953 in Frankreich wegen der Massaker in Tulle und Oradour in Abwesenheit zum Tode verurteilt, wurde nie ausgeliefert und starb 1971 friedlich in Bad Tölz.

Ich bin am Ende meines Beitrags. »Die moderne Mediengesellschaft«, so die ernüchternde Bilanz von Eric Hobsbawm, des Nestors der internationalen Zeitgeschichtsschreibung, »hat der Vergangenheit zu einer beispiellosen Bedeutung und einem enormen Machtpotential verholfen. Heutzutage wird mehr Geschichte denn je von Leuten umgeschrieben oder erfunden, die nicht die wirkliche Vergangenheit wollen, sondern eine, die ihren Zwecken dient. Wir leben heute im großen Zeitalter der historischen Mythologie.« Wenn wir diese schwierige Arbeit des Zusammentragens der Fakten über die Zeit von 1939 bis 1945, der kognitiven und emotionalen Aneignung des damals Geschehenen, der Übernahme der Verantwortung für diese Verbrechen nicht immer wieder leisten, wird sich das ereignen, was Karl Kraus mit Blick auf den Ersten Weltkrieg prophezeit hatte: »Alles, was gestern war, wird man vergessen haben, was heute ist, nicht sehen, was morgen kommt, nicht fürchten. Man wird vergessen haben, daß man den Krieg verloren, daß man ihn begonnen, vergessen, daß man ihn geführt hat. Darum wird er nicht aufhören.«

Vorabdruck aus: Heinrich Fink/Cornelia Kerth (Hg.): Einspruch! Antifaschistische Positionen zur Geschichtspolitik, PapyRossa Verlag, Köln 2011, 126 S., 12 Euro. Das Buch erscheint ERnde Januar 2011.

* Der Historiker Hannes Heer war von 1993 bis 2000 Leiter des Ausstellungsprojektes »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. Die Buchfassung des Textes enthält einen umfangreichen wissenschaftlichen Apparat, der hier aus Platzgründen entfallen mußte.

Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen in: junge Welt, 22. und 24. Januar 2011



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