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Achse Berlin–Moskau

Neue Ostseepipeline umgeht Nachbarstaaten. Polen, Balten, Ukrainer und Belorussen fühlen sich von »Energieimperium« abgehängt

Von Tomasz Konicz *

Das kleine Lubmin befand sich am Dienstag im politischen Ausnahmezustand. Internationale Politprominenz hatte sich im Seebad am Greifswalder Bodden eingefunden, um mit der Einweihung der Ostseepipeline ein neues energie- und geopolitisches Kapitel in Europa aufzuschlagen. Anwesend waren neben der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem russischen Präsidenten Dmitri Medwedew auch die Regierungschefs der Niederlande und Frankreichs, Mark Rutte und François Fillon. Außerdem wohnte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder der Zeremonie bei. Während seiner Amtszeit hatte er das umstrittene Gaspipelineprojekt in Kooperation mit dem damaligen russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin auf den Weg gebracht. Derzeit ist Schröder als Vorsitzender des Nord Stream-Aktionärsausschusses tätig. Die Inbetriebsetzung der Ostseepipeline stelle ein »langersehntes Ereignis« dar und belege die »Festigung der Beziehungen zwischen Rußland und der EU«, sagte Medwedew auf einer Pressekonferenz.

Tatsächlich kann der Kreml das Projekt als einen großen geopolitischen Erfolg verbuchen, der die Stellung Rußlands als wichtigstem Energielieferanten der EU zementieren wird. Die seit April 2010 im Bau befindliche Pipeline verbindet Lubmin nun direkt mit dem russischen Wyborg in der Portowaja-Bucht. Insgesamt investierte die Pipeline-Gesellschaft rund 7,4 Milliarden Euro, um die 1224 Kilometer lange Gasleitung auf dem Ostseegrund zu verlegen. Neben dem Moskauer Gasmonopolisten Gasprom, der 51 Prozent an Nord Stream hält, sind an dem Projekt noch Eon Ruhrgas und die BASF-Tochter Wintershall beteiligt. Kleinere Anteile halten der französische Energiekonzern GDF Suez und der niederländische Versorger Gasunie. Nach Fertigstellung der zweiten Leitung wird Nord Stream den jährlichen Erdgasverbrauch von 26 Millionen Haushalten in der EU decken können.

Im Vorfeld der Einweihungszeremonie gaben sich deutsche Politiker Mühe, den multilateralen Charakter des Energieprojekts zu betonen. Der deutsche Wirtschaftsminister Philipp Rösler bezeichnete Nord Stream gegenüber der Zeitung Die Welt als ein »europäisches Projekt«. Rußland decke inzwischen »mehr als 25 Prozent des europäischen Gasverbrauchs und circa 35 Prozent des deutschen Gasverbrauchs«, dozierte Rösler. Berlin hat immer wieder betont, daß die Ostseepipeline zur Versorgungssicherheit der gesamten EU beitragen solle. Diesen Eindruck eines »europäischen Projekts« soll auch die – bloß marginale – Einbindung französischer und niederländischer Teilhaber bekräftigen. Zugleich betonte Rösler jedoch die wachsende Bedeutung Rußlands für die deutsche Exportindustrie: So dürfte der deutsch-russische Handel in diesem Jahr erstmals ein Volumen von mehr als 70 Milliarden Euro erreichen und das »bisherige Rekordjahr 2008 mit einem Handelsvolumen von 69,4 Milliarden Euro noch übertreffen«, so der Minister. Deutschland werde die Zusammenarbeit weiter forcieren.

Eine ähnliche Parole gab auch der Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, Eckhard Cordes, in einem Gastkommentar für das Handelsblatt aus. Über 6000 deutsche Unternehmen und Konzerne seien im größten Land der Welt aktiv; deutsches Kapital sei »in Rußland hervorragend aufgestellt.« Doch das Potential des dortigen Marktes werde noch »bei weitem nicht ausgeschöpft«. Laut Cordes gibt es angesichts der »globalen Konkurrenz« keine Alternative zur Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation, da Europa ansonsten »wirtschaftlichen und politischen Einfluß in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts« verlöre.

Die Stärkung der Achse Berlin–Moskau läßt in den meisten Hauptstädten Mittelosteuropas schlimmste Befürchtungen aufziehen. Die zwischen Deutschland und Rußland eingekeilten Staaten kritisieren die Ostseepipeline vehement. Sie sehen ihre energiepolitische Souveränität gefährdet. Polen verliere aufgrund der neuen Gasleitung seinen Status als wichtiges Transitland für Erdgas, titelte etwa die polnische Nachrichtenagentur PAP. Heftige Kritik übten auch die baltischen Staaten. Außerdem ist die Verhandlungsposition der Ukraine in den energiepolitischen Auseinandersetzungen mit Rußland geschwächt. Über ukrainisches Territorium wurden bislang rund 80 Prozent des für die EU bestimmten russischen Erdgases transportiert.

Bislang konnten sowohl die Ukraine als auch Belorußland beim Energiepoker mit Moskau mit der Unterbrechung der Transitwege nach Westeuropa drohen, um so niedrigere Gaspreise für sich selbst durchzusetzen. Das geschah beispielsweise während des ukrainisch-russischen »Gaskrieges« von 2009/2010. Der Kiewer Präsident Viktor Janukowitsch klagte Mitte Oktober, daß es gerade dieser Streit gewesen sei, der zur schnellen Realisierung der Ostseepipeline führte. Er werde nun alles unternehmen, damit »die internationalen Partner wieder Vertrauen in uns« als sicheres Transitland schöpften, so Janukowitsch. Auch der geplante polnische Einstieg in die Atomkraft ist als Versuch zu werten, die energetische Unabhängigkeit des Landes zu stärken.

Der Kreml hat mit Nord Stream nun bessere Trümpfe in der Hand, um seine zentrale strategische Zielsetzung zu realisieren und die Kontrolle über das Pipelinenetz möglichst aller mittel­osteuropäischen Staaten zu erringen. Nachdem bereits Belarus seine Gasleitungen an Gasprom im Gegenzug für Preisnachlässe veräußern mußte, bemüht sich der Kreml derzeit um den Erwerb des ukrainischen Pipelinesystems. Im Rahmen der maßgeblich von Putin entworfenen Strategie des »Energieimperiums« will Rußland die Kontrolle über gesamte energetische Wertschöpfungskette gewinnen: von der Förderung über den Transport bis zum Verbrauch in Westeuropa.

* Aus: junge Welt, 10. November 2011


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