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Retuschierte Geschichte

Die Kritik an den historischen Wurzeln des Rußland-Bildes der deutschen Faschisten – ein "Medusenblick"?

Von Manfred Weißbecker *

Medusa – jene Gestalt der griechischen Mythenwelt kennt man als ein geflügeltes Ungeheuer aus dem Gorgonen-Geschlecht. Sie war versehen mit Schlangenhaaren, langen Eckzähnen, einem Schuppenpanzer, glühenden Augen und heraushängender Zunge. Jede Person erstarrte zu Stein, die ihr den Blick zuwendete, ihren Kopf anschaute. Allein der Held Perseus konnte sie dank eines spiegelnden Schildes bezwingen. Danach nutzte er den Schädel der Toten als Waffe gegen seine Feinde. Wagemutige Betrachter erschauerten und verloren ihr Leben. Es tötete der Blick auf das Scheusal, nicht ein Blick aus den Augen dieses gefährlichen Wesens.

Hier soll es allerdings nicht um Medusa gehen, erst recht nicht um sie als Gegenstand von bildender und darstellender Kunst, obgleich da viele berühmte Namen zu nennen wären, von Benvenuto Cellini bis Peter Weiss. Nein, hier interessiert nur das irreführende Wort »Medusenblick«. Wer es verwendet, begeht möglicherweise nur so etwas wie einen sprachlichen und letztlich verzeihbaren Fehler, entstanden etwa aus Unkenntnis antiker Mythologie. Allerdings kennen wir ja zur Genüge sprachliche Verwirrspiele. Oft, nein allzu oft wird Sprache über ihre normale Kommunikationsfunktion hinaus dazu benutzt, reale Dinge zu bemänteln oder zu diskreditieren, vor allem aber um geschichtliche Ursachen und gesellschaftliche Triebkräfte verschleiern oder verheimlichen zu können.

West-östliche Spiegelungen

Feststellbar ist dies in mancherlei Variante der heutzutage dominierenden Geschichtsdeutungen. Um eine Irreführung handelt es sich auch, wenn mit der Verwendung des Wortes »Medusenblick« behauptet wird, bisher sei von der Geschichtsschreibung hauptsächlich ein tödlich wirkender Blick auf die deutsch-russischen bzw. deutsch-sowjetischen Beziehungen geworfen worden. Tödlich sei gewesen, die Wurzeln des zwischen 1917 und 1945 vorherrschenden Rußlandbildes deutscher Eliten zu suchen. Tötete also, um im Bild zu bleiben, eine aus meiner Sicht antifaschistisch zu nennende Sichtweise das deutsch-russische Verhältnis? Welchen Schaden sollen denn die kritischen Beschreibungen der langen Vorgeschichte des deutschen Überfalls auf die UdSSR und ebenso die erläuternden Bewertungen von deutscher Russophobie hervorgerufen haben, weshalb eigentlich und bei wem? Was ist gemeint, wenn damit zugleich die von vielen Historikern vertretenen Ansichten als »ideologiegeschichtliche Konstruktionen« gebrandmarkt werden, die nicht der Realität entsprechen würden und als ein »ehernes Kontinuum deutscher Rußlandfeindschaft« anzuprangern seien? Es habe doch, so wird argumentiert, auch andere, eben russophile Tendenzen und Erscheinungen gegeben, ja das ganze Geflecht der deutsch-russischen/sowjetischen Beziehungen stelle sich zumindest auf geistig-kulturellem Gebiet sogar als »ein groß angelegtes freund-feindliches Hinüber und Herüber« dar.

