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Bankrotteure bitten zur Kasse

Hintergrund. Wie, warum und bei wem nehmen Länder Kredite auf? Wer muß sie letztlich zurückzahlen, und wer profitiert davon? Über Mythen und Wirklichkeit im Zusammenhang mit Staatsschulden

Von Jürgen Leibiger *

Deutschland hat zwei Billionen Euro Schulden, lesen wir, das sind ungefähr 24000 Euro für jeden Einwohner. Deutschland? Jeder Einwohner? Ich habe keine Schulden. Nun, der Staat sei bei seinen Bürgern verschuldet. Schulden bei mir? Nicht, daß ich wüßte! Und wieso soll ich Gläubiger der Staatsschuld und zugleich Schuldner sein? Kann das mal jemand erklären? Sind die BRD oder ihre Bürger vielleicht gegenüber dem Ausland verschuldet? Eigentlich nicht, im Gegenteil. Die deutschen Forderungen an das Ausland übersteigen die Verbindlichkeiten um fast 700 Milliarden Euro. Es ist verrückt: Was man in einigen Zeitungen zu lesen und von manchen Politikern darüber zu hören kriegt, macht einfach keinen Sinn.

Wenn die Bundesfinanzagentur, die das Schuldenmanagement des Bundes betreibt, Schuldenpapiere verkauft, tut sie das nicht auf mein Geheiß und sie verkauft diese auch nicht an mich. Sie agiert im Auftrag der Bundesregierung, die zwar vorgibt, dabei meine Interessen zu vertreten, aber so ganz sicher bin ich mir da nicht. Und weil ich wie die meisten Bürger gar kein Geld habe, um Bundesanleihen zu kaufen, müssen es andere sein, die das tun. Ungefähr die Hälfte der Staatsschuldenpapiere Deutschlands besitzen ausländische Banken, Pensionsfonds, andere Staaten und ausländische Privatpersonen. Die andere Hälfte gehört Banken, Versicherungen, diversen Vermögensfonds, Beziehern hoher Einkommen und Besitzern großer Vermögen im Inland. Halten wir also zunächst fest: Die Regierung verschuldet sich, und sie tut das, ohne mich zu fragen, in meinem Namen. Und die Gläubiger, diejenigen, die der Regierung Geld leihen und damit Renditen einfahren, sind diejenigen, die sowieso schon das meiste verdienen und besitzen. Sie verwenden diese handelbaren Papiere sogar wie Geld, können sie be- oder verleihen und machen damit noch mal Profit.

Refundierung der Schuld

Und ich bin derjenige, der mit seinen Steuern die Zinsen bezahlen muß. Na ja, vielleicht bin ich es auch nicht. Wenn eine Bundesanleihe fällig wird und die laufenden Zinsen zu entrichten sind, fragt sich die Bundesregierung, warum soll sie gerade jetzt die Steuerzahler, von denen sie ja wiedergewählt werden will, dazu heranziehen? Sie nimmt also lieber einen neuen Kredit auf und begibt eine neue Anleihe. Das wird nicht an die große Glocke gehängt, kaum jemand merkt es. Die Schuldentilgung überläßt sie künftigen Regierungen und Steuerzahlern, so wie die früheren Regierungen auch ihr Kreditverpflichtungen hinterlassen haben. Eigentlich ganz bequem.

Das Verfahren (Refundierung der Schuld) ist uralt. Es funktioniert so lange, wie mögliche Anleihekäufer genug überschüssiges Finanzvermögen haben und überzeugt sind, daß sie ihre Zinsen bekommen und am Ende den Anleihebetrag zurückkriegen. Außerdem sollte sich der Kauf einer Staatsanleihe mehr als andere Geldanlagen lohnen, zumindest aber sicherer sein. Dieser Mechanismus funktioniert auch im privaten Bereich, wenn ein Fondsverwalter immer aufs neue willige und liquide Anleger überzeugen kann, ihm ihr Geld anzuvertrauen. Er zahlt damit seine »älteren« Gläubiger aus, obwohl der Fonds, in den eingezahlt wird, vielleicht gar nicht profitabel verwendet wurde. Vor einiger Zeit hatte der US-Finanzier Bernard Madoff ein solches Pyramidenspiel im Kettenbriefverfahren mit Superreichen aufgezogen. Es wird nach einem ähnlichen Betrüger aus den 1920er Jahren auch Ponzi-Spiel genannt. Madoff genoß als ehemaliger Vorsitzender der Nasdaq-Börse das Vertrauen der Anleger, bereitwillig übergaben sie ihm ihre Finanzen. Sein Spiel flog auf, als in der Krise trotz seiner Reputation niemand mehr Geld bei ihm anlegen konnte und wollte. Die Pyramide brach zusammen, er konnte den Schuldendienst nicht mehr aus neuen Anleihen bezahlen und wanderte in den Knast. Seine Gläubiger verloren nicht weniger als 50 Milliarden Dollar. Auch beim Anleihegeschäft des Staates sind die Existenz liquider Privatmittel im Inland (zur inneren Verschuldung) und/oder im Ausland (äußere Verschuldung) und das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit die entscheidenden Voraussetzungen dafür, daß eine wachsende Staatsschuld tragbar bleibt. Madoff hatte gar nicht so unrecht, als er aus dem Gefängnis heraus seine Kritiker angiftete, der ganze Staat sei ein Ponzi-Game.

