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Streit um des Kaisers Bart

War die DDR eine totalitäre oder kommode Diktatur?

Von Karlen Vesper *

Die DDR war groß, aber die Bundesrepublik ist größer – in der Zelebrierung geschichtspolitischer Kampagnen. Drei Jahre wird nun schon gefeiert, erinnert und gedacht: 2009 dem Mauerfall, im Folgejahr der deutschen Einheit und nun dem Bau der Mauer vor 50 Jahren. Ein Gedächtnis- und Erinnerungsmarathon, dessen strahlende Sieger die mit reichlich finanziellen Mitteln ausgestatteten Institutionen und Gedenkstätten sowie Geschichtsprofessoren und -doktoren, zumeist westdeutscher Provenienz, sind. Auf der Strecke bleiben ermattet und genervt die Ostdeutschen, die allseits beäugt, bewertet und belehrt, sich nicht mehr wiedererkennen und Gefahr laufen, schizophren zu werden.

Der bereits unüberschaubaren Masse an Publikationen über die DDR sind in den letzten drei Jahren weitere unzählige Bücher hinzugefügt worden, die scheinbar alle Facetten des Lebens im einstigen Arbeiter- und Bauern-Staat ausleuchten (bis hin zur »Trunksucht«). So viel Literatur gab's noch nie über ein Land, zumal über ein solch kleines wie die DDR. Wer soll das alles konsumieren? Auf zwei Bände sei hier dennoch aufmerksam gemacht, da sie eine Art Kompendium sein wollen, in ihrer Art ähnlich und doch grundverschieden sind. Da ist zum einen der unter der Ägide von Martin Sabrow, 1954 in Kiel geboren und seit 2004 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, entstandene Band »Erinnerungsorte der DDR«, der an eine vom französischen Historiker Pierre Nora begründete Methodik (»lieu de mémoire«) anknüpft; zum anderen ein Mauer-Band, herausgegeben von Klaus-Dietmar Henke, Jg. 1947, der von München über die Gauck-Behörde ins Direktorenamt am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden gelangte.

Während Sabrow sich mit der Etikettierung der DDR als bloßem »Unrechtsstaat« nicht zufrieden geben will, gibt es für Henke keinen Zweifel, dass im Osten 40 Jahre lang »kommunistische Willkür« herrschte. Weshalb er denn auch in seiner Rezension dem Band des Zunftkollegen »nostalgische bis mulmige Reminiszenzen« unterstellte. Weil dessen Autoren nicht nur der Repressions-, sondern auch Alltags- und Kulturgeschichte Aufmerksamkeit schenken, an Frauentag und Jugendweihe, Palast der Republik und Tag der Republik, Brigadefeiern, Kollektiv und Kinderkrippe, »Platte«, Ostseeurlaub, FKK und DSF, Trabant, Puhdys, Blauhemd und Bückware, Sandmännchen, Sparwasser-Tor, Westpaket und Intershop erinnern. Eben all das, was das Leben eines DDR-Bürgers ausmachte. Dabei bietet auch der von Henke verantwortete Band kulturhistorische Reflexionen, so über die Mauer in der Literatur, im Spielfilm, in Malerei und Grafik sowie deren »Nachleben« als Betonfragmente in Metropolen der Welt. Dennoch setzt das zum 50. Jahrestag des Mauerbaus erschienene Produkt von Henke den Schwerpunkt mehr auf politische Geschichte als das den Anfang vom Ende der DDR zum Anlass nehmende Werk von Sabrow. Henke lässt Berlin-Krise, Ulbricht und die Mauer, CIA, BND, MfS und 13. August, Grenzregime und »Fluchtverhinderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe« etc. erörtern.

Natürlich fehlen im Sabrow-Band nicht die repressiven Seiten, die sowjetischen Speziallager, Bautzen, Stasi, Zensur und die Allmacht der »führenden« und »immer Recht habenden« Partei. Hier werden aber auch Antifaschismus und andere Motive der Identifikation der DDR-Bürger mit »ihrem« Staat (etwa soziale Einrichtungen) diskutiert. Wider eine »oberflächliche erinnerungspolitische Ausgewogenheit«, die »gute und böse« Orte austariere oder den »Topoi des Diktaturgedächtnisses« verdränge, will Sabrow »die Konflikthaftigkeit und die innere Spannung des vielstimmigen Umgangs mit der schwierigen DDR-Vergangenheit« einfangen. Er meint zudem: »Auf die Frage, ob die DDR ein fehlgeschlagenes Experiment, eine kommode Diktatur mit vielen Nischen oder eine totalitäre Diktatur war, gibt es gegenwärtig und in absehbarer Zukunft keine einheitliche Antwort.« Die DDR sei weiterhin Kampfplatz der Erinnerungen. »In einem tripolaren Kräftefeld zwischen Diktaturgedächtnis, Arrangementgedächtnis und Fortschrittsgedächtnis wird die DDR-Vergangenheit täglich neu verhandelt«, schreibt Sabrow. Eben dies will Henke nicht wahrhaben, dies bestreitet er vehement.

