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Abschiebung ins Nichts

In Deutschland sind 14000 Flüchtlinge aus dem Kosovo von »Rückführung« bedroht. Hilfsangebote der Bundesregierung laufen ins Leere

Von UIla Jelpke *

Gut zwei Jahre nach Ausrufung der Unabhängigkeit des Kosovo bleibt die Möchtegern-Republik ein Armenhaus: Industrie und Arbeitsplätze sind praktisch nicht vorhanden. Ein Großteil der Infrastruktur im serbisch dominierten Norden wird von der serbischen Regierung finanziert, so z.B. das Bildungssystem. Die kosovo-albanische Regierung erhält Gelder von der EU und hofft auf einen Beitritt - doch bis jetzt haben noch nicht einmal alle EU-Staaten die Abspaltung von Serbien anerkannt, vor allem Griechenland und Spanien blockieren. In dieses Land will Deutschland nun Tausende Menschen abschieben: Ein vorletzte Woche unterzeichnetes Abkommen verpflichtet Kosovo zur »Rücknahme« von Flüchtlingen.

Im vergangenen Jahr gab es »nur« 322 Abschiebungen, 168 Menschen kehrten »freiwillig« zurück - also um der drohenden Abschiebung zu entgehen. Diese Zahlen dürften nun deutlich steigen: Es sollen jährlich bis zu 2500 Menschen »zurückgenommen« werden. Insgesamt leben 14000 Menschen aus dem Kosovo in Deutschland, die ausreisen müssen und derzeit nur geduldet sind. 10000 von ihnen gehören der Minderheit der Roma an.

Nutzlose Hilfsprogramme

Nach Ende des NATO-Krieges 1999 sind 114000 Menschen nach Kosovo zurückgekehrt. An die »freiwilligen« Rückkehrer richtet sich ein Eingliederungsprogramm mit dem Titel URA 2 (»Brücke«), das vom Bund und den Ländern Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg sowie Niedersachsen finanziert wird. Aus diesen Bundesländern stammen die meisten Ausreisepflichtigen; wer woanders wohnt, ist von den Hilfen ausgeschlossen. Neben einer allgemeinen Beratung für die Neuankömmlinge wird auch psychologische Betreuungen angeboten. Für die Anfangszeit gibt es Zuschüsse zu Mietkosten, Lebensmitteln und Medikamenten. Besonders wirbt die Bundesregierung mit Lohnkostenzuschüssen, die den Rückkehrern die Integration in den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen sollen. Wer hingegen nicht »freiwillig« zurückkehrt, sondern abgeschoben wird, erhält nur für die ersten sieben Tage Leistungen, und zwar deutlich reduziert. So bekommen Rückkehrer 600 Euro für eine Erstausstattung, Abgeschobene 300.

Das Hilfsprogramm, mit dem die Bundesregierung Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen will, läuft aber größtenteils ins Leere. Zum einen ist es auf maximal fünf Monate begrenzt, zum anderen ändert es an der miserablen Lage der Betroffenen kaum etwas. Menschen, die mit chronischen Erkrankungen abgeschoben werden, brauchen regelmäßige Untersuchungen und Spezialbehandlungen, ein Medikamentenzuschuß reicht nicht aus. Lohnkostenzuschüsse sind sinnlos, solange es keine Arbeit gibt. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 45 Prozent, unter Abgeschobenen wie Rückkehrern bei 90 Prozent. Die Kinderarmut schätzt die OSZE auf 30 Prozent. Das liegt auch an der stark ausgeprägten ethnischen Trennung im Kosovo. Sie ist ein starkes Hindernis beim Zugang zum Arbeitsmarkt aber auch zu Wohnraum und Sozialleistungen.

Siedlungen auf Giftböden

Im Norden des Kosovo gibt es zwar den Versuch, Siedlungen zu errichten und Wohnraum zu schaffen. Doch weiterhin leben einige Menschen in den 1999 errichteten Flüchtlingslagern. In einem Lager in Leposavic vegetieren z. B. 36 Familien in einem spärlich beheizten Hangar, darunter auch Rückkehrer aus Deutschland. Für mediales Aufsehen in Westeuropa sorgten die Lager Osterode und Cesmin Lug, weil diese auf verseuchtem Boden stehen. Eine geochemische Untersuchung stellte hochgradig gesundheitsschädliche Bleibelastungen in Böden und Hausstaub der Roma-Siedlungen fest. Die Bewohner leiden unter Vergiftungen, Kinder kommen mit Mißbildungen und Behinderungen zur Welt. Der Anbau von Nahrungsmitteln ist auf lange Sicht nicht möglich.

