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50 Jahr Berliner Mauer: Die Alternative hieß Krieg

Neue Bücher von Frederick Kempe sowie von Heinz Keßler und Fritz Streletz (zwei Buchbesprechungen)


Am 13. August 1961 fand die deutsche Teilung - die vor allem auf die Westintegrationspolitik der USA zurückgeht und spätestens mit der Remilitarisierung und der Bundesrepublik und deren Beitritt zur NATO besiegelt war - mit dem Bau der Berliner Mauer einen besonders markanten Ausdruck. Die Meinungen über die Motive der damaligen DDR (hinter der die Sicherheitsinteressen der UdSSR standen) zum Mauerbau gehen seither weit auseinander. Interessant an den beiden Büchern, die im Folgenden rezensiert werden, ist, dass sie in einem wichtigen Punkt zu demselben Ergebnis kommen, obwohl der Standpunkt ihrer Verfasser höchst unterschiedlich ist.

Bobby an JFK: Lass uns aus Berlin abhauen!

Auch der US-amerikanische Autor Frederick Kempe ist überzeugt: Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben

Von Karlen Vesper *


Wenn das keine Überraschung ist! Ein US-amerikanischer Politikberater vertritt die gleiche These wie der letzte Verteidigungsminister der DDR und dessen Vize: Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben.

Freilich, Frederick Kempe, Präsident des Atlantic Council, eines außenpolitischen Thinktanks in Washington, setzt andere Akzente und unterscheidet sich in Wertungen von Heinz Keßler und Fritz Streletz. Der Journalist, der für das »Wall Street Journal« schrieb, kann aber für die 1961 erfolgte Lösung der Westberlin-Frage ebenso keine andere, reale Alternative ausmachen. Er sagt sogar: »Kennedy hat das Skript geschrieben, er hat die entsprechenden Signale an Chruschtschow ausgesandt.«

Unter den Linden in Berlin, wo früher das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR stand, stellte der Gast aus Überseesoeben sein Buch vor, dessen Titel Chruschtschow zitiert: »Berlin ist der gefährlichste Ort der Welt.«

Für John F. Kennedy war sein Bruder Robert einer der wichtigsten Vertrauenspersonen. Als JFK »Bobby« fragte, wie man im leidigen Berlin-Problem entscheiden solle, habe dieser damals geantwortet: »Abhauen.« Das wäre auch »John« am liebsten gewesen, meint Kempe. Die ehemalige deutsche »Reichshauptstadt« war den Kennedys egal – nicht aber die »Freiheit Westeuropas«.

Der Schriftsteller Peter Schneider, der 1962 nach Westberlin kam, erinnert sich an die Enttäuschung der »Insulaner« über die Gleichgültigkeit des »mächtigsten Mannes der Welt« gegenüber ihrem Schicksal. Damals sei die Wut über »das schändliche Bauwerk« in der Stadt noch groß gewesen. Mit den Jahren habe man sich an die Mauer gewöhnt. Für Linke sei sie nie ein Thema gewesen, »das war Springers Wiese«.

Anfang der 80er Jahre, so Schneider, habe er sich jedoch an dem Skandalon gestoßen und mit der Erzählung »Der Mauerspringer« das Tabu durchbrechen wollen. Überrascht war man, ausgerehnet aus dem Munde des Mannes, der einst »lieber rot als tot« sein wollte, ein Loblied auf US-General Lucius D. Clay zu hören, der eine »tolle Rolle in Berlin gespielt hat, schon mit seinem Lift«. Gemeint ist die Luftbrücke während der Berlin-Blockade 1948. »Clay wusste: Wenn die Sowjets provozieren, muss man dagegenhalten. Er wollte die Mauer mit seinen Panzern einreißen.« Es klang fast bedauernd, als Schneider hinzufügte: »Das hat aber die US-Administration nicht erlaubt.«

Kempe widersprach. Der »Showdown«, das Auffahren von US- und Sowjetpanzern am Checkpoint Charlie im Oktober 1961, sei ein unverantwortliches Spiel mit dem Feuer gewesen: »Wenn nur ein nervöser Soldat den falschen Knopf gedrückt hätte, wäre ein Krieg entbrannt.« Und zwar ein Atomkrieg. »Den wollten weder Kennedy noch Chruschtschow.«

Kempe verwies darauf, dass beide Politiker gleichermaßen von Hardlinern bedrängt wurden. Die starken Worten in ihrer beiden Reden im Januar 1961 waren reine politische Rhetorik. Chruschtschow war im Grunde ein Reformer, über dessen politisches Leben die Parteikonferenz im Oktober 1961 entscheiden sollte. »Innenpolitik bestimmt Außenpolitik maßgeblich mit«, betonte Kempe. Kennedy gehörte einer anderen Politikergeneration an als die kalten Krieger Truman und Eisenhower. Der jüngste US-Präsident sah sich bereits im ersten Amtsjahr welthistorischen Herausforderungen gegenüber. Sechs Wochen nach dem Schweinebucht-Desaster ist er dennoch zum Gipfel nach Wien gereist, hat sich entgegen der Warnung seiner Berater auf einen ideologischen Disput mit Chruschtschow eingelassen – und verloren; als Quittung bekam er das Ultimatum präsentiert.