Nun ist dessen Buch aber auch lediglich einem Segment der DDR-Geschichte, wenn auch wesentlichem gewidmet. Die Mauer war zwar gegenwärtig, aber nicht allgegenwärtig im Leben der DDR-Bürger. Jene beschäftigte wahrlich nicht tagein, tagaus nur das schändliche Bauwerk vor ihrer Nase respektive weit ab von ihnen. Zum anderen sind die Urteile über diese »deutsche Marke«, wie Henke die Mauer tituliert, innerhalb der heutigen deutschen Gesellschaft durchaus nicht so grundverschieden wie parteipolitischer Schlagabtausch suggeriert. Wer wagt es ernsthaft zu behaupten, die Mauer sei schön und segensreich gewesen, quasi ein Glücksfall der Geschichte? Das haben selbst Ulbricht und Honecker nicht getan. In Henkes Buch nennt Sebastian Richter 2001 das Schlüsseljahr »für die Mauer-Erinnerung als geschichtspolitischen Fingerabdruck der Bundesrepublik«; es überwiege nunmehr, einschließlich Linkspartei, Konsens die Differenzen. Hermann Wentkers Aufgabe ist es dahingegen, rückwirkend Ost- und West-Bischöfe wie Ost- und West-Politiker »geschichtsvergessen« zu schimpfen, weil diese in ihren Entspannungsbemühungen die Mauer als Faktum hinnahmen.

Während sich Henke auf ein »wundervolles Team« stützt, das sich seit Jahren der Ausgestaltung der Gedenkstätte Berliner Mauer widmet, ist Sabrows Mannschaft bunter zusammengesetzt. Er zählt zu seinen Autoren u. a. den »Ständigen Vertreter« Hans-Otto Bräutigam, den ehemaligen Rektor der Schauspielhochschule »Ernst Busch«, Wolfgang Engler, und die ehemalige Bürgerrechtlerin und nunmehrige Hüterin der Brandenburger Stasi-Akten Ulrike Poppe (aber auch Gauck und Templin). Autoren ostdeutscher Herkunft sind in beiden Bänden unterrepräsentiert. Sabrow kann mit prominenteren Namen punkten. Die Aufsätze sind jeweils so verschieden wie die Erlebnis- und Erfahrungswelt sowie Akribie der Verfasser. Für beide Bände schrieb ein in Magdeburg geborener »Ami«: Konrad H. Jarausch. Im Sabrow-Band reflektiert er den Umbruch 1989/90, bei Henke sinniert er über den Checkpoint Charlie, »ein populärer Brennpunkt des Heritage-Tourismus«. Beide Herausgeber bleiben dem Diktatur-Diskurs verhaftet. Die Frage, die sie entzweit, lautet: War die DDR eine totalitäre oder durchaus kommode Diktatur? Das mag manchem als ein Streit um des Kaisers (oder Ulbrichts) Bart erscheinen. Indes: Vive la petite difference! Der kleine Unterschied kann mitunter groß sein.

»Die DDR ist Vergangenheit und doch in mancher Hinsicht gegenwärtiger denn je«, konstatiert Sabrow. Er versteht, dass die DDR noch heute Denken und Mentalität der Ostdeutschen prägt, aber auch die Westdeutschen und nicht minder die Generation der Nachgeborenen – woran sich Henke in erwähnter Rezension ebenfalls stieß. Dabei vermutet auch jener, bezüglich sein Sujet: »Das immaterielle Nachleben der Mauer und ihrer kaum glaublichen Geschichte wird unendlich viel länger währen als ihre materielle Existenz.«

Interessant ist, was Henke im Vorwort zu seinem Band bemerkt: »Mauern sind jedermann geläufige Kulturzeugen, Schutz verheißende Umfriedungen. Die Stadtmauer von Babylon zählte ursprünglich zu den Sieben Weltwundern. Die Bastionen des Limes oder der Großen Mauer in China zogen die Grenze zwischen Barbarentum und Zivilisation. Die Mauer von Jericho gewann ihren mythischen Rang überhaupt erst durch ihren wundersamen Fall. Unzählige Mauern wurden im Laufe der Jahrtausende im Namen dieser oder jener Sache von innen oder von außen, tatsächlich oder metaphorisch, erstürmt, eingerissen oder geschleift.« – In diesem Sinne wird die Berliner Mauer gewiss nicht die letzte gewesen sein.

Martin Sabrow (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. C.H. Beck, München. 619 S., geb., 29,90 €.

Klaus-Dietmar Henke (Hg.): Die Mauer. Errichtung. Überwindung. Erinnerung. dtv, München. 608 S., geb., 24,90 €.


* Aus: Neues Deutschland, 10. August 2011


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