Ich greife aus der jüngeren Literatur Publikationen eines Mannes heraus, der sich mehrfach zur Geschichte deutsch-russischer Beziehungen geäußert hat und jüngst auch als Kommunismusforscher hervorgetreten ist: Gerd Koenen. Sein im Jahr 2005 erschienenes, außerordentlich positiv rezensiertes Buch »Der Rußland-Komplex«[1] bietet Material in Hülle und Fülle über russophiles Denken und Verhalten deutscher Publizisten und Künstler sowie von konservativen Politikern und aus der Arbeiterbewegung. Der Autor erhielt 2007 dafür den »Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung«. Die diesem Buch zu verdankende Kenntniserweiterung sei ausdrücklich gewürdigt, und sicher steht es in einer Reihe mit dem verdienstvollen Bemühen vieler deutscher und russischer Wissenschaftler, Künstler, Museologen, Politiker u.a.m., sich »west-östlich« zu spiegeln, Klischees und Stereotype sowie deren Nutzung für politische, ökonomische oder geostrategische Interessen zu überwinden und Raum für ein friedvolles Miteinander zu schaffen.

Koenen ließ sich jedoch auch von anderen Intentionen leiten, die weniger von Wissenschaft geprägt, sondern eher politisch zu nennen sind und einem konservativ geprägten Zeitgeist Vorschub leisten. Als er ein Jahr nach dem Erscheinen seines Buches so etwas wie dessen historisch-politisches Resümee veröffentlichte, meinte er, die von anderen Historikern bisher vertretene kritische Sicht auf das Rußlandbild der deutschen Faschisten und auf seine Quellen als »Medusenblick« kennzeichnen zu müssen [2], also als etwas, das erstarren läßt und zum Tode führt. Dies betrachte ich als einen Versuch ungerechtfertigter Diskriminierung anderer Auffassungen. Was dies im Rahmen alltäglich anzutreffender Bemühungen geschichtsrevisionistischer und totalitarismustheoretischer Art besagt und wie auch damit jene Thesen erneut belebt werden sollen, mit denen Ernst Nolte den sogenannten Historikerstreit der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ausgelöst hat, soll Gegenstand folgender Überlegungen sein.

Forschungsrichtung delegitimiert

Da wäre zunächst zu untersuchen, gegen wen und wogegen sich Koenens Argumente richten. Unter anderem kritisiert er den 1979 verstorbenen Historiker Fritz Epstein, da dieser den nach 1917 in Erscheinung getretenen Antibolschewismus als eine »Verwandlungsform« des bereits im 19. Jahrhundert verwendeten Slogans von der »russischen Gefahr« dargestellt habe. Zudem hätte Epstein davon gesprochen, daß aggressive Ängste und russophobe Zwangsvorstellungen Hand in Hand gegangen seien mit »Expansionsträumen und Kolonisationsphantasien«.

Ins Visier genommen sah sich auch Dietrich Geyer. Dem Tübinger Osteuropa-Historiker wurde vorgehalten, die deutsch-russische Beziehungsgeschichte »stark verdunkelt« zu haben, da er in seinem 1986 gehaltenen Vortrag über »Ostpolitik und Geschichtsbewußtsein in Deutschland« den Aufstieg des Hitlerfaschismus auch mit der Manipulierbarkeit russophober Ängste erklärt habe. Des weiteren sei zu kritisieren, daß Geyer in der Rußlandfeindschaft sogar ein konstitutives Element der bürgerlichen Klassen- und Nationsbildung gesehen habe.

Eigentlich hätte Koenen auch seinen Doktorvater Dietrich Beyrau kritisieren müssen, vertritt dieser doch die Auffassung, »imperialistische Ambitionen der alten Elite und die Durchsetzung eines biologistischen und schließlich eines rassistischen Deutungsmusters von Gesellschaft« seien in der Zeit der Nazidiktatur »eine fatale Symbiose« eingegangen. Doch da schwieg der Promovend sich vornehm aus.