In dem betroffenen Gebiet liegt die »Roma Mahalla«, die eine Vorzeigesiedlung werden soll. Doch auch hier geht der Aufbau nur zögerlich voran. Die Mahalla ist eine alte Roma-Niederlassung, sie wurde 1999 und nach dem ersten Wiederaufbauversuch 2004 durch Albaner zerstört. Bei diesen Unruhen wurden zudem die meisten Dokumente zerstört, die das Eigentum an den Grundstücken und Häusern belegen könnten. Von ehemals 8000 Familien haben nur noch 300 Grund und Boden. Wegen der ungeklärten Besitzverhältnisse ist eine durchgeplante Bebauung nicht möglich, es mangelt an Baustoffen, behördliche Genehmigungen werden nur schleppend erteilt. Der Aufbau der Infrastruktur (Wasserversorgung und Abwasser, Stromversorgung etc.) bleibt weit hinter dem Bedarf zurück.

Manche Bewohner der Mahalla können sich mangels Papieren nicht bei der Meldebehörde registrieren lassen. Sie erhalten so noch nicht einmal die geringe Sozialhilfe (65 Euro pro Monat), und die Kinder können nicht zur Schule gehen. Schulpflicht gibt es zwar, sie wird aber nicht durchgesetzt. Der Schulbesuch ist sehr erschwert, Unterrichtsmaterial muß selbst finanziert werden, und außerdem sprechen viele der in Deutschland aufgewachsenen Kinder und Jugendliche weder serbisch noch albanisch.

Laut Amnesty International leiden Roma und andere Minderheiten im Kosovo unter »unverhältnismäßiger« Diskriminierung, auch von körperlichen Übergriffe wird immer wieder berichtet. Verläßliches Zahlenmaterial gibt es aber kaum. Kleine NGOs wie das Roma-Ashkali-Documentation-Center versuchen zwar, Aufklärung zu leisten. Aber die meisten Roma und Ashkali haben Angst vor weiteren Repressionen, wenn sie Übergriffe anzeigen, und die albanisch geprägte Polizei des Kosovo verfolgt solche Anzeigen nicht ernsthaft. Antiziganistisch motivierte Gewalttaten werden noch zunehmen, wenn in den nächsten Jahren weitere Tausende Roma und andere in den Kosovo zurückkehren und die soziale Lage sich weiter verschlimmert. Doch viele der Abgeschobenen bleiben ohnehin nicht im Kosovo: bis zu 70 Prozent versuchen, in andere Staaten der Region oder gleich zurück nach Deutschland zu gelangen - als »Illegale« mit ungewisser Zukunft und der ständigen Angst, aufzufliegen und wieder abgeschoben zu werden.

* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Sie war mit einer Delegation des Innenausschusses im Kosovo.

Aus: junge Welt, 27. April 2010



Geflohen nach NATO-Krieg und Massenvertreibung

Aus einem aktuellen Antrag der Linksfraktion (Bundestagsdrucksache 17/784) **

Der Deutsche Bundestag bekennt sich zu seiner besonderen historischen und politischen Verantwortung für das Schicksal und die Sicherheit der in Deutschland lebenden Roma vor dem Hintergrund der systematischen Ermordung von 500000 Sinti und Roma in ganz Europa durch Nazi-Deutschland.

Keine andere Minderheit wird in Europa derart umfassend und massiv ausgegrenzt, verfolgt und diskriminiert wie die Roma, und nirgendwo ist die soziale, ökonomische und politische Situation der Roma derart verzweifelt und hoffnungslos wie in der Region Kosovo.

Der Deutsche Bundestag kritisiert vor diesem Hintergrund die geplante Massenabschiebung von weit mehr als 10000 Roma-Minderheitenangehörigen, die in Deutschland um Zuflucht nachgesucht haben, in den Kosovo.

Der Deutsche Bundestag erinnert (...) daran, daß diese Menschen vor allem infolge der kriegerischen Intervention der NATO gegen das ehemalige Jugoslawien (...) und der Ermordung und Vertreibung nichtalbanischer Minderheitenangehöriger ihre Heimat verlassen mußten.

Der Deutsche Bundestag verurteilt den Versuch der Bundesregierung, die extreme Notlage und massive Ausgrenzung der Roma im Kosovo zu verharmlosen oder sogar zu negieren.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
  1. sich gegenüber den Bundesländern für eine sofortige Aussetzung der Abschiebungen von Flüchtlingen aus dem Kosovo gemäß § 60a Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes einzusetzen;
  2. das deutsch-kosovo-albanische Rückübernahmeabkommen nicht zu unterzeichnen bzw. aufzukündigen;
  3. sich für eine entsprechende dauerhafte Bleiberechtsregelung einzusetzen.
** Aus: junge Welt, 27. April 2010




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