Kempe nennt Kennedy »anfangs schwach«, was Chruschtschow zur Unterschätzung des Gegners verführte. Auch Barack Obama, der JFK zu seinem Vorbild erkor, möge manchen Zeitgenossen schwach erscheinen – der politische Analyst aber warnt explizit vor Missdeutung. War beispielsweise Reagan ein Bauchmensch, so seien Kennedy und Obama Kopfmenschen, »was gut für die Vermeidung von Konflikten ist«. Wider Weltkriegsgeneral Clay und den Falken Dean Acheson hat Kennedy auf »nuclear power« verzichten wollen und auf »flexible response« in der Blockkonfrontation gesetzt; er war es, der nach Berlin- und Kuba-Krise geheime Kanäle zu nutzen begann.

Wie kommt ein US-Amerikaner dazu, ein Buch über die Berliner Mauer zu schreiben? Kempes Mutter wurde 1919 in Pankow geboren; die Eltern übersiedelten 1928 in die USA. Als Student hat er Verwandte in der DDR besucht. Nach dem Fall der Mauer interessierte ihn, wie es zu deren Errichtung kam. Sieben Jahre lang hat er sich jeden Morgen um 5.30 Uhr an die Arbeit gemacht. »I was obsessed.« Er sei besessen gewesen, bekennt Kempe. Das Resultat der Besessenheit ist bemerkenswert.

Frederick Kempe: Berlin 1961. Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt. Siedler, München. 669 S., geb., 29,99 €.

* Aus: Neues Deutschland, 5. August 2011


Warum nicht menschenfreundlicher?

Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben – meinen Heinz Keßler und Fritz Streletz

Von Wolfgang Wünsche **


Der Titel des Buches steht sowohl für die Quintessenz des Inhalts als auch für das Credo der Autoren, des ehemaligen Ministers für Nationale Verteidigung der DDR Heinz Keßler und seines Stellvertreters Fritz Streletz: Die Außen- und Militärpolitik der DDR war auf die Erhaltung des Friedens gerichtet, ihre bewaffneten Kräfte für den äußeren Schutz dienten diesem Ziel. Die Maßnahmen des 13. August 1961 haben nicht nur eine gefährliche Zuspitzung der Spannungen zwischen der Sowjetunion und den USA verhindert, sie beseitigten auch wesentliche Ursachen der krisenhaften inneren Entwicklung der DDR. So die beiden Autoren.

Es ging damals vor allem um die Rolle Westberlins im Kalten Krieg, den sogenannten »Pfahl im Fleisch des Sozialismus«. Keßler und Streletz widerlegen die Behauptungen, dass der Bau der Mauer Deutschland und Berlin gespalten hätte und Walter Ulbricht der Hauptakteur gewesen sei, der sich gegen den Widerstand der Moskauer Führung durchgesetzt habe. Wie vereinbart sich letzteres denn auch mit der gängigen Charakterisierung Ulbrichts durch westliche Medien und Politiker als Marionette bzw. Statthalter Moskaus? Und die Spaltung Deutschlands war über ein Jahrzehnt zuvor Fakt. Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik bereits seit 1952 dicht war.

Die in diesem Buch veröffentlichten Dokumente lassen sehr wohl erkennen, dass Ulbricht Chruschtschow nachhaltig zu verstehen gegeben hat, wie sehr die DDR bei offenen Grenzen in Berlin in ihrer Existenz bedroht war. Besonders aufschlussreich ist in in diesem Zusammenhang die im informativen Anhang befindliche Niederschrift des Gesprächs zwischen Chruschtschow und Ulbricht am 1. August 1961 in Moskau.

Chruschtschow wollte Ende der 50er Jahre mit beiden deutschen Staaten oder zumindest mit der DDR einen Friedensvertrag abschließen. Danach hätten alle alliierten Truppen und Militärmissionen Berlin verlassen und die dortige Luftkoordinierungszentrale aufgelöst werden müssen. Die USA bestanden jedoch auf die Aufrechterhaltung des Viermächtestatus von Berlin, sie wollten als Besatzungsmacht vor Ort bleiben.

