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Frieden, Gerechtigkeit, Schöpfung

Was aus einer großen Hoffnung im Prozess der deutsch-deutschen Vereinigung wurde

Von Edelbert Richter *

Anfang der 80er Jahre wurde dem ökumenischen Rat der Kirchen vorgeschlagen, ein Weltkonzil des Friedens einzuberufen. Da es Schwierigkeiten gab, das Konzil zustande zu bringen, trat an die Stelle des Ziels der Weg: der Konziliare Prozess.

Ich hatte die deutsche Einigung lange herbeigewünscht, war aber dann über die Art und Weise, wie sie zustande kam, einigermaßen verwirrt und enttäuscht. Warum nur? Zunächst, weil ich zu den christlichen Oppositionsgruppen in der DDR gehörte, die – im Rahmen des Konziliaren Prozesses – Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung auf ihre Fahnen geschrieben hatten.

Wir dachten bei Begriff Frieden angesichts des Wettrüstens an »intelligente Feindesliebe« (Carl Friedrich von Weizsäcker), eine Sicherheitspartnerschaft zwischen West und Ost, wie sie sich seit Gorbatschow zu entwickeln schien. Beim Begriff Gerechtigkeit dachten wir an einen Abbau des Gegensatzes zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden dieser Erde – wohl wissend, wie groß die Hindernisse waren. Unter Bewahrung der Schöpfung schließlich verstanden wir den Übergang zu umweltverträglicheren Produktionsmethoden, einer bescheideneren Lebensweise, einem entsprechend selektiven und qualitativen Wachstum.

Nun hatte ich versucht, diese Leitideen auf die Bedingungen der deutschen Politik zu beziehen. Es war ja das Nächstliegende, bei der eigenen Nation anzufangen. Meine Hoffnung war im Grunde: Würden die Deutschen das Ringen um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung als ihre gemeinsame Aufgabe, ihre Grundorientierung, ihre Identität begreifen, so würde ihnen die staatliche Einheit früher oder später zufallen, nach dem Motto des Philosophen Georg Picht: »Nicht das Subjekt setzt sich die Aufgabe, sondern die Aufgabe konstituiert das Subjekt.«

Das mag heute als Schwärmerei erscheinen. Und das, was dann 1990 und in den Folgejahren geschah, war von diesen Vorstellungen weit entfernt. Die Ziele aber waren in der Volkskammer noch präsent, wie drei Beispiele zeigen sollen. Die DDR-Delegation bei den 2+4-Gesprächen über die deutsche Einheit wollte grundsätzlich auf eine Ablösung der Militärbündnisse durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem hinwirken. Wir sahen aber ein – und das fiel mir zunächst schwer –, dass ein solches System nicht so rasch zustande kommen könne, wie der Vereinigungsprozess ablief. Daher musste ein vereintes Deutschland, wenn es sicherheitspolitisch nicht in der Luft hängen sollte, für eine Übergangszeit Mitglied der NATO werden, allerdings einer veränderten NATO und mit Sonderstatus für das Gebiet der DDR. Wir wollten, dass die Sowjetunion und Polen der deutschen Vereinigung aus der Überzeugung zustimmen könnten, dass ihre Sicherheitsinteressen beachtet würden. Und wir befürchteten, dass sich die Sowjetunion angesichts der sehr weitgehenden Forderungen der westlichen Mächte stur stellen würde. Aber schon im Juli 1990 gestand Michail Gorbatschow beim Treffen mit Helmut Kohl überraschend Deutschland die volle Souveränität und eine mögliche NATO-Mitgliedschaft zu. Diese Wendung der Dinge war für mich eine ernüchternde Erfahrung. Der Bundeskanzler hatte offenbar beschlossen, die »historische Tat« allein zu vollbringen. Später stellte sich heraus, dass es eigentlich George Bush sen. war, der Gorbatschow zuvor schon überredet hatte.

Ich hatte gehofft, aus den langen leidvollen Erfahrungen mit dem Kalten Krieg würde für die Menschheit mehr an politischem Gewinn herausspringen als das altbekannte Ergebnis, dass eben einer der Sieger ist und einer der Verlierer. Die deutsche Einigung bestand also darin, dass wir uns auf die Seite der Sieger schlugen.

Zum Thema Gerechtigkeit ist zunächst festzustellen, dass das Verhältnis zur Dritten Welt im Vereinigungsprozess so gut wie keine Rolle spielte. Zwar wurde nun bekannt, dass die DDR gegenüber mit ihr »befreundeten« Ländern eine recht aggressive Handelspolitik betrieben hatte. Aber die finanziellen Forderungen, die sie gegenüber diesen sehr armen Staaten angesammelt hatte, wurden ohne weiteres in den Haushalt der Bundesrepublik übernommen und jedenfalls bis zum G8-Gipfel in Köln 1999 weiter geltend gemacht.

