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Verdrängungsstrategien

NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit

Von Ernst Reuß *

Rechtzeitig vor dem 65. Jahrestag der Urteilsverkündung im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher am 1. Oktober 1946 veröffentlichte das Dresdner Hannah-Arendt-Institut in ihrer Schriftenreihe einen Band mit 20 Beiträgen zum Thema »NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit«. Fast alle Auoren konstatieren, dass bereits unmittelbar nach Kriegsende in Deutschland eine Schlussstrichmentalität vorherrschte und NS-Prozesse von der Bevölkerung eher argwöhnisch beäugt wurden. Im Gegensatz zu »Justiz und NS-Verbrechen«, eine von der Universität Amsterdam veröffentlichte vielbändige Sammlung von Gerichtsurteilen zu NS-Verbrechen, geht es hier nicht um die Prozesse selbst, sondern um deren öffentliche Wahrnehmung.

Vom ersten Prozess gegen die Mörder im KZ Bergen-Belsen 1945 über Nürnberg, den Auschwitz- und den Ulmer Einsatzgruppenprozess, den Eichmann-Prozess sowie den Waldheimer Prozessen bis hin zur Verurteilung des KZ-Arztes Horst Fischer 1966 in Berlin (Ost) wird Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik und in der DDR vergleichend analysiert. Abgerundet wird das Buch mit einer Zusammenfassung der bundesdeutschen Verjährungsdebatte sowie einem Blick über die Grenze nach Österreich.

Niemals wieder wurde so viel ermittelt wie in den Jahren der alliierten Besetzung Deutschlands; Militärtribunale räumten in allen Besatzungszonen auf. Nach der Gründung beider deutscher Staaten ebbte diesbezügliches Engagement ab. Weite Teile der deutschen Bevölkerung waren mit dem NS-System eng verstrickt. Der Eifer bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen sei daher eher begrenzt gewesen, so die Verfasser.

Die deutsche Öffentlichkeit schieb alle Verantwortlichkeit auf die SS und die kleine Führungsclique um Hitler, die ja bereits in Nürnberg abgeurteilt war. Warum noch die kleinen Übeltäter bestrafen? So dachte man wohl in weiten Teilen der Bevölkerung. Zumindest hat man diesen Eindruck, wenn man diesen Band liest – wobei hier nicht immer klar wird, ob es sich um Reaktionen aus der DDR oder der Bundesrepublik handelt und ob es in beiden Staaten gleichermaßen diese Verdrängungsstrategien gab. Die Demoskopie steckte noch in den Kinderschuhen. In der Bundesrepublik gab es zwar einige, im Buch zitierte, Umfragen des frisch gegründeten Allensbach Instituts. In der DDR wird von den Autoren zur Untermauerung ihrer These der Schlussstrichmentalität aus Stasi-Berichten zitiert.

Fakt ist, dass in der Bundesrepublik alte Nazis zunächst weniger zu befürchten hatten und, so sie doch vor Gericht landeten, auf sehr nachsichtige Richter stießen. Aktiv in der Strafverfolgung wurden in der Bundesrepublik nur wenige Juristen, wie der Generalstaatsanwalt von Hessen Fritz Bauer. Mit der Gründung der noch heute bestehenden Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg wurden dann die Ermittlungen zentralisiert und professionalisiert. Dort nahm man die Aufgabe der Ahndung von NS-Verbrechen sehr ernst.

In der DDR sah man sich als den antifaschistischen Teil Deutschlands, aus dem die meisten Nazis westwärts geflüchtet waren. Die strafrechtliche Aufarbeitung hatte nicht die höchste Priorität. Die meisten Prozesse gegen Naziverbrecher wurden in den späteren Jahren nicht an die große Glocke gehängt, sondern eher im Lokalteil der Zeitungen abgehandelt. Im »Neuen Deutschland« wurde schon Ende 1949 eine Stellungnahme von Antifaschisten mit der Überschrift »Wir reichen euch die Hände« veröffentlicht. Walter Ulbricht meinte, es gebe drängendere Probleme. Und ein sächsischer Innenminister in der DDR soll sogar verkündet haben, ihm seien ehemalige Nazis lieber, als jene Zeitgenossen, die »aus Lauheit« nicht Nazi geworden seien.

Dennoch wurden in der DDR doppelt so viele NS-Täter als in der Bundesrepublik verurteilt. Dies in Proportion zur jeweiligen Bevölkerungszahl gesetzt und eingedenk der Fluchtbewegung von strammen Nazis nach 1945 von Ost nach West verdient Anerkennung – auch wenn die Verfahren in der DDR nicht immer an rechtsstaatlichen Grundsätzen zu messen sind, standen doch dort alsbald Justiz und Medien im Dienste der SED-Propaganda. Die Waldheimprozesse bei denen 3400 Menschen im Schnellverfahren abgeurteilt wurden, waren eine Farce. Und Wärterinnen des KZ Ravensbrück wurden wegen Morden in Gaskammern verurteilt, obwohl es zu dem Zeitpunkt, als sie dort tätig waren, überhaupt noch keine gab.

Jörg Osterloh/Clemens Vollnhals (Hg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 456 S., geb., 62,95 €.

* Aus: Neues Deutschland, 22. September 2011


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