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Novemberperspektiven

Über den 4.11. und den 9.11.1989 – und über das, was jenen Tagen vorausging

Von Erhard Crome *

Geschichte experimentiert nicht. In den historischen Kämpfen tritt stets nur das zutage, was in der jeweiligen geschichtlichen Konstellation bereits angelegt ist: an materiellen und politischen Kräften, Ideen, Programmen und Perspektiven. Die einen Auseinandersetzungen zur Tragödie und andere zur Farce zu erklären, ist unter dem Blickwinkel der weltphilosophischen Interpretation sicher berechtigt, verkennt jedoch, dass es in allen Fällen um Sieger und Besiegte geht, Opfer und Täter, die Schließung der einen geschichtlichen Pfade und die Öffnung anderer. Die sich zu den Siegern der Geschichte erhöhen, sind oft die, die bei der nächsten Wendung tief fallen.

Geschichte war nicht nur offen, sie ist und bleibt offen. An manchen Tagen aber zeigt sich dies in besonderem Maße, wenn nämlich die bisher Herrschenden nicht mehr in der alten Weise herrschen können, die bisher Beherrschten nicht mehr wie bisher beherrscht sein wollen und dies plötzlich offen sichtbar wird. In der deutschen Geschichte waren der 4. und der 9. November 1989 solche Tage.

Der Ausgangspunkt

Zwanzig Jahre danach wird in der offiziösen politischen Sichtweise der Eindruck zu erwecken versucht, als sei mit dem »realen Sozialismus« ein böser Feind vertrieben worden, der von außen kam. Aber war die Idee, eine völlig andere Gesellschaft zu schaffen, die mit den kapitalistischen Verhältnissen bricht, nicht aus diesen selbst hervorgewachsen?

Die »alte Welt« Europas ging mit dem Ersten Weltkrieg unter. Er war das einschneidende Ereignis des 20. Jahrhunderts. Die russische Oktoberrevolution war ein sozialhistorischer Vorgang, der folgerichtig aus den Gemetzeln des Ersten Weltkrieges hervorging. Bereits lange vorher war geistiges Allgemeingut innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung, dass die furchtbaren Störungen und Verwüstungen, die ein europäischer Krieg anrichten werde, auf eine große Katastrophe hinauslaufen muss, die die bürgerliche Gesellschaft in den Abgrund reißt. In diesem Sinne erschien der Erste Weltkrieg als die erwartete, vom Kapitalismus und seinem Imperialismus hervorgerufene Katastrophe, aus der es nur einen Ausweg geben konnte, den »Sozialismus«.

Die Analyse aus kommunistischer Sicht kam zu dem Ergebnis: »Der imperialistischen Politik, die die ›Großmächte‹ führten, musste früher oder später der Zusammenstoß folgen. Es ist ganz klar, dass diese räuberische Politik aller ›Großmächte‹ die Kriegsursache war.« Der Krieg »musste ein Weltkrieg werden«, weil alle Mächte »miteinander durch die gemeinsame Weltwirtschaft verbunden« waren. So war Konsequenz: »Allgemeine Auflösung oder Kommunismus? Die sich entwickelnde Revolution wird aus denselben Gründen zu einer Weltrevolution, aus welchen der imperialistische Krieg zum imperialistischen Weltkrieg wurde.« (N. Bucharin, E. Preobraschensky: Das ABC des Kommunismus)

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist anders verlaufen. Die Weltrevolution blieb aus, der reale Sozialismus war zunächst auf die Sowjetunion beschränkt. Die russischen Bolschewiki, einmal an der Macht, waren aber nicht bereit, ihre Fahne wieder einzurollen und nach Hause zu gehen, sondern verteidigten ihre Macht mit allen Mitteln. Auf Geheiß Lenins lösten sie im Januar 1918 die gewählte parlamentarische Vertretung Russlands auf. Damit blieb der errichteten Sowjetmacht, sodann jeder seither errichteten Macht kommunistischen Typs, der Verzicht auf die Gewinnung der numerischen Mehrheit innerhalb der »eigenen« Bevölkerung eingeschrieben. Die revolutionäre Partei verwandelte sich in die allgegenwärtige Staatspartei. Der reale Sozialismus nahm schließlich die durch Stalin geprägte Gestalt an und wurde in dieser im Gefolge des Zweiten Weltkrieges auf andere Länder im Osten Europas ausgedehnt.

