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Vom Neid zum nationalen Sozialismus

In Berlin stellte Götz Aly sein neues Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" vor

Von Martin Hatzius *

Es gibt keine Frage, die nicht gestellt werden darf. Aber es gibt Antworten, die zu klein sind, um großen Fragen Genüge zu tun. Götz Aly fragt in seinem vor einer Woche erschienenen, seither heiß diskutierten Buch nach den Ursachen eines historisch in seiner Dimension und Grausamkeit einmaligen Völkermordes, nämlich des Holocaust: »Warum die Deutschen? Warum die Juden?« Und kommt nach intensiven Studien auch entlegener, bislang kaum oder gar nicht beachteter Quellen (sieben Regalmeter Familienarchiv!) zu dem Schluss: Schuld waren nicht einzelne Verblendete, schuld war auch nicht fanatischer Rassenhass, nicht jahrhundertealtes religiöses Ressentiment, zumindest nicht nur, – schuld war vor allem der Neid.

Begünstigt durch die historische Konstellation seit dem beginnenden 19. Jahrhundert – Napoleonische Kriege, Restauration, industrielle Revolution, deutsches Einheitsstreben, Bismarck, Weltkrieg, Versailler Vertrag – sei die Missgunst der aufstiegsgehemmten, risikoscheuen, unbeholfenen deutschen »Langschläfer« gegen ihre beweglicheren, schlaueren, die Chancen der Zeit besser nutzenden jüdischen Mitbürger umgeschlagen in immer schärfere Schmähung, offene Ausgrenzung, schließlich systematische Vernichtung.

So einleuchtend diese Neid-These klinge, ob sie nicht etwas zu einseitig sei, wurde Aly am Donnerstagabend bei der öffentlichen Präsentation seines Buches im Berliner Museum für Kommunikation gefragt. Es liege im Wesen einer solchen Veranstaltung, antwortete der Autor, dass die Beleuchtung des Themas »unterkomplex« wirke. Was im Buch ausführlich erläutert und faktenreich unterfüttert werde, sei in neunzig Minuten Buchpremiere nun mal nur überspitzt auf den Punkt zu bringen.

Das stimmt. Nur vermag auch die Lektüre des unbedingt lesenswerten Buches den Verdacht nicht zu entkräften, dass hier ein multikausales Beziehungsgeflecht allzu forsch auf den roten Faden durchkämmt wird. Götz Aly ist Historiker. Ihn nur als solchen aufzufassen, wäre indes »unterkomplex«. Aly, einst »taz«-Pionier, später Redakteur der »Berliner Zeitung«, ist ebenso politischer Publizist. Gewiss, es geht ihm um die wissenschaftliche Aufarbeitung von Dokumenten, Quellen, Fakten. Aber mindestens im selben Maße geht es ihm um die feuilletonistisch-weltanschauliche Wertung des Vorgefundenen. Aly hat Freude an der Polemik, ja, an der Provokation. Die rhetorisch gewandte, argumentativ plausible Vereindeutigung komplexer Sachverhalte spielt der verbreiteten Lesersehnsucht in die Hände, das Unverstehbare eben doch zu verstehen.

Insofern ist Aly: ein Meinungshistoriker. Das merkt man nicht nur seinen Zeitungsartikeln, sondern auch seinen Büchern an (»Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus«, »Unser Kampf. 1968 – ein Blick zurück« u.a.m.). Es ist darin vieles zu lernen über die behandelten Gegenstände – aber beinahe mehr noch über den Verfasser. Das ist nicht schlimm, man sollte es nur wissen.

Götz Aly gibt sich als Verfechter des Individuellen und Liberalen zu erkennen, als Feind allen kollektivistischen und etatistischen Strebens. Der Sozialneid, der letztlich zum Holocaust geführt habe, konstatiert der Autor denn auch, sei unter dem Deckmantel der Gleichheit und Gerechtigkeit politisch und ideologisch salonfähig geworden. Unter der bedenklichen Kapitelüberschrift »Die Schwachen sind die Gefährlichen« resümiert Aly seine Analyse der Situation, die in den Holocaust mündete, so: »Der liberale Gedanke, der dem einzelnen Bürger viel persönliche Verantwortung zubilligt, war im Glauben an den volkskollektivistisch organisierten Staat versunken.« Und weiter: »Im Rückblick betrachtet, leisteten reformerisch-friedliche Gleichheitsbewegungen wie die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften oder die Begründer der katholischen Soziallehre der Gewalt ungewollt Vorschub ...« Die bis heute fortwirkende »Gleichheitssucht« der Sozialisten – gleich welcher Couleur –, so liest sich Alys mahnender Schluss, könne die Wiederholung eines Ereignisses, »das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist«, ermöglichen.

Seltsam: Ist Rassenhass nicht das Gegenteil vom humanistischen Bild aller Menschen als Gleichberechtigte? Ist der gefährliche Neid nicht nur dort zu bannen, wo Gerechtigkeit ihm den Anlass nimmt?

Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. S. Fischer, 352 S., geb., 22,95 €.

* Aus: Neues Deutschland, 20. August 2011


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