Ungnade erfuhr hingegen Ian Kershaw, der bekannte britische Hitler-Biograph, weil der geschrieben hatte, der Krieg im Osten sei »von allen Teilen der deutschen Elite« willkommen geheißen worden, gleich »ob diese nun nationalsozialistisch eingestellt waren oder nicht«. Zustimmung wird auch der Aussage Kershaws verweigert, das »Erbe von mehr als zwei Jahrzehnten tief verwurzelter, oft fanatisch vertretener Haßgefühle gegen den Bolschewismus« sei unlöslich mit dem Antisemitismus verknüpft gewesen, wie es sich gerade nach dem Überfall auf die Sowjetunion »in seiner ganzen Grausamkeit« offenbart habe.

Mit noch größerer Verve wird schließlich Hans-Erich Volkmann beanstandet, worauf ich etwas näher eingehen möchte, auch weil ich mich persönlich involviert fühlen darf. Unter der Leitung des damals an der Universität Freiburg und im Militärgeschichtlichen Forschungsamt Tätigen war bekanntlich in den frühen 90er Jahren ein Sammelband mit dem Titel »Das Rußlandbild im Dritten Reich« erarbeitet worden.[3] Er galt als Fortsetzung des 1989 gescheiterten Projekts west- und ostdeutscher Historiker, gemeinsam und partnerschaftlich die Rolle einzelner deutscher Eliten auf dem Weg zum Zweiten Weltkrieg darzustellen. Das Verdikt des Kritikers lautet so: »Umstandslos« sei von Volkmann erklärt worden, daß »die während der NS-Zeit im Schwange befindlichen Rußlandbilder (...) aus tradierten Versatzstücken bestanden« und daß diese »in Anbetracht geplanter und konkreter Politiken der Lebensraumerweiterung und rassischer Vernichtung lediglich eine wirkungsvolle Überzeichnung« erfahren hätten.

Gegenüber dem hier Zitierten aus Werken von Epstein, Geyer und den anderen müsse, so ­Koenen, ein notwendiger Versuch unternommen werden, die »fast allgemein akzeptierte Hypothese einer lang andauernden Dominanz und organischen Kombination von Antibolschewismus, Antisemitismus und Russophobie (bzw. Slawophobie)« zu überprüfen. Das mag zunächst merkwürdig erscheinen angesichts eines doch unbestreitbaren engen und – leider! – verhängnisvoll wirksamen Zusammenhangs zwischen russophoben Entäußerungen bürgerlicher deutscher Eliten und dem nazistischen Rußlandbild, das im gesamten Vorfeld des 22. Juni 1941 sowie unterschwellig auch in den beiden Jahren davor eine die Kriegsvorbereitung und dann die verbrecherische Kriegführung erheblich befördernde Rolle gespielt hat.

Eine beliebte Verleumdung

Gerade dieser Zusammenhang wird als minder bedeutsam betrachtet, im Grunde auch als ein aufzuhebender deklariert. Zu tun hat dies mit der Tendenz, die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik zu beschönigen: Nachdrücklich zeigt sich Koenen verärgert über Volkmanns These, der zufolge die Darstellung Rußlands bzw. der Sowjetunion »als eines asiatisch durchdrungenen und geprägten Landes« in Westdeutschland über 1945 hinaus lebendig geblieben und lediglich die antisemitische Komponente aus dem überkommenen Bild von Rußland und der Sowjetunion weitgehend eliminiert worden sei. Dagegen hätten aufgefrischte antirussische und antikommunistische Vorurteile, über Schulbücher und andere Medien tradiert, zu den Grundlagen des bundesdeutschen Selbstverständnisses gehört.