Keßler und Streletz verweisen darauf, dass 1961 sich beiderseits der Elbe, des Harzes und des Thüringer Waldes die bis dahin stärksten und modernsten strategischen Gruppierungen von NATO und Warschauer Vertrag gegenüberstanden. Diese Konfrontation barg eine latente Kriegsgefahr, die – wie sich ein Jahr später während der Kubakrise zeigte – jederzeit akut werden konnte. Zur Sicherung der Grenze forderte die sowjetische Militärführung von der NVA-Führung den pionier- und signaltechnischen Ausbau der Grenzanlagen, einschließlich von Beobachtungstürmen und Minenfeldern, sowie die Schaffung einer fünf Kilometer breiten Sperrzone. Dass die DDR dem Folge leistete, verwundert nicht. Weniger verständlich ist, dass auch dann, als eine Stabilisierung der Lage erreicht war und sich wirtschaftliche Erfolge einstellten, das Grenzregime weiter verschärft wurde, statt es menschenfreudlicher zu gestalten. Dessen Hauptfunktion war und blieb, Republikfluchten zu verhindern.

Die Autoren bezeichnen die 20 000 bis 30 000 DDR-Bürger, die 1960/61 monatlich, vor allem über Westberlin, den ostdeutschen Staat verließen, als Wirtschaftsflüchtlinge. Zweifellos strebte eine Mehrheit nach höherem materiellen Wohlstand. Andere, wie z. B. Bauern, die nicht in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) eintreten wollten, gingen, weil sie für sich keine Zukunft in der DDR sahen. Fakt ist aber auch, dass die Bundesrepublik eine gezielte Abwerbung von Ärzten und Ingenieuren betrieb. Beschämend für die DDR war, dass jene, die nach dem 13. August das lebensgefährliche Risiko eingingen, militärisches Sperrgebiet zu überwinden, jünger als 30 waren.

Besondere Aufmerksamkeit widmen die Autoren der Vorgeschichte des 13. August. Diese beginnt nach ihrer Auffassung im Jahr 1933. Ohne die Übergabe der Macht an die Nazis hätte es keinen 1. September 1939 (Überfall auf Polen), keinen 22. Juni 1941 (Aggression gegen die Sowjetunion) und nicht den 8. Mai 1945, die bedingungslose Kapitulation, gegeben. Diese Daten führten letztlich zur Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen. Mit der Einführung einer separaten Währung in den Westzonen und in Westberlin wurde Deutschland wirtschaftlich in zwei Teile zerrissen. Es folgte die politische Spaltung durch die Bildung der Bundesrepublik Deutschland und der anschließenden Gründung der DDR. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und der DDR in den Warschauer Vertrag 1955 war sechs Jahre vor dem »Mauerbau« die deutsche Teilung zementiert.

Der Rezensent ist überrascht, dass Keßler und Streletz zur Beantwortung der Frage »Wie groß war die reale Kriegsgefahr?« den Bundeswehrmajor Bruno Winzer zitieren, der als Presseoffizier des Luftwaffenkommandos Süd 1960 in die DDR geflohen war. Winzer dürfte die strategisch-operative Planung des NATO-Oberkommandos Europa kaum gekannt haben. Warum wurden keine Angaben der Militäraufklärung der NVA verwendet? Die hohe Zuverlässigkeit und Exaktheit ihrer Erkundungen sind in Fachkreisen, auch im Westen, unbestritten. Nicht nachvollziehen kann der Rezensent die – zudem nicht belegte – Kritik der Autoren an Auffassungen des Geschichtsprofessors Siegfried Prokop, die Rolle Ulbrichts betreffend. Einige Passagen gleiten in Agitation und Propaganda ab. Auch vermisst man selbstkritische Aussagen, die den beiden einst hohen Militärs sicher nicht zum Schaden gereicht hätten.

Das ansonsten sachliche und gut geschriebene Buch erfüllt seinen Zweck: mit Legenden, Fiktionen und Lügen über den 13. August 1961 aufzuräumen. Es ist als erstmaliger Versuch zweier hochrangiger Zeitzeugen zu würdigen, sich einem der brisantesten und umstrittensten deutschen Nachkriegskapitel anzunehmen.

Heinz Keßler/Fritz Streletz: Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben. Edition Ost, Berlin 2011. 224 S., br., 12,95.

** Aus: Neues Deutschland, 28. Juli 2011


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