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Sichere Nachrichten

Rudolf Vrba floh im April 1944 aus Auschwitz, erstattete Bericht und hoffte auf Konsequenzen: eine Buchvorstellung in Berlin

Von Kurt Pätzold *

Als die deutschen Eroberer 1939 die Tschechoslowakei zerschlugen und aus dem östlichen Landesteil ein eigener Staat, die von Klerikalfaschisten regierte Slowakei, wurde, änderte sich das Leben des Schülers Walter Rosenberg einschneidend. Als Jude des Gymnasiums in Bratislava verwiesen, verdingte er sich als Hilfsarbeiter, floh nach Ungarn, wurde in Budapest ergriffen und zurück in die Slowakei gebracht. In ein für Juden bestimmtes Lager. Er floh wieder, wurde erneut gefaßt und 1942 ins KZ Majdanek im besetzten Polen verschleppt. Von hier wurde er nach Auschwitz deportiert, war Häftling im sogenannten Stammlager, dann Zwangsarbeiter im Bunawerk (Auschwitz III) und schließlich in Auschwitz II-Birkenau mit seinen Gaskammern.

Er hatte das Glück, Aufgaben zugeteilt zu bekommen, die ihm die Chance zu überleben und schließlich im April 1944 zur Flucht boten. Die nutzte er, der hinreichend Energie bewahrt hatte, entschlossen, sich den Mördern nicht auszuliefern. Er entkam mit einem Kameraden, Alfred Wetzler, Jude wie er, aus dem westslowakischen Trnava stammend.

Nach ihrer abenteuerlichen Rückkehr in die Slowakei erstatteten beide den Führern einer zionistischen Organisation in Wort und Schrift Bericht. Dort erhielt Walter Rosenberg eine falsche Identität und den für deutsche Zungen schwer aussprechbaren Nachnamen Vrba, dazu den geläufigen Vornamen Rudolf. Er hat diesen Namen bis zu seinem Tode 2006 nicht abgelegt.

Das Zeugnis der beiden wurde nach strenger Kontrolle für verläßlich befunden und ging als Vrba-Wetzler-Report in die Geschichte ein. Der Text gelangte nach Ungarn, auf Umwegen in die Schweiz, in den Vatikan und wurde schon 1944 in den USA im Wortlaut veröffentlicht. Den einen mochte sein Inhalt noch unglaubwürdig erscheinen, führende Politiker fanden bestätigt, was sie vorher schon erfahren hatten: Die Juden, die sich im Zugriff der deutschen Eroberer befanden, wurden ausgemordet.

Der Gebrauch, der von diesem Bericht gemacht wurde, kam Vrba bitter an, hatte er doch gehofft, seine Warnung werde mobilisierend wirken, die Opfer würden sich im Wissen um das ihnen bestimmte Los zur Wehr setzen und jene Haltung einnehmen, die er bezogen hatte. Die Untätigkeit der jüdischen Führer enttäuschte ihn genauso wie die der Alliierten, denen seit 1941/1942 sichere Nachrichten über den Massenmord vorlagen.

Nach dem Krieg studierte Vrba Biologie und Chemie, wurde Professor der Pharmakologie in Vancouver. Weltbekannt wurde er durch sein Buch »I cannot forgive« (»Ich kann nicht vergeben«, mit Alan Bestic), das 1963 in London erschien. Der Titel bezog sich auf die Mörder, deren Helfer, aber auch auf all jene, die Vrba der Untätigkeit und des Versagens für schuldig ansah, darunter Führer des Judentums, insbesondere in Ungarn – eine Haltung die wohl dazu beitrug, daß seine Zeugenschaft im Jerusalemer Eichmann-Prozeß nicht gefragt war. Anders im 1. Auschwitz-Prozeß 1963 in Frankfurt am Main, in dem auch Wetzler auftrat, und in weiteren Gerichtsverfahren gegen Judenmörder in der Bundesrepublik. Dort erschien 1964 auch die deutsche Ausgabe seiner Erinnerungen.

Seit einem Jahr liegen sie neu übersetzt in dritter Auflage vor, versehen mit Kommentaren, Erläuterungen, Korrekturen von Irrtümern, die Ergebnisse der Auschwitz-Forschungen ermöglichten. Das nahezu vergriffene Buch wurde am Dienstag in der Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors von den Herausgebern Dagi Knellessen und Werner Renz vorgestellt. Die Regie des Abends hatte Wolfgang Benz. Wie üblich lenkte er die Debatte gemeinsam mit dem Publikum auf wesentliche Fragen: Was konnten die Verfolgten ihren Jägern wirklich entgegensetzen, was die Alliierten den Plänen und Verbrechen der deutschen Antisemiten? Dazu kamen Fragen nach Vrbas Motiven, der Reichweite und den Grenzen seiner Zeugenschaft und deren Platz im Verhältnis zu Berichten anderer durch die Flucht aus Auschwitz entkommener Juden und Nichtjuden; Schriften und Mitschriften, von denen manche im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz noch unveröffentlicht aufbewahrt werden.

Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben - Meine Flucht aus Auschwitz. Schöffling Verlag, Frankfurt/Main 2010, 528 Seiten, 28 Euro

* Aus: junge Welt, 30. September 2011


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