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Schon wieder alles vergessen?

Das Potsdamer Abkommen, die Wiedervereinigung und wie Deutschland mit neuer Kriegsschuld belastet wurde

Von Helmut Bock *

Vom 17. Juli bis 2. August 1945 entschieden auf Schloss Cecilienhof in Potsdam die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die Sowjetunion, USA und Großbritannien, über den Aggressor Deutschland. Stalin, Truman und Attlee bestimmten für das schuldige Land die sogenannten 5 D: Denazifizierung, Demokratisierung, Dezentralisierung, Demontage und Demilitarisierung, damit von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehe. Zehn Jahre später gab es zwei deutsche Staaten und zwei deutsche Armeen, eingebunden in die Militärpakte zweier sich feindselig gegenüberstehenden konträren polit-ökonomischen Systeme. Doch weder Bundeswehr noch NVA waren in Kriege involviert. 65 Jahre nach Potsdam sind die Schwüre und Gebote von damals vergessen - auch die zur »Wiedervereinigung« vor 20 Jahren.


Hier geht es zum Wortlaut des

Potsdamer Abkommens



»Disposition zur Kriegführung« - dieser staatsbürokratische Begriff meint Waffenwerkstätten und Forschungslabors, bevölkert von Leuten, die den Tod anderer denken, erfinden, fabrizieren - gemanagt von Menschen, die aus jedem Kriegs- und Mordwerkzeug Kapital wuchern lassen. Kasernen und Manövergelände, Flugplätze und Kriegshäfen, mobile Panzerkorps und Luftlandetruppen, global operierende Seeflotten und Bomberstaffeln, einsatzbereite Atomwaffen und Trägerraketen. Stützpunkte rund um den Erdball, selbst im Kosmos allgegenwärtige Spionage- und Alarmsatelliten - die Floskel »bis an die Zähne bewaffnet« ist nur ein niedliches Wortspiel. Und was sind von alledem die Friede heuchelnden Resultate? In vielen Regionen der Welt bedeutet »Frieden« nur: Zwangsregime oder wieder Vorkriegszustand.

Schwerter zu Pflugscharen

Noch immer gilt Krieg als Politik mit anderen Mitteln. Noch immer? Oder schon wieder? Hatten wir nicht 1945 »Nie wieder Krieg!« geschworen? Und vor zwanzig Jahren mit den Ideologien des Kalten Kriegs gebrochen? Hatten wir nicht Schluss machen wollen mit dem regierungsamtlichen Irrsinn, in einem Angstfrieden leben zu müssen? »Schwerter zu Pflugscharen« hieß der alttestamentliche Streitruf angesichts verschärfter Gefahren Anfang der 80er Jahre: Brüsseler Raketenbeschlüsse der NATO, Invasionen in Afghanistan, auf Granada und den Falklandinseln, »Nachrüstung« und »Nach-Nach-Rüstung«, Abbruch der amerikanisch-sowjetischen Abrüstungsverhandlungen in Genf und im November 1983 beinahe der Tag des Jüngsten Gerichts - fahrlässig hervorgerufen durch das NATO-Manöver »Able archer« mit simulierten Atomschlägen gegen die Warschauer Paktstaaten, vermieden nur durch die kluge Reaktion vor Krieg zurückschreckender Russen. Und damals fanden sich auch andernorts noch Menschen genug, die offen für eine Alternative einstehen wollten, ehe ein Holocaust der Menschheit geschehe.

Anstelle »Wehrunterrichts« verlangten wir Friedenserziehung. Anstelle der autoritären Führungsrolle poststalinistischer Politbüros traten wir im Namen des Weltfriedens für ein tolerantes Bündnis aller Sozialisten, überdies mit Pazifisten, Christen und Kirchen ein. Anstelle militanter Staatsegoismen mahnten wir gewaltfreie Konfliktlösungen und Dialog, friedlichen Wettbewerb und Kooperation der Gesellschaftssysteme an. Das Reform- und Friedensverlangen schien beflügelt durch »Perestroika« und »Neues Denken« in der Sowjetunion. Die weltpolitische Botschaft kam - nach 1917 - noch einmal aus dem Osten.