Bereits kurz nach der russischen Oktoberrevolution betonte Rosa Luxemburg die marxistische Position von der »Diktatur des Proletariats«, unterstrich jedoch, dass diese das Werk der Arbeiterklasse »und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse« sein dürfe. Genau dies aber warf sie den Führern der russischen Revolution, Lenin und Trotzki, vor: die Abschaffung der Demokratie, die zu einem »Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande« und schließlich zu einer Diktatur, nicht des Proletariats, sondern »einer Handvoll Politiker« führen werde. (R. Luxemburg: Zur russischen Revolutioni)

In Kronstadt – Hafen und Garnisonsstadt in der Nähe von Petersburg, das bis 1918 Hauptstadt Russlands war – lebten vor allem Arbeiter und waren Tausende Soldaten und Matrosen stationiert, die seit 1917 aktiv die Oktoberrevolution unterstützt hatten. Hier brach im März 1921 der erste Arbeiteraufstand gegen die einseitige Herrschaft der Partei Lenins aus, eben wegen der fehlenden demokratischen Mitwirkungsrechte: Wenn schon Herrschaft der Arbeiter, dann der Arbeiter selbst. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, zur »Konterrevolution« erklärt.

Die Begründung für den »realen Sozialismus« im Osten Europas war stets ideologisch. Im Zentrum stand das Versprechen, die »sozialistische« Welt werde grundlegend unterschieden sein von der des Kapitalismus, mit einem höheren Maß an Selbstbestimmung für die Menschen und einer höheren Arbeitsproduktivität. Unter der Voraussetzung der von Lenin und später von Stalin geprägten Partei wurde das erstere nicht nur nicht erreicht, sondern eine systematische Kontrolle und Unterdrückung der Individuen organisiert. Die Millionen Opfer des Systems der Straflager waren Ausdruck dessen.

Dennoch erhielt sich in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung die Hoffnung auf die bessere Welt, die Bedingung des sozialistischen Aufbaus in den Anfangsjahren war, als Erwartung der höheren Arbeitsproduktivität, die ein besseres Leben bringen werde. Seit den 1950er Jahren drehte sich das dann um: Die unmittelbare Kontrolle über die Menschen wurde reduziert, die Erreichung der höheren Arbeitsproduktivität aber rückte in weite Ferne. War der wirtschaftliche Abstand zu den entwickelten Ländern des Westens bis in die 1960er Jahre geringer geworden, so vergrößerte er sich danach wieder. Die Glaubwürdigkeit der ursprünglichen Versprechungen nahm ab, je länger der »reale Sozialismus« existierte.

Das von Rosa Luxemburg kritisierte Fehlen demokratischer Verhältnisse blieb das Hauptproblem der Gesellschaften des »realen Sozialismus«. Der erste Aufstand nach der Konstituierung des »sozialistischen Lagers«, wie es damals und im Kontext des Kalten Kriegs hieß, brach am 17. Juni 1953 in der DDR aus. Auch hier waren es wieder vor allem Arbeiter, die aufbegehrten. Da der Sieg über das faschistische Deutschland nur acht Jahre zurück lag, Deutschland gespalten war und unter Besatzungsrecht stand, wurde dieser Aufstand von sowjetischen Truppen niedergeschlagen und als »faschistischer Putsch« bezeichnet.

Im Juni 1956 gab es Streiks und Proteste im polnischen Poznan, woraufhin die polnische Partei ihre Politik änderte. In Ungarn brach Ende Oktober 1956 ein Volksaufstand aus, der von sowjetischen Truppen unterdrückt wurde. 1968 machte die Führung der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei den Versuch, die Gesellschaft demokratisch zu öffnen. Wiederum reagierte die Moskauer Führung mit dem Einmarsch sowjetischer und anderer Truppen des Warschauer Vertrages.