Aber ich habe in diesem Spiel die Arschkarte gezogen. Wenn es die Regierungen immer weiter betreiben, steigt die Verschuldung. Und wo es wachsende Verbindlichkeiten gibt, da gibt es wachsende Vermögen. Ich bin also am Ende der Schuldner, und andere sind die Gewinner. Halt, sagt man mir, du bist auch ein Gewinner, weil die Regierung mit den Krediten Investitionen vorgenommen und das öffentliche Vermögen gemehrt hat. Schön wär’s! Das öffentliche Bruttovermögen – dessen Miteigentümer ich angeblich bin – ist zwar größer geworden, aber die Schulden sind viel stärker gestiegen. Der Saldo, das Reinvermögen des Staates, hat sich von 800 Milliarden Euro Anfang der 1990er Jahre auf 192 Milliarden Euro im Jahr 2009 (aktuellere Zahlen liegen nicht vor) verringert, die BRD ist verarmt. Und wo ist das ganze Vermögen hin? Nun, die Banken haben ihr Reinvermögen auf 450 Milliarden Euro etwa verdreifacht und die nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften um etwa 50 Prozent auf 1,5 Billionen gesteigert. Das meiste Vermögen liegt bei privaten Besitzern, die vor zwanzig Jahren über reichlich vier Billionen Euro verfügten und deren Reinvermögen sich auf 8,5 Billionen mehr als verdoppelte, was einer jährlich vierprozentigen Verzinsung entspricht. Und es ist kein Geheimnis, daß diese Güter höchst ungleich verteilt sind. Den oberen zwei Zehntel der Bevölkerung gehören 80 Prozent davon, dem reichsten Zehntel allein über 60 Prozent. Die unteren Schichten haben nichts und weniger als nichts, sie sind wie der Staat verschuldet. Die Formel »öffentliche Armut bei privatem Reichtum« ist also höchst überarbeitungsbedürftig; öffentlicher und privater Armut steht der ungeheure private Reichtum weniger gegenüber. An dieser Verteilungsspirale haben die Regierungen eifrig mitgedreht. Jahr für Jahr fließen den Staatsgläubigern je nach Zinsstand zur Zeit zwischen 60 und 70, in den kommenden Jahren sogar bis an die 100 Milliarden Euro zu – jedes Jahr, wohlgemerkt. Das sind in den letzten zwanzig Jahren über 1,3 Billionen Euro, die der Staat zum Aufpumpen der Vermögensblase beigetragen hat. Die müssen zwar versteuert werden, aber ohne daß etwas übrig bleibt, werden die Besitzenden dem Staat wohl kaum Geld leihen, ganz davon abgesehen, daß sie die Regierungen dazu gebracht haben, ihre Steuern immer weiter zu senken.