Plötzlicher als die Strategen des »Westens« denken konnten, geschah das Ende des »real existierenden Sozialismus«, der keine real-sozialistische Volksdemokratie war. Auf den Demonstrationen und Podiumsdebatten sowie an den Runden Tischen vor 20 Jahren hegten wir die Hoffnung, man könnte durch die Entmachtung der bürokratisch-zentralistischen Parteiführungsorgane zu einem demokratischen Sozialismus gelangen, der im sozialen, politischen, nicht zuletzt moralisch-kulturellen Wettbewerb mit der Alt-BRD bessere Lebensbedingungen für das Volk hervorbrächte. In der Außenpolitik hielten wir völkerfreundliche Deklarationen und Vorleistungen zugunsten entschiedener Abrüstung vonnöten: ABC-Waffen freie Zone in Mitteleuropa! Auflösung der Militärblöcke! Zumal die noch aktiven Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs an die tiefe moralische Schuld der Deutschen vor den Völkern der Welt erinnerten, und auch daran, wie das Hitler-Regime, unterstützt von Cliquen des Großkapitals, das deutsche Volk für verbrecherische Weltmachtziele missbraucht hatte. Gemäß dieser Erfahrung hieß es in unserer Denkschrift an die letzte DDR-Regierung unter de Maizière: »Ein wirklicher Friede in Deutschland und in Europa, gegründet im unbedingten Friedenswillen unseres Volkes, das dem Krieg und der Rüstung für immer entsagt - das wäre jetzt eine große Botschaft für die Völker der Welt.« (Memorandum »Friedensbund Europa. Eine Utopie, die jetzt zu verwirklichen ist«, 11. Juni 1990)

Das Versprechen im Moskauer Vertrag

Die politische Klasse am Rhein allerdings mochte Aktivitäten »von unten« nur, wenn es dem Sturz »kommunistischer Obrigkeit« galt, keinesfalls für die demokratische Ausgestaltung der territorial erweiterten Bundesrepublik. Auch in der Außenpolitik stieß unser Begehren auf Ohren, die hinsichtlich einer qualitativen Abrüstung von BRD und NATO an chronischer Taubheit litten. Die NVA wurde aufgelöst, die Sowjetarmee aus deutschen Gebieten entfernt. Jedoch die NATO, die stets ihre Option des Erstschlags mit Nuklearwaffen behauptet hatte, blieb.

Der Moskauer Vertrag vom 12. September 1990, der dem vereinten Deutschland die völkerrechtliche Souveränität verlieh, formulierte für die Deutschen ein Friedensgebot (Art. 1), den Verzicht auf ABC-Waffen (Art. 3.1) und die Reduzierung konventioneller Streitkräfte (Art. 3.2). Die beiden Regierungen an Rhein und Spree gaben ihr Versprechen, »dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen« werde. Dagegen sollten »Handlungen, die geeignet sind ..., das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten«, als »verfassungswidrig und strafbar« gelten.

Zu gleicher Zeit verloren die Falken in den USA und die Führer der NATO ihren Gegner, den »Kommunismus«, das demagogisch verteufelte »Reich des Bösen« - somit auch den seit Jahrzehnten beschworenen Urgrund ihrer andauernd modernisierten Massenvernichtungswaffen, weltumspannenden Stützpunktpolitik und Kriegsbereitschaft. Durfte man annehmen, dass sich die profitgeilen Rüstungskonzerne nun glücklich schätzen würden, künftig statt automatischer Handwaffen nur computerisierte Küchengeräte, statt Panzern und Bombern nur Drei-Liter-Autos und Solarkraftanlagen zu produzieren? Durfte man hoffen, diese Fabriken und Werkstätten, das Pentagon und die NATO-Institutionen seien froh und bereit gewesen, einen Teil ihres mordsinnigen und kostspieligen Personals zu entlassen, damit es sich einen weniger martialischen Job suche?

Bereits Anfang 1991 tobte der Hightech-Krieg »Wüstensturm« gegen Irak, der allerdings wegen seines Angriffskriegs gegen das ölreiche Kuwait ein Aggressor, also nach Völkerrecht schuldhaft war. Ironie der Geschichte: Saddam Hussein war ein gewohnter Angreifer, den die USA selbst aufgerüstet hatten - zum Krieg gegen die islamische Revolution in Iran. Je länger aber die amerikanisch-britische Strafexpedition währte, desto dringender stellte sich die Frage der Zweck-Mittel-Relation. Wer aber für Embargo statt Luftbombardements und gegen zynische Tests neuester, sogar mit Uran verseuchter Waffen auf die Straße ging, bekam die Wasserwerfer bundesdeutscher Polizeitruppen zu spüren. Obwohl am Persischen Golf nicht unmittelbar beteiligt - jetzt war ganz Deutschland NATO-Mitglied. Deutsche Minister predigten erhöhte Verantwortung für Europa und die Welt und verschrien »Friedenstrottel«, die das Ansehen der neuen und großen Bundesrepublik im Ausland beschädigen würden.

