Die alten Nazis wurden gebraucht
Gedanken zum Prozess gegen Iwan Demjanjuk, der am Montag (21. Dez.) in München fortgesetzt wurde
Von Ellen Brombacher *
Alles verstehen, heißt alles verzeihen«, so eine überlieferte
Redewendung. Es gelingt mir nicht, alles zu verstehen, und ich habe
somit zunächst kein Problem damit, dass der neunundachtzigjährige Iwan
Demjanjuk in München vor Gericht steht. Wäre er hundert - ich hätte auch
keines.
Ja, er konnte der Hölle der Kriegsgefangenschaft nur entkommen, indem er
sich zu Morddiensten für die Deutschen verpflichtete, für die er in
Trawniki »ausgebildet« wurde. Spricht ihn das frei? Demjanjuk soll 1943
als SS-Wachmann geholfen haben, in Sobibor 27 900 Juden ins Gas zu
treiben. Als er im Gerichtssaal in Decken gehüllt auf einer Trage lag,
fortwährend die Augen geschlossen, als drei Gutachter seine
eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit feststellten, als am 2. Dezember
2009 die Verhandlung nur wenige Minuten dauerte, weil Demjanjuk 37,5°
Temperatur und Anzeichen eines Infekts aufwies, musste ich unwillkürlich
an einen Film denken, in dem Überlebende jenes Sonderkommandos von
Auschwitz zu Wort kamen, die, da die Kapazität der Krematoriumsöfen
nicht ausreichte, Vergaste in einer riesigen Grube verbrennen mussten.
Einer berichtete, dass hin und wieder ganz Alte auf LKWs dorthin
gebracht wurden - lebend. Es hatte ihre Kraft nicht mehr gereicht, sich
von den Zügen bis zu den Gaskammern zu schleppen. Sie wurden von den
LKWs ins Feuer gekippt. Manche hätten sich an die Planken der Autos
gekrallt. Denen habe die SS in die Hände geschossen. Niemand weiß, wie
meine Urgroßeltern umkamen. Als sie aus dem jüdischen Altersheim
Göttingen deportiert wurden, waren sie etwa im Alter Demjanjuks.
Der 1943 sechzehnjährige Thomas Blatt überlebte Sobibor. Er habe Leute
wie den Angeklagten, so Blatt in der ARD-Dokumentation »Der Fall des
Iwan Demjanjuk«, aus dem Lager III kommen sehen - die Gaskammern
befanden sich dort. Ihre Schuhe seien blutig gewesen. »Er kann der sein,
der meine Eltern in die Gaskammer geschickt hat.« Es sei ihm gleich, so
Blatt, ob Demjanjuk ins Gefängnis müsse oder nicht; nur die Wahrheit
solle er sagen.
Kurt Gutmann, einer der Prozess-Nebenkläger und mein langjähriger
Freund, den ich nach München begleitete, äußerte ähnliches. Seine Mutter
und sein ältester Bruder wurden von Mühlheim/Ruhr in das Ghetto Izbica
deportiert. Als es aufgelöst wurde, brachte man die Insassen in das
unweit gelegene Lager Sobibor zur Vergasung. Kurt überlebte in
Schottland - dank eines der letzten Kindertransporte aus Deutschland.
Nun saß ich neben ihm im Gerichtssaal. »Demjanjuk ist sicher nicht
gesund«, sagte Kurt mit Blick auf den uns gerade den Rücken Zukehrenden,
»ich auch nicht«. Und dann: »Ich muss immerfort auf seine bulligen Hände
blicken. Was ich mir da vorstelle, lasse ich lieber weg.«
Demjanjuk betete, als der Staatsanwalt begann, mindestens eine halbe
Stunde lang die Listen von Ermordeten zu verlesen. Da war der Name einer
Frau: 1849 geboren; also1943 zum Zeitpunkt ihrer Ermordung beinahe 95
Jahre alt. Verlesen wurden Namen von Babys, im Winter oder Frühjahr 1943
auf die Welt gekommen und wenige Wochen später im Gas erstickt. Auch
Kurt standen Tränen in den Augen. Nein, der alte Mann Demjanjuk mit den
geschlossenen Augen - außerhalb des Gerichtssaals ist er wacher und
beweglicher - tat uns nicht leid.
Und doch plagten uns zwiespältige Gefühle. Demjanjuk ist der Beihilfe
zum Mord angeklagt. Allerdings: Eine konkrete Mordtat kann ihm nicht
nachgewiesen werden. Ungezählte, in der Befehlskette weit höher stehende
SS-Mörder wurden nie belangt oder aber freigesprochen, da sie unter
»Befehlsnotstand« gestanden hätten. 1965 standen 12 ehemalige Angehörige
einer in Sobibor eingesetzten SS-Wachmannschaft in Hagen vor Gericht.
Sechs wurden freigesprochen, darunter Erich Lachmann, zeitweiliger Chef
der Trawniki-Wachmannschaften in Sobibor. Vom Hamburger Landgericht
freigesprochen wurden auch der Lager- und Ausbildungsleiter von
Trawniki, General Streibel, samt all seiner deutschen SS-Untergebenen.