Der Grund, weshalb das Verhältnis Gesamtdeutschlands zur Dritten Welt nicht thematisiert wurde, lag aber in dem offensichtlich asymmetrischen Charakter dieser Vereinigung: Reformen auf Seiten der alten Bundesrepublik standen generell nicht zur Debatte, während auf der ostdeutschen Seite sehr bald die Angst um sich griff, das Land werde womöglich auf den Stand eines Entwicklungslandes zurückfallen.

Wer diese Befürchtung zunächst für übertrieben hielt, wurde bald mit Tatsachen konfrontiert, die seine Vorstellungskraft überstiegen: Stellte doch der Verlust von zwei Dritteln der Industrie, von 2,3 Millionen Arbeitsplätzen allein im verarbeitenden Gewerbe und von drei Vierteln des industriellen Forschungs- und Entwicklungspotenzials in wenigen Jahren die schwerste Katastrophe in der ostdeutschen Wirtschaftsgeschichte dar. Von diesem Schlag hat sich der Osten bis heute nicht erholt, denn trotz aller Fortschritte im Einzelnen gibt es keinen selbst tragenden Aufschwung.

Auch in ökologischer Hinsicht gab es noch den Willen zur Veränderung – in einem Bereich, der den Bürgern gerade jüngst wieder Ärger bereitet hat. Ich meine die überhöhten Strompreise und die verlängerten Laufzeiten der Atomkraftwerke .

Am 22. Juni 1990 wurde die Volkskammersitzung durch den Antrag unterbrochen, der verlangte, sofort den Umwelt- und Energieminister herbeizurufen. Was war geschehen? Wir hatten aus der Presse erfahren, dass in der folgenden Woche die gesamte Energieversorgung der DDR an die drei größten Energieunternehmen der Bundesrepublik verkauft werden sollte. Dieses Vorhaben verstieß in mehrfacher Hinsicht gegen die gerade errungene demokratische Ordnung. Die Koalitionsvereinbarung sah ausdrücklich die »Schaffung dezentraler Wärme- und Energieversorgungsbetriebe (Stadtwerke) bei gleichzeitiger Entflechtung der Energiekombinate« vor. Und laut Treuhandgesetz sollte volkseigenes Vermögen, das kommunalen Aufgaben und Dienstleistungen diente, den Städten und Gemeinden übertragen werden. Das ökologisch Unverantwortliche an dem geplanten Verkauf war, dass er die Chancen der Dezentralisierung und Energieeinsparung in den Wind schlug.

Obwohl die Volkskammer das Vorhaben mit großer Mehrheit abgelehnt hatte, wurde der Stromvertrag zwischen der DDR und den drei Konzernen Ende August 1990 unterzeichnet, denn die FDP war »umgefallen«. Die drei Großunternehmen erhielten 75 Prozent des Grundkapitals der DDR-Energieversorgung. Die große Chance der Umorientierung auf eine moderne, ökologisch verträgliche Energiewirtschaft war vergeben.

Waren die Vorstellungen der am Konziliaren Prozess Beteiligten von vornherein fromme, realitätsferne Wünsche? Zu einem gewissen Grade vielleicht, aber man muss meines Erachtens den Spieß umdrehen und fragen: Gingen denn die Verheißungen in Erfüllung, die andere mit einem »Sieg« im Kalten Krieg und der Wiedervereinigung verbanden?

Dass die Herausforderungen weiter bestehen, auf die der Konziliare Prozess eine Antwort geben wollte, ist wohl unübersehbar. Ebenso, dass die deutsche Politik zeitgemäße Antworten schuldig geblieben ist. Es ist einzig die LINKE, die heute eine solche Antwort anbietet, bezogen auf die inzwischen veränderte Situation. Sie ist es, die politisch das Erbe des Konziliaren Prozesses angetreten hat. Vielleicht schauen Christen einmal in ihren Programmentwurf, um sich davon zu überzeugen.

* Der Theologe Edelbert Richter nahm 1990 als SPD-Volkskammerabgeordneter an den 2+4-Gesprächen über die deutsche Einheit teil. Von 1994 bis 2002 für die SPD im Bundestag, seit 2007 Mitglied der LINKEN.

Aus: Neues Deutschland, 2. Oktober 2010



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