Abhängigkeit vom Finanzkapital

Und dann gibt es noch die Aasgeier der Finanzwelt, die am Abfall der Schulden verdienen. Die Gläubiger wollen sich vor einem Kreditausfall schützen, und diese Versicherungen, die Credit Default Swaps, kosten Prämien. Wenn die Versicherer, diverse Spekulanten und die Rating­agenturen die Zahlungsfähigkeit eines Staates schlechtreden, können höhere Prämien kassiert werden. Bei ihren Zinsforderungen berücksichtigen das die Käufer der Anleihen – und der Staat muß höhere Zinsen zahlen. Am Ende kommt es vielleicht genau wegen solcher Spekulationen zu Zahlungsschwierigkeiten. Deutschland ist zwar momentan davon nicht betroffen, bei einigen Euro-Ländern ist das jedoch der Fall. Hier zeigt sich in besonders eklatanter Weise die Abhängigkeit eines verschuldeten Staates von den Finanzjongleuren, die den Kreditmarkt beherrschen. Der ehemalige Bundesbankpräsident Axel Weber forderte sogar die »Disziplinierung« der Politik durch »den Markt«. Den Schaden haben die Steuerzahler; ganz zu schweigen von der Demokratie.

Manche sagen, es sei gut, wenn sich der Staat verschuldet, weil damit ein intergenerativer Lastenausgleich stattfinde. Wenn zum Beispiel eine Brücke mit Steuergeldern gebaut worden war, hatte er damit die damalige Generation belastet, und auch ich hätte heute den Nutzen, ohne dafür zu bezahlen. Das wäre doch ungerecht. Aber egal, ob steuer- oder kreditfinanziert, die Vorfahren hätten diese Kosten auf jeden Fall tragen müssen, weil man von noch nicht Lebenden nichts borgen kann. Wenn der Staat ein Vorhaben mit Krediten finanziert, sind seine Gläubiger immer Angehörige der existierenden Generation, und die Güter und Leistungen, die er braucht, sind ebenfalls von ihr produziert. Ob steuer- oder kreditfinanziert, die öffentliche Investition wird immer – von Auslandskrediten abgesehen – von der jeweils lebenden Generation bezahlt. Es kann also nicht richtig sein, einfach nur verschiedene Altersstufen zu unterscheiden. Vielmehr müssen Gläubiger und Schuldner, im speziellen Fall Steuerschuldner, in damaligen, gegenwärtigen und künftigen Generationen unterschieden werden. Meine hat nicht nur die Staatsschulden von damals geerbt, sondern – abgesehen vom öffentlichen Vermögen, das mit diesen Investitionen geschaffen wurde, wenn es denn geschaffen wurde – natürlich auch die damit untrennbar verbundenen Forderungen. Nur das in der heutigen Generation eben die Erben der reichen Gläubiger und die Erben mit der Arschkarte unterschieden werden müssen. Die Steuerschuldner zahlen den Kredit an die Erben der Staatsgläubiger zurück. Schuldensumme und Forderungssumme sind innerhalb jeder Generation gleich groß.

Der Nutzen aus öffentlichen Investitionen steht in keinem Bezug zu Laufzeit, Verzinsung und Tilgung der Verbindlichkeiten aus Staatspapieren. Außerdem wird diejenige Generation der Steuerzahler, bei der diese Schuld schließlich zur Tilgung ansteht, keineswegs gerecht behandelt, weil sie allein belastet wird (die Erben der Gläubiger verbuchen das in dieser Zeit als Einnahme), während die nachfolgenden und die Zwischengenerationen nur den Nutzen und keine Kosten haben. Erfolgt keine Tilgung, sondern nur eine Refundierung der Schuld, leisten die künftigen Steuerzahler den Schuldendienst weiter, obwohl die Vermögen, in die vor Jahrzehnten investiert wurde, vielleicht gar nicht mehr existieren. Die Brücke ist womöglich längst zusammengebrochen, weil wegen der Zinsbelastung das Geld zu ihrem Erhalt gefehlt hat. Ist es in den Unterhalt einer Armee von Erwerbslosen geflossen (von anderen Armeen ganz zu schweigen), die nicht beschäftigt wurden, weil sie zu wenig Profit erwirtschaftet hätten, sind die kreditfinanzierten Mittel aufgezehrt, konsumiert worden. Das Erwerbslosenheer von vier Millionen Menschen kostete im vergangenen Jahrzehnt dem Staat jährlich zwischen 70 und 90 Milliarden Euro. Ohne diese Ausgaben hätte er locker ausgeglichene Haushalte hinlegen können. Und all das soll vernünftig und gerecht sein?