Barsch wird solche Aussage kritisiert. Worauf gezielt wird, läßt sich nicht zuletzt an der Tatsache erkennen, daß er sich eine heutzutage sehr beliebte Denunziation nicht verkneifen wollte: So als habe es sich um eine Selbstverständlichkeit gehandelt, wird der von Volkmann herausgegebene Band als Ergebnis eines Gemeinschaftsprojektes »mit führenden Faschismus-Forschern der DDR« vorgestellt. Dazu bemerkt er, es hätte sich in den letzten Jahren der DDR im Grundmuster der historischen Interpretation zwischen Forschern in Ost- und Westdeutschland eine »beachtliche Konvergenz« ergeben. Im Klartext bedeutet dies, manche Historiker in der alten Bundesrepublik hätten sich »kommunistischer Sicht« angepaßt, denn in dieser seien ohnehin immer »Faschisten und Nationalsozialisten nur die Stoßtrupps des ›bürgerlichen Antikommunismus‹ gewesen«, der der politischen und sozialen Reaktion als Schild und Schwert gedient habe. Doch mit dieser von Sachkenntnis ungetrübten Aussage ist es nicht genug: Mit Bedauern und kritischem Unterton wird generalisierend festgestellt, die Auffassung von Thomas Mann, wonach der Antikommunismus zu den »Grundtorheiten« der Epoche gehöre, habe sich auch in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren als eine im akademischen und publizistischen Bereich weithin geteilte Auffassung durchgesetzt. Die Realität, wie wir wissen, sah und sieht anders aus!

Zusammenfassend fällt Koenen sein Urteil über bisherige wissenschaftliche Aussagen zur Geschichte deutscher Russophobie und insbesondere über deren Zusammenhang mit dem Rußlandbild im »Dritten Reich« mit folgendem Satz: »Unter dem Medusenblick dieser scheinbar evidenten Verknüpfungen erstarrte die lange und komplexe Beziehungsgeschichte zwischen Deutschen, Russen und den Völkern des europäischen Ostens allerdings in einer Hermetik, Linearität und Eindimensionalität, die mehr verdunkelt als erhellt.« Natürlich kann, nur nebenbei bemerkt, nicht die Geschichte selbst »erstarrt« sein, gemeint ist nur das Bild, das von ihr gemacht bzw. über sie verbreitet worden ist. In diesem Sinne heißt es dann am Ende seines Buches, die nach 1945 »im Zuge neuer, heißer und kalter Kriege und Bürgerkriege formierten antagonistischen ›Blöcke‹ und ›Systeme‹ und die ihnen zugeschriebenen ›Ismen‹ wie Kapitalismus und Faschismus, Kommunismus und Totalitarismus« hätten über vier Jahrzehnte hinweg »als machtvolles Instrument der Einebnung und Überformung aller älteren historischen Erinnerungen« gewirkt.

Unhaltbare Vorwürfe

Ältere Erinnerungen – damit sind lediglich die an russophile Erscheinungen gemeint. Diese seien also, so läßt sich schlußfolgern, mit dem Blick auf den Antikommunismus der deutschen Faschisten und letztlich wohl auch durch den Blick auf die realen Ursachen des Überfalls vom 22. Juni 1941 »überformt« worden. Dazu paßt auch die ebenfalls der realen Geschichte widersprechende Behauptung, es habe für den Krieg gegen die UdSSR »vorab keinerlei ideologische Vorbereitung« gegeben, auch keine genuinen »Überzeugungen«. Statt dessen sollen eher »kriegsstrategische als weltanschauliche Gründe« ausschlaggebend gewesen sein. Welch ein Konstrukt angeblich einander ausschließender Gegensätze, noch dazu in einer Begrifflichkeit, die mit dem Blick auf die »Kriegsstrategie« wenig Raum läßt für das Ineinandergreifen wirtschaftlich, politisch, geostrategisch und auch ideologisch bestimmter Kriegsinteressen. Daß es sich beim Krieg gegen Rußland um ein »Amalgam« von Plänen zur Gewinnung von »Lebensraum«, zum Erreichen deutscher Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent und einer Weltmachtstellung, zur Vernichtung der »jüdisch-bolschewistischen Führungsschicht« und der Juden sowie um Unterwerfung und Dezimierung der slawischen Bevölkerung gehandelt hat, ist überzeugend von vielen Historikern nachgewiesen worden, wenngleich alles, aber auch alles getan wird, allein Hitler als den verantwortlichen »Übeltäter« herauszustellen.