Als Anfang der 1980er Jahre Streiks und Unruhen in ganz Polen begannen, getraute sich die sowjetische Führung nicht mehr, militärisch zu intervenieren. Sie hatte bereits genug Probleme mit dem kurz zuvor erfolgten Einmarsch in Afghanistan und konnte sich nicht sicher sein, wie die Lage in Polen eskalieren würde. Die polnische Regierung versuchte, durch Verhängung des Ausnahmezustandes die Lage unter Kontrolle zu bekommen, scheiterte damit jedoch letztlich. Starke Organisationen der Opposition in Polen, die von der katholischen Kirche unterstützt wurden, standen der Partei und dem Staat gegenüber. Die einen konnten die Macht nicht übernehmen, weil die anderen über das Militär und die Waffen verfügten; diese wiederum konnten ihre Macht nicht in der früheren Weise wiederherstellen, weil die Unterstützung in der Bevölkerung dafür fehlte. In dieser Situation einigten sich die Führer beider Seiten darauf, einen Kompromiss zu schließen. Im Sommer 1989 war der »Runde Tisch« Synonym für das Abgeben der Macht der Staatspartei kommunistischen Typs an eine gewählte Regierung, erst in Polen, dann auch in anderen Ländern, darunter schließlich der DDR.

Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion hatten keine Verbesserung der Lage im Lande, aber eine veränderte Politik der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow mit sich gebracht. Sowjetische Truppen standen zur Erhaltung der Macht der »Bruderparteien« nicht mehr zur Verfügung. Die Entwicklung in Polen hatte die Machtgrundlagen auch der anderen kommunistischen Staatsparteien im Osten Europas erschüttert. Die seit 1988 in Ungarn regierende Reformergruppe wollte die Bewegungsmöglichkeiten des Landes in der europäischen Politik vergrößern und ging davon aus, dass eine deutsche Vereinigung dazu führen werde, dass »die Russen« sich auch aus Ungarn verabschieden.

Eine Perle in der Krone

Die DDR war »die Perle in der Krone« des sowjetischen Herrschaftsgefüges in Europa (Wojciech Jaruzelski: Hinter den Türen der Macht). Insofern war es kein Zufall, dass die Mauer in Berlin fiel, nachdem sich die Umbrüche in Polen und Ungarn vollzogen hatten. Deren »Weg nach Europa«, d. h. weg von der sowjetischen Dominanz, aber war tatsächlich frei, nachdem diese Mauer gefallen war. Insofern kam den Entwicklungen in der DDR im Herbst 1989 eine gewisse Schlüsselfunktion zu.

War Partei- und Staatschef Erich Honecker nach dem 1. Mai 1989 noch der Auffassung, die massenhafte Teilnahme an der Maidemonstration in Berlin sei Zustimmung zu seiner Politik, so sollte sich die Lage rasch ändern. Bereits am 7. Mai 1989 fanden die Kommunalwahlen statt, die dann als gefälschte ausgemacht werden konnten. Dies blieb eine offene Wunde des Herrschaftssystems der SED, die sich bis zur »Wende« nicht schließen ließ.

Die sich beschleunigende Ausreisewelle aus der DDR im Sommer 1989 über Ungarn und verschiedene Botschaften der Bundesrepublik wurde von Honecker mit dem in einen ND-Kommentar vom 2. Oktober hineinredigierten Satz versehen, man werde den Flüchtlingen »keine Träne nachweinen«. Die Antwort waren die Rufe auf der Leipziger Montagsdemonstration am Abend des 2. Oktober: »Wir bleiben hier«, die mit Forderungen nach Meinungsfreiheit und Reformen verbunden waren. Fortan äußerten sich die öffentlichen Willensbekundungen immer stärker in Demonstrationen. War es am 4. Oktober noch zu massiver Gewaltanwendung gegen Demonstranten am Dresdner Hauptbahnhof gekommen und am 7. Oktober, dem Staatsfeiertag, in Berlin, so lastete ein gewaltiger Druck auf der erwarteten Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Trotz der großen Angst vor einem Gewalteinsatz nahmen etwa 75 000 Menschen an der Demonstration teil, und es wurde erreicht, dass keine Gewalt angewendet wurde. Damit war das Demonstrieren zu einem faktischen Recht der Bürger geworden.

An der friedlichen Demonstration und der Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 nahmen dann etwa 700 000 Menschen teil. Die Berliner Theater hatten die Veranstaltung nach Recht und Gesetz angemeldet, der Anwalt Gregor Gysi hatte dabei geholfen.