Steuern oder Schulden

Die Regierung hätte die Mittel für öffentliche Investitionen auch über Steuern auf jenes Vermögen aufbringen können, aus dem diese Kredite gespeist worden waren. Zieht sie eine Schuldenaufnahme vor, handelt es sich lediglich um diejenige Finanzierung, die politisch am ehesten durchgesetzt werden kann. Die Staatsgläubiger gehören in der Regel jener Schicht an, die über die Mittel verfügt, die auch für eine Steuerfinanzierung zur Verfügung stünden. Aber dies ist zugleich jene Schicht, die über den politischen Einfluß verfügt, eine höhere Besteuerung ihrer Einkommen und Vermögen zu verhindern oder sogar Steuersenkungen für sich durchzusetzen. Also nehmen die Regierungen bei ihnen lieber Kredite auf. Zu einer solchen Geldanlage sind die Vermögenden gerne bereit, denn die vom Staat angebotene Verzinsung ist akzeptabel und sicher; man kann sich die Hände reiben. Ein guter Teil der Steuersenkungen für sie wurde durch Steuer- und Abgabensteigerung sowie Gebührenerhöhung an anderer Stelle wieder herausgeholt. Das »Netto vom Brutto« hat sich bei den Arbeitseinkommen kontinuierlich verringert (nur bei den Schwerverdienern wurde durch Senkung der Spitzensteuern gegengehalten), während es sich bei den Kapitaleinkünften sukzessive erhöht hat. Das Argument der Gerechtigkeit zwischen Generationen ist also nur vorgeschoben. Gerecht wäre es, wenn angesichts des vorhandenen Reichtums der Vermögenden diese nicht in Form von verzinslichen Staatsanleihen, sondern durch Anhebung der progressiven Steuerkurve am oberen Ende sowie durch eine angemessene Besteuerung der Kapitaleinkommen, Vermögen und Vermögenstransfers stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen würden.

Zu den Legenden über die Verschuldung gehört auch die These, wir lebten »über unsere Verhältnisse« und müßten deshalb sparen. Wie die Analyse gezeigt hat, sind nicht einfach »wir« verschuldet, und es sind auch nicht »die« Bürger Nutznießer oder Gläubiger der Staatsschuld. Also können es auch nicht »wir« sein, die über die Verhältnisse leben. Nachdem dies klargestellt ist, sollte dennoch gefragt werden, ob, und wenn ja, wer bei einer Verschuldung über seine Verhältnisse lebt. Unterstellt, der Staat in der Gestalt der Regierung sei der demokratisch legitimierte Wahrer unser aller Interessen. Nehmen wir weiter an, seine Steuerpolitik belaste alle Bürger in gerechter Weise, und seine Ausgaben kommen allen angemessen zugute. Unterstellen wir ferner, bei einer Kreditaufnahme würden wir alle Anleihen kaufen und damit im selben Maße Gläubiger des Staates werden und an den Zinsen partizipieren. Was wäre dann unter »über unsere Verhältnisse leben« zu verstehen? Das hier charakterisierte Gemeinwesen kann schwerlich über seine Verhältnisse leben, wenn der Staat nur nach innen, seinen Bürgern gegenüber, verschuldet ist. Denn »wir« sind zwar in der einen Tasche verschuldet, haben aber in der anderen Tasche dafür eine Anleihe als Forderung. Über seine Verhältnisse lebt ein solches Gemeinwesen nur dann, wenn es netto nach außen verschuldet ist und die Forderungen des Auslands höher als seine an das Ausland sind. Dies ist, wie gesagt, in Deutschland nicht der Fall.

Heben wir jetzt die Fiktion der Identität von Staat und Bürger und eines gerechten Gemeinwesens auf. Jeder, der einen Kredit aufnimmt, sei es ein Unternehmen, ein Privathaushalt oder eine Regierung, tut das, weil seine momentane Einkommens- und Vermögenssituation die Finanzierung eines bestimmten Vorhabens nicht zuläßt. Letzteres kann aus freien Stücken geplant sein, etwa die Investition eines Unternehmens oder der Kauf eines Autos oder ein Hochschul­erweiterungs­programm. Die Entscheidung kann auch einer Notlage entspringen, was zum Beispiel der Fall ist, wenn eine Naturkatastrophe die Beschäftigung und die Staatseinnahmen sinken läßt, die Beseitigung der Folgen aber Mehrausgaben erfordern. Den »Verhältnissen« entspricht eine solche Kreditaufnahme immer dann, wenn zu erwarten ist, daß der Schuldner in der Lage sein wird, den künftigen Schuldendienst pünktlich zu leisten. Die von der Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Begründung ihres Sparkurses zitierte schwäbische Hausfrau, die angeblich wisse, daß man nicht mehr ausgeben kann, als man habe oder verdiene, würde sich für Merkelsche Ratschläge schön bedanken. Mit dieser Weisheit hätte sie sich ihr berühmtes Häuschen im Grünen nie und nimmer kaufen können.