Insgesamt darf vermutet werden, daß Koenen gegenüber dem von Volkmann herausgegebenen Band wahrscheinlich nur aussprach, was andere ebenfalls dachten bzw. nicht zu Papier brachten. Dieses Buch fand, als es 1994 erschien, kaum öffentliches Interesse. Sowohl die Zeitschrift für Geschichtswissenschaft als auch die Historische Zeitschrift und die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte verzichteten auf eine Rezension. Als 2007 an der Katholischen Universität Eichstätt eine Konferenz zum Thema »Russische Deutschlandbilder und deutsche Rußlandbilder im 20. und 21. Jahrhundert« stattfand, fand sich unter den Eingeladenen kein einziger, der am Projekt Volkmanns mitgewirkt hatte.

Wer indessen die 20 Beiträge des von Volkmann herausgegebenen Bandes unvoreingenommen liest, wird das Unhaltbare der Vorwürfe erkennen, es sei denn, man will der historischen Verantwortung und Schuld des deutschen Überfalls auf die UdSSR neue, vor allem relativierende Grenzen setzen. In keinem Teil des Bandes werden weder die Existenz rußlandfreundlicher Stimmen noch die ihnen entsprechenden politischen Entscheidungen negiert. In meinem Artikel über das Rußlandbild Hitlers und der ­NSDAP, der in den Band aufgenommen worden ist, schrieb ich, daß dieses sich in eine Vielzahl von einzelnen Bildern und Bildelementen aufgelöst habe, daß wir es »mit einem zwar zentral vorgegebenen und gelenkten, tatsächlich aber doch recht diffusen Gemenge aus den bestimmenden Grundkonstanten und aus zahlreichen Variablen« zu tun hätten. Ich sprach von einem »Schüttelbild, das seine Erscheinungsformen je nach konkreter Situation und politischem Bedürfnis, je nach Adressat und parteiinternem Kräfteverhältnis bei Gruppen und Einzelpersönlichkeiten der NSDAP verändern konnte«.

Von erstarrter und verdunkelnder »Eindimensionalität« kann bei allen, die Koenens Kritik treffen soll, keine Rede sein, auch nicht von irgendeiner »Einebnung« älterer Erinnerungen an rußlandfreundliche Tendenzen. Dem Text des Volkmann-Bandes läßt sich ebenso nicht entnehmen, daß das Rußlandbild des »Dritten Reiches« einer Gesamtgeschichte deutscher Russophobie vollständig entsprochen hätte, was gegen den Vorwurf der »Linearität« und bruchloser Kontinuität spricht. Ebensowenig trifft der Anwurf, die kritisierten Autoren hätten im Sinne einer religiösen Offenbarungs- und Geheimlehre oder gar okkultisch-esoterisch geurteilt, wie die Verwendung des Hermetik-Begriffes suggeriert.

Belege werden nicht erbracht. So lassen sich unterschwellig angedeutete, jedoch durchaus absichtsvolle Unterstellungen vermuten, die letztlich – dies in eindeutig politischer Funktion – dem konkreten antifaschistischen Urteilen ein vages Meinen sowie unverbindliche, historische Schuld und Verantwortung gleichmäßig auf alle Schultern verlagernde Standpunkte gegenüberstellen. Nicht die Benennung und Hervorhebung russophober Erscheinungen in der deutschen Geschichte bedürfen der Kritik. Es sind ihre Relativierung und Verdrängung, die zu beanstanden waren und bleiben. Daß viele Faktoren Geschichte bewirken, zählt zu längst Erkanntem, doch Entscheidendes für den realen Geschichtsverlauf bewirkt niemals eine bloße Summe aller ursächlich wirkenden Faktoren, ausschlaggebend sind deren innere Struktur, deren Relationen und gegenseitige Abhängigkeiten.