Die Hymnen und Friedensschwüre der deutschen »Wiedervereinigung« waren verklungen. Andere Bekenntnisse traten hervor. Wir sind wieder wer! So hörte man allzu bald aus deutschen Regierungskreisen. Dem Weißen Haus vorauseilend, anerkannte Außenminister Genscher die Sezession und die staatliche Souveränität Sloweniens und Kroatiens: Die BRD war 1991 unter den NATO-Staaten der erste, der die Axt an Jugoslawiens Vielvölkerschaft legte. Serben, die (anders als kroatische »Ustascha«) in zwei Weltkriegen auf der richtigen Frontseite, also gegen die Aggressoren Deutschland und Österreich gekämpft hatten, wurden gebrandmarkt und verdammt.

Vor diesem Hintergrund haben Politiker und Militärs den Wandel ihrer Strategie vollzogen. Schon 1992 war in den Richtlinien des deutschen Bundesministers für »Verteidigung« von künftigen Bundeswehreinsätzen für »vitale Sicherheitsinteressen« die Rede: »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt ...« Worte, die an die imperialistische Propaganda und Markterzwingung der Alldeutschen am Vorabend des Ersten Weltkriegs denken lassen. Am 19. März 1993 verlautbarte Außenminister Kinkel, Genschers Nachfolger, in der FAZ: »Gegenwärtig bewegen wir uns vom Interventionsverbot im Namen staatlicher Souveränität hin zum Interventionsgebot im Namen der Menschenwürde und humanitären Hilfe.«

So reifte im NATO-Verteidigungsbündnis das Schlangenei, das »out of area« heißt. In der Schule von Amerikanern und Briten haben Bundeswehrkontingente erste und wachsende Erfahrungen gesammelt: Kambodscha, Somalia, Türkei, Bosnien, Herzegowina. Doch der blanke Sündenfall der Außen- und Militärpolitik Deutschlands, das in der historischen Stunde der sogenannten Wiedervereinigung seine »Friedenspflicht« gelobt und dem »Angriffskrieg« abgeschworen hatte, heißt »Kosovo« - richtiger: NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Deutschland war mit von der Partie. Und der inkriminierte Tatbestand geschah unter der Kanzlerschaft eines Sozialdemokraten, in Koalition mit den Grünen!

Am 24. März 1999 begannen die Luftflotten der NATO eine 78 Tage und Nächte währende Bombardierung Serbiens. Die Offensive brach Völkerrecht. Es existierte kein UNO-Mandat. Die Angriffskrieger vollzogen den längst angesagten Salto mortale vom Verteidigungs- zum Interventionsprinzip des mächtigsten Militärblocks der Welt. Dass die Serben die alleinigen Bösewichter des Balkans seien, war und ist die Kriegslüge der NATO. Unter den fünf Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen befindet sich eine Million Serben. Auch sie beklagen ihre Toten, ihre verlorenen Heimstätten.

Von Kosovo nach Afghanistan

Der Vorgang von 1999 war das Menetekel des beginnenden neuen Jahrhunderts. Seine Offenbarung erfolgte mit dem 11. September 2001 und den bekannten weltpolitischen Folgen: neue Kriege. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel forderte, man müsse den »Freunden in den USA« helfen. Diesmal jedoch formierte sich wieder eine mächtige Woge der Friedensbewegung. Der SPD-Vorsitzende Schröder war klug genug, die millionenfache Kriegsablehnung auszunutzen, um seine zweite Kanzlerschaft zu gewinnen. Sobald aber die von den USA einst gegen die Sowjetunion aufgerüsteten Taliban und die Ausbildungslager von »Al Qaida« zum Ziel der bombardierenden Racheengel der NATO wurden, stand die Bundeswehr erneut bereit, ihre Bündnispflichten zu erfüllen. »Deutschlands Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt!« Deutsche Staatsbürger müssten sich mit solchen Sprüchen historisch auskennen. Eine Verteidigungsfront 5000 Kilometer von Deutschland entfernt?! Man könnte wohl ebenso gut die rohstoffreichen Abgründe des Nordpols »verteidigen«.

Vierhundert Jahre zuvor, in der Geburtszeit des Völkerrechts, hatte Hugo Grotius (1583-1645) geschrieben: »Dass die Möglichkeit, Gewalt zu erleiden, schon das Recht, Gewalt zu gebrauchen, gebe, ist ohne allen gerechten Grund.« (zit. nach »Des Hugo Grotius drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens ...«, Leipzig 1877) Seitdem steht »vorbeugender« Krieg unter Aggressionsverdacht und moralischer Anklage. Doch davon unbeeindruckt regieren bundesdeutsche Politiker weiterhin wider die Antikriegshaltung der Mehrheit der Bürger Deutschlands. Wie lange noch?

* Prof. Dr. Helmut Bock, bis 1990 an der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig, war Verfasser des im Artikel genannten Friedens-Memorandums an die de-Maizière-Regierung.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Juli 2010


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