Aber der Staat ist alles andere als eine schwäbische Hausfrau. Seine Hoheitsrechte, die Steuerhoheit, die Währungshoheit und das Gewaltmonopol, erlauben es ihm, den Schuldendienst unter nahezu allen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Reichen Steuererhöhungen und Sparprogramme nicht aus, könnten die Schulden mittels der Ausgabe neugedruckten Papiergeldes bezahlt werden (Monetarisierung der Staatsschuld) oder ganz bzw. teilweise gestrichen werden (Haircut). Stünden gesetzliche Regelungen solchen Lösungen entgegen, könnte man sie ja ändern. All dies muß natürlich politisch durchgesetzt werden und wird zu Konflikten darüber führen, welche sozialen Schichten mehr oder weniger belastet werden sollen. Die Staatsgläubiger jedenfalls sind, wenn es hart auf hart kommt, auch einer gewaltsamen, womöglich diktatorischen Lösung nicht abgeneigt. Dies gilt für die innere Verschuldung uneingeschränkt, auch wenn es unschöne Nebenwirkungen und Risiken gibt. Für die äußere Verschuldung trifft das freilich nur bei entsprechenden außenpolitischen Machtverhältnissen zu. Hier liegt eine Achillesferse der Staatsverschuldung, was anhand des politisch und ökonomisch schwachen Griechenlands studiert werden kann. Als Deutschland und Frankreich 2003 als erste Euro-Länder gegen die Schuldenregel verstießen, wurde sie kurzerhand geändert. Kann eine Regierung diese Maßnahmen nicht durchsetzen, muß sie den Bankrott erklären.

Destruktive Vermögensbildung

Über seine hoheitlichen Rechte verfügt der Staat bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung über eine Kreditaufnahme. Die schwäbische Hausfrau, die ihr Häuschen nach einer etwaigen Katastrophe wieder aufbauen muß, hat keine Wahl. Wenn die Versicherung nicht genügend zahlt, wird sie einen Kredit aufnehmen müssen. Sparen geht nicht, sie hat ja alles verloren. Aber eine Regierung hat immer die Option, Steuern und Abgaben zu erhöhen oder einen Kredit aufzunehmen. Es besteht kein Zwang, sich zu verschulden. Und tut sie es dennoch, sind dafür politische Gründe und die Machtverhältnisse ausschlaggebend. Letzteres gilt übrigens auch für die deutschen Länder und Kommunen. Sie können keine eigenständige Steuer- und Finanzpolitik machen, es bleiben oft nur Kreditaufnahme oder Sparhaushalte als Option, und das Diktat der Schuldenbremse beraubt sie selbst dieser letzten Wahlmöglichkeit.

Wenn also vom »über die Verhältnisse leben« gesprochen wird, impliziert dies stillschweigend, daß die Regierung die Steuern nicht erhöhen und nicht zu anderen Mitteln der Entschuldung greifen will oder kann, aber immer brav die Zinsen an die Gläubigern zahlen möchte. Das Argument, Steuererhöhungen seien wachstumsfeindlich, stimmt so nicht. Es hängt davon ab, wo sie greifen. Werden die Vermögen potentieller Staatsgläubiger höher besteuert, ist das keineswegs wachstumsschädlich. Ganz im Gegenteil, damit wird die effiziente Allokation (Verteilung) ansonsten brachliegenden Vermögens gewährleistet, weil es einer besseren Nutzung zugeführt wird. So könnten die Sanierung kaputter Brücken oder auch Ausgabensteigerungen im kulturellen und Bildungsbereich erfolgen. Letztere sind zwar aus kurzfristiger Sicht konsumtiv, somit keine Vergrößerung des öffentlichen Vermögens, aber ihr längerfristiger Nutzen ist unbestreitbar.