Nolte und die Folgen

Politische Intentionen neuerer Geschichtsdeutungen erhellen sich auch durch die offen formulierte Einordnung in das, was ich als einen aktuellen »Nachschlag« zum sogenannten Historikerstreit verstehe, der vor einem Vierteljahrhundert die Gemüter erregte und außerordentlich intensiv geführt worden ist. Die den Streit auslösenden Thesen Ernst Noltes von der »asiatischen Tat« Hitlers und vom »kausalen Nexus«, einem ursächlichen Zusammenhang zwischen »Klassenmord« und »Rassenmord«, waren von der Geschichtswissenschaft mehrheitlich sowohl abgelehnt als auch widerlegt worden. Dies rückgängig zu machen zählt seit einigen Jahren zum bevorzugten Anliegen beispielsweise von Eckhard Jesse, Volker Kronenberg, Heinrich August Winkler u.a.m. Denn, so lautet die Begründung Ulrich Herberts, linke Gesellschaftstheorie habe damals »so etwas wie eine intellektuelle Hegemonie« erreicht. Und noch zugespitzter heißt es, daß aus der Sicht auf das »Zusammengehen der traditionellen Eliten mit dem Führungskern der NS-Bewegung« ja auch »das Konzept der Nürnberger Prozesse erwachsen« sei.

Des Pudels Kern ist also benannt! Da ist sie wieder, die alte These von einem kausalen Zusammenhang der Jahre 1917 und 1933, eine These, die alle entscheidenden Ursachen für den Aufstieg und den Sieg der NSDAP im Grunde aus der Geschichte deutscher Eliten herausgelöst sehen will. Der Krieg soll einzig und allein Hitlers Krieg gewesen sein, wobei mehr und mehr die Absicht erkennbar ist, den Krieg als gemeinsames deutsch-russisches Produkt erscheinen zu lassen. So verschwimmt das Bild der Ursachen des Raub- und Vernichtungskrieges gegen die UdSSR auch angesichts einer nahezu formelhaften Verwendung von Begriffspaaren, die in Buchhandlungen und Bibliotheken allgegenwärtig sind: »Hitler-Stalin-Krieg«, »Krieg der Diktatoren«, »Rußlands und Deutschlands Katastrophengeschichte« usw. usf. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung leistete jüngst einen aufschlußreichen Beitrag zur Verbreitung solcher Formeln: Obwohl Christian Hartmann sein neues Buch mit dem Titel »Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941–1945« (München 2011) versehen hat, gab Dirk Blasius seiner Rezension die Überschrift: »Höllenfahrt. Der Hitler-Stalin-Krieg« (FAZ vom 5.5.2011). Vor ein paar Tagen titelte Der Spiegel seine eigentlich inhaltlich doch banale Story zum 70. Jahrestag des 22. Juni 1941 »Bruder Todfeind« und schrumpfte den Zweiten Weltkrieg ganz und gar auf das »Duell zweier Jahrhundertverbrecher« ein. Solchen Intentionen gemäß wird de facto ein weiteres Stück der historisch schwer wiegenden Verantwortung deutscher Eliten für den Aufstieg sowie für die Herrschaft des deutschen Faschismus gleichsam abgeschliffen, entlastet und relativiert.

Oft soll geschichtsrevisionistischen Bestrebungen das Argument dienen, es sei das ganze historische Feld wahrzunehmen. Als Motto wird verkündet, man brauche gegenüber dem früheren Forschungsstand endlich »differenzierende« Untersuchungen. Gegen solche methodischen Prinzipien ist nichts, aber auch gar nichts einzuwenden, es sei denn, daß dabei unverbindliche Vieldeutigkeit statt Eindeutigkeit postuliert wird. Es muß nicht verwundern, wenn gerade die Überbetonung und eine Verabsolutierung des Vieldeutigen als »Chance einer neuen Stufe der Historisierung« gepriesen worden ist, u. a. von Karl Schlögel oder auch von Heinrich August Winkler, der ja bereits Mitte der 90er Jahre Abstand von seiner früheren Kritik an Nolte genommen und eine Kehrtwendung vollzogen hatte. Winkler meinte, der seinerzeitige »Sieg der Aufklärer, von vielen ohnehin als ein Pyrrhussieg« betrachtet, habe einen hohen Preis zur Folge gehabt. Er erhob sogar Noltes These vom »Kausalnexus« zwischen dem »roten Terror« der russischen Kommunisten und dem Aufstieg des deutschen Faschismus zu der »Jahrhundertfrage« schlechthin.

