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Deutschland, ein Menschenrechtsmärchen

Deutschlands Bericht für den UN-Menschenrechtstrat läßt jegliche Selbstkritik vermissen *

29. Januar 2009 - Deutschlands Bericht für den UN-Menschenrechtstrat läßt jegliche Selbstkritik vermissen / Amnesty äußerst Kritik u.a. bei Terrorismusbekämpfung, Polizeigewalt, Flüchtlings- und Asylpolitik / Bericht wird am 2.2. 2009 in Genf verhandelt.



Einen eklatanten Mangel an Selbstkritik hat Amnesty International der Bundesregierung bei der Beurteilung der deutschen Menschenrechtspolitik vorgeworfen. "Liest man den jetzt vorgelegten Bericht, leben wir Deutschen, aber auch alle Flüchtlinge und Migranten, hier in einem menschenrechtlichen Wunderland", sagte die Amnesty-Expertin für die Vereinten Nationen Silke Voss-Kyeck. "Die Chance, Defizite offensiv zu benennen, frühzeitig den Austausch mit der Zivilgesellschaft zu suchen und ernsthaft an der Verbesserung der Menschenrechtslage im eigenen Land zu arbeiten, ist dieses Mal vertan worden."

Im Rahmen des neuen "universellen periodischen Überprüfungsverfahrens" (UPR) muss Deutschland am 2. Februar in Genf vor den Mitgliedsstaaten des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen darlegen, wie es Verpflichtungen aus internationalen Menschenrechtsabkommen einhält und umsetzt. Die nächste Überprüfung findet spätestens in vier Jahren statt.

Die wichtigsten Kritikpunkte von Amnesty International:

Die Bundesregierung strebt zunehmend so genannte diplomatische Zusicherungen an. "Damit verletzt sie ihre internationalen Verpflichtungen, auch Terrorverdächtige nicht in ihr Heimatland abzuschieben, wenn ihnen dort Misshandlung, Folter oder ein unfaires Verfahren droht", sagte Voss-Kyeck.

Mitarbeiter deutscher Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden haben Verdächtige, die die CIA zuvor entführt und in Foltergefängnisse ausgeflogen hatte, verhört, obwohl die Umstände der Haft offensichtlich rechtswidrig waren. Dies wurde im BND-Untersuchungsausschuss offenkundig. Welche Konsequenzen die Bundesregierung daraus zieht, ist nicht bekannt; sie hat die diesbezüglichen neuen Richtlinien nicht veröffentlicht. Deutsches Territorium und deutscher Luftraum wurden für derartige CIA-Flüge genutzt. "Die Ermittlungen des EU-Parlaments und des Europarats hierzu haben deutsche Behörden eher behindert als sie, wie erbeten, aktiv zu unterstützen", sagte Voss-Kyeck.

Amnesty erhält nach wie vor glaubhafte Berichte, dass Menschen in Deutschland von Polizisten misshandelt werden. Jüngere Beispiele sind die Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007, aber auch der Tod von Ö. am 5.3.2008 in Hagen oder die diskriminierende Behandlung von Wanderarbeitern an der deutsch-polnischen Grenze.

Während dieses Jahr selbst im Winter Hunderte von Flüchtlingen und Migranten jeden Tag bei der Überquerung des Mittelmeers ihr Leben riskieren, weicht die Bundesregierung einem klaren Bekenntnis zur Geltung des Abschiebungsverbots auch außerhalb der Zwölfmeilenzone aus, wenn die Betroffenen in ihrer Heimat verfolgt werden. "Deutschland ist verpflichtet, alle Menschen zu schützen, die der deutschen bzw. der EU-Gerichtsbarkeit unterliegen - auch wenn sie sich außerhalb ihres Hoheitsgebiets befinden; wir fordern die Bundesregierung auf, dies ohne Einschränkung anzuerkennen", sagte Voss-Kyeck.

Besonders gefährdet sind die Menschenrechte von Menschen, die in Deutschland ohne gültige Aufenthaltspapiere leben. Da ein Kontakt mit einer deutschen Behörde eine Meldung an das Ausländeramt bedeuten kann, gehen solche Migranten oft nicht zum Arzt, schicken ihre Kinder nicht in Schule, müssen gefährlichen und gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten nachgehen und am Arbeitsplatz wehrlos Diskriminierungen über sich ergehen lassen. "Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass Maßnahmen gegen illegale Einwanderung nicht den Zugang zur medizinischen Grundversorgung, zu Bildung und zur Justiz beeinträchtigen. Die Bestimmung im Aufenthaltsgesetz, nach der öffentliche Stellen die Ausländerbehörde über die Identität eines irregulären Migranten zu informieren haben, muss für alle Stellen, die soziale Dienste leisten, sowie für Gerichte unverzüglich aufgehoben werden", forderte Voss-Kyeck.

* Quelle: www.amnesty.de

Berliner Märchen

Von Olaf Standke **

Der 2006 ins Leben gerufene Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen erlebt heute in Genf eine Premiere: Erstmals präsentiert die Bundesregierung im Rahmen der turnusmäßigen Staatenüberprüfung ihren Länderbericht. Die Mitglieder des 47-Staaten-Gremiums haben anschließend Gelegenheit, die Berliner Vertreter zu befragen. Welche Empfehlungen sie mit Blick auf die Achtung der Grundfreiheiten und Bürgerrechte in der Bundesrepublik aussprechen, bleibt abzuwarten. Nichtregierungsorganisationen hierzulande haben sich schon entsetzt über den Report gezeigt.

Von einem Menschenrechtsmärchen spricht etwa Amnesty International und beklagt, dass die Chance, den Austausch mit der Zivilgesellschaft zu suchen, um Defizite im eigenen Haus offensiv zu benennen und ernsthaft abzubauen, kläglich verschenkt worden sei. Ein eklatanter Mangel an Selbstkritik prägt den Report, so als gebe es in Deutschland keine Misshandlung durch die Polizei, keine Diskriminierung von Flüchtlingen, keine Verstrickung in den Anti-Terrorkrieg der USA. Ganz zu schweigen von den alltäglichen Missständen, wenn es um Armut, Gleichberechtigung oder Bildung geht. Diplomaten in Genf betonen gern, dass die Glaubwürdigkeit eines verstärkten Menschenrechtsprozesses davon abhänge, ob die Staaten die Empfehlungen den UN-Rats auch umsetzen. Doch sie beginnt schon beim propagierten Selbstbild.

** Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2009 (Kommentar)




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