Aber wie ist es mit den kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen in der Weltwirtschaftskrise? Wäre ohne sie und die milliardenschwere Bankenrettung nicht alles viel schlimmer gekommen? Stimmt! Wenn es in einer Rezession an Nachfrage fehlt, weil zu wenig konsumiert wird und die Investitionen zu gering sind, weil sie nicht ausreichend Profit abwerfen, kann der Staat die fehlende Nachfrage ausgleichen. Er nimmt bei denjenigen Kredite auf, die ihr Geld nicht ausgeben, sondern sparen, und gibt es nachfragewirksam selbst aus. Würde er das nicht tun und womöglich eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte durch Sparen einleiten, wäre die Nachfrage noch niedriger. Die Produktion, die Beschäftigung und die Einkommen würden, wie in Griechenland zu erleben, weiter sinken.

Ist diese Logik nicht widersinnig? Stimmt auch! Der Staat kann zwar so handeln, er kann aber auch anders. In der Krise saßen die Banken auf ihrem Geld wie Dagobert Duck im Geldspeicher und waren weder mit guten Worten noch kaum mit Barem herauszulocken, denn das Verborgen war trotz hoher Zinsen zu unsicher (Kreditklemme). Staatsanleihen sind da sehr willkommen, zwar niedrig verzinst, aber immerhin sicher. Wenn jedoch zuviel gespart und zu wenig nachgefragt wird, warum soll der Staat das brachliegende, überakkumulierte Kapitalvermögen wiederum nur über Kreditaufnahme abschöpfen, um mit dem Schuldendienst in der nächsten Runde das Sparen und die Reichtumsblase erneut zu fördern? Warum versucht er nicht wenigstens, diese destruktive Vermögensbildung an der falschen Stelle und bei den falschen Leuten zu reduzieren (wenn er sie denn nicht gänzlich unterbinden kann), indem er für eine ausgeglichene Verteilung sorgt und Überschüsse – wie es sogar das Stabilitätsgesetz mit der Konjunkturabgabe vorsieht – wegsteuert? In den zwanzig Jahren seit Beginn der 1990er hat der Staat, wie wir gesehen haben, seinen Gläubigern 1,3 Billionen Euro in Form von Zinsen zugeführt und damit, weil diese es nicht vollständig konsumtiv oder investiv ausgeben, das Sparen gefördert. Im selben Zeitraum hat er netto 0,9 Billionen ausgabenwirksame Kredite aufgenommen. Das heißt, er hat die Vermögensblase mit einem höheren Betrag als die Nachfrage gefüttert. Und sein Bankenrettungsprogramm hat Reichtum abgesichert, der jetzt, im Aufschwung innerhalb des Wirtschaftszyklus, erneut Überakkumulation und Blasenbildung befeuert.

Auf in den nächsten Crash

Steht alles wieder auf Anfang? Nicht ganz. Die Staatsgläubiger kriegen kalte Füße. Das Ponzi-Spiel soll mal pausieren, sie rufen nach Cash. Sie wollen keinen Haircut riskieren oder ihr Vermögen in einer Inflation dahinschmelzen sehen. Steuern erhöhen wollen sie auch nicht, es sei denn, es handelt sich um indirekte für die Verbraucher. Aber wie kommen sie dann zu ihrem Geld? Klar, der Staat soll sparen, um den Schuldendienst aufrechtzuerhalten, denn diese Zahlungen sind ihnen sakrosankt. Dafür wird die öffentliche Daseinsvorsorge geschreddert, das öffentliche Eigentum privatisiert, es werden Rentner und Hartz-IV-Bezieher geschröpft, soziale Leistungen, Kultur und Bildung vielerorts geopfert oder verteuert. Nachdem auch infolge der Vermögensblase die Wirtschaft in eine ihrer tiefsten Krisen gerutscht war und die Bankrotteure mit Milliarden Steuergeldern gerettet wurden, bitten sie zur Kasse, und die Regierung führt das Inkasso durch. Und so geht es in den nächsten Crash. Wie dieser Irrsinn endet? Gar nicht, wenn er nicht beendet wird.

* Dr. oec. habil. Jürgen Leibiger ist Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Sächsischen Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Dresden. 2010 veröffentlichte er im Verlag PapyRossa das Standardwerk für eine alternative Finanzpolitik »Reclaim the Budget – Staatsfinanzen reformieren«

Vom Autor erscheint im August:
Bankrotteure bitten zur Kasse. Mythen und Realitäten der Staatsverschuldung, PapyRossa, Köln 2011, etwa 220 Seiten, ca. 12,90 Euro, ISBN 978-3-89438-466-1

Aus: junge Welt, 29. Juni 2011



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