In den hier dargelegten Auffassungen und in den für sie benutzten methodischen Instrumentarien spiegeln sich allgemeine Erscheinungen in der neueren bundesdeutschen Geschichtsschreibung. Sie stehen im Mittelpunkt einer ganzen Reihe von Publikationen aus der Feder älterer und jüngerer Autoren, die nach 1989/90 und angepaßt an die neuen Verhältnisse sich um eine neuerliche Rechtfertigung jener Argumente bemühen, welche in den achtziger Jahren den »Historikerstreit« ausgelöst hatten. Da beklagte u.a. der 2010 verstorbene Politologe Manfred Funke, ein radikaler Anti-Antifaschist und führender Mitarbeiter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, es habe »publizistische Exekutionen gegen Nolte« gegeben, und man müsse endlich das um diesen angehäufte »Packeis von Tabus aufbrechen«. Volker Kronenberg strebte schon 1999 eine Revision aller im »Historikerstreit« geäußerten Kritik an Ernst Nolte an. 2006 veröffentlichte er in Die Welt einen Artikel mit dem bezeichnenden Titel: »Gerechtigkeit für Ernst Nolte« und meinte, es würde sich nun, 20 Jahre nach dem Historikerstreit, eine »affektfreiere Auseinandersetzung mit den Mörderdiktaturen der europäischen Geschichte« abzeichnen. »Abschied vom Gestern« sei zu nehmen, denn Hitler würde nicht länger der »identitätsstiftende Fixpunkt deutscher Selbstbetrachtung« bleiben. Die Bundesrepublik könne sich »zunehmend aus der Gegenwart« definieren, sich zu einem neuen »Deutschlandgefühl« bekennen, das sich auffällig vom Modell des Habermasschen »Verfassungspatriotismus« aus dem Historikerstreit unterscheide.

Die »Jahrhundertfrage«, wie Winkler sie titulierte, sei in Deutschland tabuisiert worden. So heißt es immer wieder, und das ganz so, als hätte es keinerlei Argumente zu ihrer Charakterisierung als unzulänglich oder gar als falsch gegeben. Doch das gehört generell zum geschichtsrevisionistischen Methoden-Inventar: Das Gegensätzliche zu anderen Meinungen wird postuliert, das zum Normalen Erklärte angeblicher Unnormalität gegenübergestellt: Beispielsweise heißt es da, ein Historiker müsse »Analytiker statt Doktrinär« sein, er habe »erkenntnispflichtig statt interessengeleitet zu überzeugen«. Wie wahr, doch geht man über ein schlichtes Gut-Böse-Schema nicht hinaus.

Unüberwundene Vorurteile

Zur Debatte gestellt sieht sich so, derlei rabulistischer Methodik unterworfen, letztlich das Urteil des Nürnberger Prozesses gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher. Hinter dem Jahr 1917 lassen sich – so wohl die Hoffnung – auch in der Kriegsursachenforschung alle entscheidenden Faktoren des in Deutschland beschrittenen und zu verantwortenden Weges zu hitlerfaschistischer Diktatur und zum Zweiten Weltkrieg auflösen. Dahinter soll – wie es scheint – vor allem die historische Verantwortung imperialen Großmachtstrebens deutscher Eliten verborgen werden. Ökonomische, politische und geistig-ideologische Elemente imperialer, hegemonialer und rassenideologisch-expansiver Ostraum­intentionen treten in den Hintergrund, Ambivalenzen hingegen drängen in den Vordergrund.