Die Risse, die durch die Gesellschaft gingen, waren auch Risse durch die SED und die anderen Parteien. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch die aus der DDR kommenden Linken in Deutschland sich heute auf diese Ereignisse berufen. Sie waren Teil jener Auseinandersetzungen. Die Schauspielerin Steffie Spira hatte den Schlusspunkt gesetzt auf der Kundgebung, mit den berühmten Sätzen aus Brechts »Lob der Dialektik«, aus denen sie dialektisch gefolgert hatte, Fahnenappell und Staatsbürgerkunde sollten der Vergangenheit angehören und das Politbüro sollte abtreten. In ihren Tagebuchaufzeichnungen über jene Tage ist über die Vorbereitung der öffentlichen Bekundung zu lesen: »Man nimmt mich als Abgesang«, aber mit dem Nachsatz: »weil ich auch mit ein wenig Humor und Schlagfertigkeit spreche. Ich habe eben Einfälle.« Sie war 1931 in die KPD eingetreten und blieb auch nach der »Wende« in der PDS. Ihr Standpunkt der Kritik war nicht die Ablehnung des kommunistischen Ideals, sondern dass die SED-Führung dieses verraten hatte, und sie sprach dort nicht obwohl, sondern weil sie sich als Kommunistin verstand.

Der Höhepunkt der Demonstrationen war erreicht. Die SED-Führung unter Egon Krenz versuchte die Verhältnisse zu stabilisieren, aber der politische Druck im Lande verstärkte sich. Vom 8. bis 10. November 1989 tagte das Zentralkomitee der SED, um über die Lage zu diskutieren. Zum neuen Stil gehörte, dass Politbüromitglied Günter Schabowski auf abendlicher Pressekonferenz über die Ergebnisse der ZK-Tagung berichtete und Fragen von Journalisten beantwortete. So kam es zu der berühmten Pressekonferenz am 9. November 1989, die vom DDR-Fernsehen live übertragen wurde. Hier machte Schabowski um 18.53 Uhr »nebenbei« die Mitteilung, dass die SED-Spitze beschlossen habe, eine Regelung zu treffen, die »die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik«. Dann verlas er die neue Reiseregelung. Ab wann die gelte? »Sofort, unverzüglich.«

Die Grenzflutung

Die Nachrichtensendungen des westdeutschen Fernsehens, das von den meisten DDR-Bürgern gesehen werden konnte, brachten ihrerseits diese Mitteilung, die ARD-»Tagesschau« um 20 Uhr, als Spitzenmeldung. Um 20.15 begannen sich die ersten Berliner an den Grenzübergängen zu sammeln, acht bis zehn Menschen Sonnenallee, zwanzig Invalidenstraße, etwa fünfzig Bornholmer Straße. Dort war es gegen 21 Uhr bereits eine Menschenmenge; die ersten wurden dann 21.20 Uhr »kontrolliert« nach Westberlin gelassen. Gegen 22.30 Uhr waren wegen des Ansturms Kontrollen nicht mehr möglich. »Wir fluten jetzt«, meldete der zuständige Kommandeur des Übergangs Bornholmer Straße seinen Vorgesetzten.

Die zuständigen Politbüromitglieder, Minister und Generäle, die auch an der ZK-Tagung teilgenommen hatten, waren nicht etwa alarmiert und in ihren Stäben, wie beim Bau der Mauer 1961, sondern ruhten sich zu Hause von der anstrengenden Sitzung aus. Die Offiziere vor Ort hatten keine Befehle, und entschieden sich, keine Gewalt anzuwenden, wie auch gegen alle Demonstranten seit dem 9. Oktober keine Gewalt angewendet worden war. Es bedurfte nicht nur derer, die gegen die Tore drücken, sondern es musste sie auch jemand öffnen. Die Berliner hatten die Mauer aufgedrückt, ohne auf Genehmigungen der Behörden zu warten. In der Folgezeit wurde aus »Wir sind das Volk« dann »Wir sind ein Volk«.

Es bleibt: Am 9. November 1989 fiel kein Schuss. Die Nachkriegsordnung, die so fest schien, brach zusammen. Der Sozialismus, wie er sich seit 1917 in Europa entwickelt hatte, war am Ende. Er war die falsche Antwort auf die Fragen, die der real existierende Kapitalismus aufwirft. Damit aber sind diese Fragen nicht erledigt, sondern im 21. Jahrhundert auf neue Weise offen.

* Dr. habil. Erhard Crome ist Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin.

Aus: Neues Deutschland, 7. November 2009



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