Streibel und Konsorten hätten nicht gewusst, wozu die Männer in Trawniki
ausgebildet wurden. Die diese Verbrecher freisprechenden Richter wurden
nicht wegen Rechtsbeugung belangt.
In seinem Buch »Einigkeit und Recht« berichtet Dr. Friedrich Wolff u.a.
über den SS-Euthanasiearzt Dr. med. Borm, dem 6 652 Tötungen
nachgewiesen worden waren und der gleichwohl freigesprochen wurde, »da
dem SS-Obersturmführer angeblich nicht zu widerlegen war, dass er bei
dem Massenmord 'hauptsächlich an einen Akt der Barmherzigkeit gedacht'
habe«. Wolff stellt fest: »Die niedrige Zahl der Verfahren und der
Verurteilungen wegen Kriegs- und Naziverbrechen war nicht irgendwelchen
juristischen Fehlern geschuldet, sondern sie war das Ergebnis
zielbewusster politischer Haltungen und politischer, z.T. vom Parlament
getroffener Entscheidungen. Man wollte sich mit den Nazis nicht anlegen
- man brauchte sie. Da liegt die Ursache der unterschiedlichen
Ergebnisse der beiden deutschen Vergangenheitsbewältigungen. Die
ehemaligen Nazis brauchte man, die 'Roten' brauchte man nicht - im
Gegenteil.«
In der DDR benötigte man Nazis nicht, die mörderische Schuld auf sich
geladen hatten. Das wussten die Betreffenden und flohen massenhaft in
den Westen, mit feinem Gefühl dafür, wo ihnen vermeintliche
Gerechtigkeit widerfahren würde - im Rechtsstaat, von alten Nazijuristen
mit ausgestaltet.
Die DDR war ein Unrechtsstaat. Das weiß heute jedes Kind und beinahe
jeder Volksvertreter. Im Zusammenhang mit den Brandenburger IM-Affären
meinte daher auch Kerstin Kaiser, eine undemokratische, diktatorische,
totalitäre Herrschaft dürfe niemals akzeptiert, verherrlicht oder
verharmlost werden. So darf auch der folgende Fall keine Verharmlosung
erfahren: In einem Rehabilitierungsverfahren wurden 1994 Urteile des
Dresdner Landgerichts von 1949 gegen zwei 1933 im KZ Hohnstein wütende
SA-Männer aufgehoben. Begründung: Sie seien 1949 summarisch ohne
Nachweis konkreter Tatbeteiligung verurteilt worden. 1994 wurden beide
SA-Männer zu Opfern des Stalinismus. Dem bereits erwähnten General
Streibel, der nicht wusste, was in Sobibor geschieht, hätte in der DDR
diese überaus zynische, dreiste Behauptung nichts geholfen - ein
Unrechtsregime ist eben so.
Demjanjuk-Verteidiger Dr. Busch beim Prozess: »Wenn 65 Jahre deutsche
Nachkriegsrechtsprechung dazu führten, die Befehlsgeber wegen
Putativnotstand freizusprechen, ist das Ermittlungsverfahren und die
Eröffnung des Hauptverfahrens sowie die Durchführung einer
Hauptverhandlung gegen den Angeklagten objektiv sachwillkürlich im Sinne
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ... Die Anklage und
der Eröffnungsbeschluss blenden die Freisprüche der Vorgesetzten der
Trawniki-Männer sowie die historische Wahrheit aus, dass es sich bei den
Trawniki-Männern ... um überlebende Opfer aus Vernichtungslagern für
kriegsgefangene Rotarmisten handelte ... Es wird kein Wort darüber
verloren, dass Deutschland sich nicht nur des Holocausts an den Juden
schuldig machte, sondern darüber hinaus des weiteren gigantischen
Holocausts an den in deutsche Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten
der Roten Armee.«
3,5 Millionen Sowjetsoldaten überlebten die Gefangenschaft nicht. Lassen
wir den unerträglichen Vergleich einmal weg, welchen Demjanjuks
Verteidiger zwischen jüdischen Funktionshäftlingen und Trawniki-Männern
anstellte: Zu Recht erregten sich die Medien darüber, auch jene
übrigens, die vor Jahren die Hetzkampagne gegen die sogenannten roten
Kapos anheizten. Kaum widersprechen jedoch kann man Buschs Verweisen auf
die Ungleichbehandlung, die der Fall Demjanjuk offenbart. Busch hat, ob
er das wollte oder nicht, die gesamte bisherige Rechtspraxis der BRD im
Umgang mit Naziverbrechern an den Pranger gestellt und doppelte
Standards offen angesprochen. Dennoch stört es mich nicht, dass
Demjanjuk vor Gericht steht. Mich quält, dass ungeheuer viele Nazimörder
in der BRD davon gekommen sind und neue Nazis marschieren dürfen.
* Aus: Neues Deutschland, 22. Dezember 2009
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