Zu warnen bleibt daher vor einem offensichtlich nicht allein in Deutschland zunehmend enthistorisierenden Umgang mit der eigenen Geschichte, vor besänftigenden und neuen politischen Interessen untergeordneten Unzulänglichkeiten in deren Darstellung. Kritische Selbstbesinnung sollte nach wie vor gefragt sein, nicht deren Behinderung und Relativierung. Jedes Retuschieren realgeschichtlicher Gegebenheiten, das auf ein totalitarismustheoretisches Gleichsetzen unterschiedlicher Faktoren orientiert, wirkt notwendiger Ursachenforschung entgegen.

Die zu Beginn der 1990er Jahre ausgesprochene Erwartung, alte Feindbilder würden endlich neuen Hoffnungen weichen, erfüllten sich bekanntlich nur zu geringem Teil. Insofern spürt wohl jeder, daß es sich in der Wiederbelebung konservativer Ausgangspunkte des »Historikerstreites« um mehr als nur um ein historisches Problem oder um Divergenzen geschichtswissenschaftlicher Interpretationsbemühungen handelt. Trotz aller Veränderungen, die im Bild der Deutschen von den Russen nicht zu übersehen sind, sind auch heutzutage überholte russophobe Stereotype und viele primitive Schlagworte von einst nur unzureichend überwunden worden.

Alte Vorurteile, negative Klischees und anmaßende Stereotype existieren nach wie vor, wie zwei 2007 erarbeitete Forsa-Studien zum Bild der Deutschen über Rußland und die Russen belegen. Befördert werden dürfte dies in jüngster Zeit auch durch Forderungen nach stärkerer Kritik an Rußlands »autoritärer Führung«. Diese beschwere den »Weg zur Versöhnung«, las man jüngst in Der Spiegel. In der Wochenzeitung Die Zeit forderte Andreas Umland sogar eine neue Ostpolitik Deutschlands und der Europäischen Union, die an die Stelle bisheriger »Kumpanei« treten solle. Die Türkei stünde Europa näher als Rußland, verkündete der Exaußenminister Joseph Fischer; Europa bleibe zwar noch eine Weile von russischen Rohstofflieferungen abhängig, komme auf Dauer aber ohne Rußland aus. Vielfach werden Versöhnung und Partnerschaft angestrebt, jedoch an beträchtliche Bedingungen gekoppelt, seien sie wirtschaftlicher, militärtechnischer oder politischer Art.

Die Frage indessen, was sich angesichts zunehmender Krisen und neuer nationalstaatlicher Gegentendenzen zur europäischen Gemeinschaftsidee sowie zur Globalisierung von den althergebrachten Klischees erneut mobilisieren lassen könnte, sollten Wirtschafts- und Politikeliten dies zur Durchsetzung handfester Eigeninteressen wieder einmal für nützlich erachten, steht auf einem anderen Blatt – ich kann nur sagen: hoffentlich auf einem, das ein unabdingbar kritisches Bild der Ursachen des 22. Juni 1941 zeichnet und gegen alle Kriegstreiberei in dieser Welt gerichtetes Erinnern befördern hilft.

Fußnoten
  1. Gerd Koenen: Der Rußlandkomplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München 2005
  2. ders., »Der Deutsche Rußlandkomplex. Zur Ambivalenz deutscher Ostorientierungen in der Weltkriegsphase des 20. Jahrhunderts«, in: Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, hrsg. von Gregor Thum, Göttingen 2006, S. 16-46
  3. Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Das Rußlandbild im Dritten Reich, Köln u. a., 2. Auflage 1994
* Prof. Manfred Weißbecker lehrte bis 1992 Neuere Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Kurt Pätzold): Geschichte der ­NSDAP 1920–1945, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, PapyRossa Verlag, Köln 2009

Aus: junge Welt, 30. Juni 2011



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